Da Kira am vorigen Abend sich nicht mehr von Christobals Überschwang, und seinem Cider, erholt hatte, wartete Mitras mit dem Frühstück auf sie. Während er in letzter Zeit immer häufiger früh aufstand, wurde sie immer später. Und auch wenn es nach dem gestrigen Nachmittag absolut begründet war, so machte er sich doch ein bisschen sorgen. Sie war ein Mädchen vom Land und war das früh Aufstehen gewohnt. Auf der anderen Seite hatte er ihr auch gesagt, dass es völlig reichte, wenn sie gegen 9 Uhr begann. Gegen halb neun kam sie in die Küche. Ihre Haare wirkten so, als wenn sie den Kampf mit ihnen aufgegeben hatte und die Ringe unter ihren Augen sprachen Bände. Der Herzog war berühmt, oder besser berüchtigt, für seine Fruchtweine und Brände. Sein Herzogtum war eine der großen Obstkammern des Reiches und der Boden um den Olfiat sorgte immer für eine gute Ernte. Das zuckersüße Obst eignete sich hervorragend um besonders gehaltvolle Tropfen hervor zu bringen, die aber trotzdem noch lieblich süss waren. Halbstarke, die auch nur Anstalten machten sich auf den Feiern des Herzogs daneben zu benehmen, bekamen eine besondere Behandlung. Sie wurden vom Herzog persönlich mit einer Flasche, oder zweien, unterhalten. Meist blamierten sie sich nicht einmal eine halbe Stunde später so sehr, dass sie sich das nächste Jahr auf keinem, wie auch immer gearteten kulturellen Ereignis blicken lassen konnten.
„Guten Morgen Kira, setz dich und trinke erstmal diesen Tee. Du siehst so aus, als wenn du ihn brauchen könntest.“ Sie blickte auf und wurde sich wohl erst jetzt bewusst, dass ihr der gestrige Abend noch immer gut anzusehen war. Sie errötete sofort. Und Mitras ahnte schon, dass sie gleich die Flucht ergreifen würde. „Bitte, setz dich.“ sagte er mit soviel Autorität, wie er sich zutraute, ohne sie damit zu verletzen und fügte weicher hinzu: „Der Tee wird dir helfen. Du hast dich gestern gut geschlagen.“ Mit rauer Stimme und so schüchtern wie seit einem Monat nicht mehr antwortete sie: „Ja, danke.“ und setzte sich. Mitras hatte den Tee die ganze Zeit auf einer perfekten Temperatur gehalten und ihn vorher noch verzaubert, was ihn einiges an Zeit in der Küche gekostet hatte und William zu einem Kommentar über seine väterliche Fürsorge hingerissen hatte, die Mitras veranlasste, seinen Koch ausnahmsweise aus der Küche zu werfen. Außerdem war es eine gute Kräutermischung, die allein schon helfen würde. Mitras war sich sicher, dass Kira schon Erfahrung mit Alkohol hatte, aber dieser Rausch war überraschend gekommen und die Tropfen von Christobal konnten durchaus auch mal heftige Kopfschmerzen auslösen. Kira trank und ihre Miene hellte sich sofort auf. „Ich sagte ja, der Tee wird dir helfen. Christobals Fähigkeit in der Mathematik wird nur noch von seiner Trinkfestigkeit übertroffen. Und auch da hast du dich gut geschlagen. Christobal hatte aber auch keine bösen Absichten. Er vergisst nur sehr gern, dass nicht jeder seinen Cider so gut verträgt wie er. Insbesondere wenn er begeistert ist. Er hält dich im übrigen für grottenschlecht, aber sehr einfallsreich. Und letzteres ist es worauf es ihn ankommt. Er wird dich jeden Mirastag von 12 bis 16 Uhr unterrichten. Er wird schimpfen und fluchen, aber auch geduldig alles fünfmal erklären. Nimm es dir also bitte nicht zu Herzen, wenn er verbal grob werden sollte.“ „Ja, Magister. Der Tee ist gut. Der ist aber auch magisch, oder?“ Mitras lachte, „Ja, gut erkannt. Ich habe den Tee verzaubert. In ein paar Minuten solltest du von dem Kater nichts mehr merken. Es wird sicher nicht dein letzter Umtrunk gewesen sein und da ist auch überhaupt nichts schlimmes dran, solang du es nicht übertreibst. Sollte dir der Kopf am nächsten Morgen wieder einmal schwer sein, frag mich nach dem Tee, wenn ich ihn dir nicht auch schon gemacht habe. Der Zauber ist nicht ganz ohne, es wird wohl noch eine Weile dauern, bis du ihn lernen kannst. Es ist einer der Vorzüge eines Verwandlungsmagiers.“ Kira zuckte bei dem letzten Satz zusammen. Mitras hatte geredet ohne nachzudenken und bereute es sofort. „Keine Sorge, du bist bereits eine Magierin, auch die Verwandlungsmagie wird dir schon noch gelingen.“ Niedergeschlagen erwiederte sie ein genuscheltes: „Na, wenn du meinst.“ „Ja, Kira, das meine ich und ich werde dir dabei helfen wo und wie ich nur kann. Deine Telekinesezauber gelingen dir ja auch immer besser. Mit der Verwandlungsmagie verbindest du starke negative Emotionen. Wir werden von nun an jeden Tag mit einer Meditationsstunde beginnen. Außerdem habe ich deinen Lehrplan noch etwas überarbeitet, keine Sorge du behältst deine Freiheiten, warum auch nicht, du machst ja auch große Fortschritte. Wir treffen uns gleich im Labor, erst meditieren wir und dann gehen wir den neuen Plan durch.“
Kira hatte sich schnell umgezogen und mit neuem Elan den Kampf gegen ihre Haare wieder aufgenommen und diese nun auch gebändigt. Sie schämte sich ein wenig dafür, dass sie so zerzaust zum Frühstück gegegangen war – aber sie hatte ja schon wieder verschlafen! Sie würde Abby tatsächlich bitten müssen, sie zu wecken, irgendwie wachte sie nicht mehr von alleine auf. Sie war Mitras für seinen Tee außerordentlich dankbar. Tatsächlich hatte sie keine Ahnung, wie sie ins Bett gekommen war, wahrscheinlich hatte Mitras sie dort hingebracht. Aber ihr Herz beschleunigte immer noch, wenn sie an die Fahrt in der Kutsche dachte. Sein warmer Arm um sie und sein Geruch und das kibbelige Gefühl des Alkohols in ihrem Bauch, kombiniert mit dem berauschenden Gefühl des Erfolges bei Christobal hatten sie innerlich schweben lassen. Wenn sie nicht so müde gewesen wäre, hätte sie wahrscheinlich versucht, ihn zu küssen, und daher war sie heute morgen ausgesprochen dankbar, dass sie einfach eingeschlafen war. Nicht auszudenken, wenn sie das wirklich gemacht hätte, worüber sie da im Wegdämmern nachgedacht hatte! Jetzt saß sie vor dem Spiegel und seufzte schwer. Die Haare sahen nun ordentlich aus, auch die Schatten unter den Augen waren verschwunden. Kein Grund mehr, hier sitzen zu bleiben. Wie sollte sie jetzt mit Mitras meditieren, ohne dass er die ganzen Schmetterlinge in ihrem Bauch bemerkte? Sie atmete Magie ein und drehte sich dann zu ihrem Schreibtisch um. Mit einem Blick umfasste sie die zwei Stapel Bücher, die dort lagen, ließ sie mit einer Handbewegung abheben und konzentrierte sich einige Minuten darauf, sie in einem komplizierten Kreismuster umeinander schweben zu lassen, ohne dass sie sich aufblätterten. Ihre Übungen der Telekinese hatten sich nämlich als recht hilfreich erwiesen. Wenn sie sich ausreichend auf etwas konzentrieren musste und dabei viel Magie verbrauchte, sank ihre Anspannung, wie sie vor einer Weile herausgefunden hatte. Also hatte sie diesen Büchertanz erfunden, den sie öfters nutzte, ehe sie mit Mitras den Generator laden ging, um ihre Aufregung abflauen zu lassen. Die Bücher nicht aufblättern zu lassen war das wirklich schwierige daran, dafür hatte sie fast eine Woche gebraucht, ehe es geklappt hatte. Mit einem tiefen Luftzug ließ sie alle Bücher wieder geordnet auf den Tisch sinken, stand auf und ging ins Labor. Eigentlich war es ein ziemlicher Luxus, lächelte sie in sich hinein, wenn das relevanteste Problem war, wie man die eigene Verliebtheit vor dem Mentor verbarg, während man in Reichtum schwelgen und Magie lernen durfte!
Mitras saß bereits an seinem Schreibtisch und hielt einen Zettel in der Hand. Er lächelte ihr freundlich zu und sagte: „Hier, ich habe den Plan schon aufgeschrieben, du brauchst nicht mitschreiben. Falls du etwas ändern willst, sag es ruhig.“ Er wartete einen Moment, bis sie sich gesetzt hatte, und las dann vor: „Gut, wir treffen uns also jeden Morgen von 9 bis 10 hier, um zu meditieren, natürlich außer am Silenz. Du solltest vorher gefrühstückt haben. Von Mafuris bis Schengs machen wir direkt im Anschluß Übungen zu Telekinese – gern auch anderes, wenn du möchtest – entweder gemeinsam oder du übst hier im Raum alleine, während ich arbeite. Ich habe deine Übungen zu selten beobachtet, das soll sich nun ändern. Am Mirastag hast du nach dem Meditieren Pause und dann von 12 bis 16 Uhr Mathematik bei Christobal. Lass dich nicht jedes Mal vom ihm anschließend zu einem Schnaps bequatschen.“ Kira lief rot an. Nein, das würde sie bestimmt nicht. Das wäre zu gefährlich für ihre, hmm, Integrität. Mitras lächelte und Kira war dankbar, dass er nicht gut genug in Hellsicht war, um ihre Gedanken lesen zu können. Er fuhr fort: „Mafuris, Ingas und Schengs wirst du nachmittags von 13 bis 17 Uhr Zeit haben, dich weiter in die nichtmagischen Themen einzuarbeiten. Am Mafuris und Ingastag sind wir Abends mit Laden beschäftigt, da ich aber auch einen Überblick über deine sonstigen Studien haben möchte, treffen wir uns am Schengstag, sofern ich da bin, nach dem Abendessen für zwei Stunden, in denen du deine Ergebnisse der Woche präsentierst. Am Uldumstag möchtest du dich vermutlich mit Sebastian treffen oder in die Bibliothek gehen, das bleibt dein freier Tag, du kannst machen, was du magst. Und Silenz hast du frei und wenn du dort liest, dann nur aus der Abteilung der schönen Literatur in unserer Sammlung, verstanden?“ Er blickte sie mit einer Mischung aus Strenge und Fürsorge an, die ihren gerade beruhigten Herzschlag wieder springen ließ. Unsere Sammlung – hatte er gerade seine Bibliothek als ihre gemeinsame Sammlung bezeichnet? War sie wirklich schon so sehr Mitglied seines Haushaltes? Sie fühlte sich willkommen, obwohl eine kleine Stimme in ihrem Kopf deutlich moserte, dass die Formulierung von Mitras vermutlich nicht so gemeint war. Sie nickte. „Danke, Magister. Ich habe keine Veränderungswünsche.“ Mitras reichte ihr das Papier. „In Ordnung. Dann beginnen wir jetzt mit der Meditation und dann bin ich gespannt, welche Zauber du dir aus dem Telekinesebuch schon herausgenommen hast.“
Für Mitras ging die Meditation wie im Flug vorbei. Ihm tat es gut, sich einmal am Tag etwas Ruhe zu gönnen, auch wenn seine Forschungen dadurch noch langsamer vorankamen, als sie es nun sowieso schon taten. Aber Zeit in Kira zu investieren hatte sich als lohnend herausgestellt, wenn man bedachte, wie viel besser es ihm nun emotional und körperlich nun ging. Selbst zu seinem alten Mentor hatte er nun wieder Kontakt. Auch wenn ihn die Forschungen immer noch mit Sorgen erfüllten, Zeit mit ihr gab ihm das Gefühl, nicht mehr nur davon zerfressen zu werden, was seine Erfindung anrichten könnte. Er unterdrückte den Impuls, sich die Lippen abzulecken, um mehr vom Karamellgeschmack zu bekommen, der nach dem Meditieren oft im Raum lag. Ihm war klar, dass es von ihr kam und eine Nebenwirkung des ruhigen Magiestromes war, aber der Impuls war zeitweilig sehr deutlich. Er kannte es von niemandem anderen, dass der Geschmack der Magie den Raum erfüllte, wenn die Person meditierte, aber Kira war eben etwas besonderes. Gespannt setzte er sich auf seinen Stuhl, lächelte sie an und sagte: „Dann lass mich mal sehen, was du geübt hast. Brauchst du etwas, die Kugeln?“ Kira stand in der Mitte des Kreises und lächelte ihn an. Sie sah nun entspannter aus und strahlte regelrecht. Ihre Augen wirkten nun klar und das Grün leuchtete regelrecht mit ihren roten Haaren um die Wette. Er schluckte, nun da es ihm wieder besser ging, wurde ihm auch immer stärker bewusst wie gut sie aussah. Nicht nur ihr bildhübsches Gesicht, auch ihre Figur war hinreißend. Er schüttelte kurz den Kopf, was sie dazu veranlasste ihn verunsichert und fragend anzusehen. „Es ist alles gut Kira. Mir kam nur gerade ein Gedanke, der mich zu sehr abgelenkt hatte.“ Ihre Miene änderte sich in neugierig. Doch den Geistern sei Dank traute sie sich nicht zu fragen. Stattdessen atmete sie ein, um Magie an sich zu ziehen. Mitras beeilte sich, die magische Sicht zu aktivieren. Sie schimmerte merkbar heller als zu Beginn ihrer Übungen, was bewies, dass sie wirklich regelmäßig geübt haben musste. Ihm kam der Gedanke, dass das Magie-Transferieren beim Laden vielleicht auch dazu beitrug, dass sie mehr Magie halten konnte und er machte sich innerlich eine Notiz, auch selbst wieder mit Übungen zur Steigerung des eigenen Magieniveaus zu beginnen. Nicht, dass seine Schülerin ihn schon vor Antritt der Akademie übertraf! Das würde Thadeus sicher zum Lachen bringen, wenn er wüsste, was Mitras gerade dachte. Grimmig lächelnd wandte Mitras wieder seine Aufmerksamkeit zu Kira. Es würde Thadeus nämlich auch gehörig schlucken lassen, wenn er wüsste, wie hell seine neue Schülerin gerade leuchtete, während sie mit Leichtigkeit mehrere Kugeln um sich kreisen ließ. Moment, Kugeln? Das eine war gar keine Kugel, das war eines seiner Magiebücher, das eben noch hinter ihm auf dem Schreibtisch gelegen hatte! Kaum hatte er den Gedanken beendet, flog auch schon ein weiteres an ihm vorbei. Kira jonglierte nun mit den drei Kugeln, die eine Acht über ihrer linken Hand bildeten und den beiden Büchern, die sie mit der rechten dirigierte. An ihren Lippen konnte er ablesen, dass sie bereits einen weiteren Zauber vorbereitete. Ihre Linke bewegte sie zur Formung des Zaubers, während die Kugeln einfach weiter ihre Acht flogen, nun frei im Raum. Eines der Bücher löste sich aus dem Kreis, in dem es sie umflogen hatte, schwebte vor sie und öffnete sich durch einen leichten Wink ihrer Hand. Sie neigte den Kopf und die Seiten blätterten weiter. Mitras stand neben seinem Stuhl, ohne sich bewusst zu sein, wie er aufgestanden war. Natürlich hatte er derartiges schon gesehen, jeder Kirmesmagier beherrschte solche Jonglage, aber doch nicht nach nur ein paar Wochen Übung! Und sie sprach die Formeln nicht mal laut! Bei den Geistern, Thadeus würde ausrasten, wenn er das wüsste. Kira kam zum Ende und legte die Bücher wieder genau da ab, wo sie sie aufgelesen hatte. Die Kugeln hingegen verblieben in der Acht. Mitras sah, dass sie einen Aufrechterhaltungszauber gewirkt hatte und dieser würde wohl auch noch eine ganze Weile wirken.
Im Kopf überschlug er die Zauber, die sie gewirkt hatte. Sie hatte mit den Kugeln begonnen, ein einfacher Trick, der die Kugeln in einem bestimmten Muster fliegen ließ. Einfache geometrische Formen so in Bewegung zu versetzen war leicht und eigentlich auch alles, was er erwartet hatte. Dann kamen die Bücher hinzu. Sie hatte sie eins nach dem anderen mit einem Greif-und-Hol Zauber zu sich gebracht, davon gab es in ihren Büchern mehrere und er konnte nicht sagen, welchen sie gewählt hatte. Was ihn erstaunte, war, dass sie zu dem Zeitpunkt die Jonglage noch direkt aufrecht erhalten hatte. Dann hatte sie den Zauber auch auf die Bücher angewandt, diese dabei mit einem Bindungszauber geschlossen gehalten. Diese Zauber musste man einzelnd auf jedes Ziel werfen. Sie waren die ersten, die sie mit einem Aufrechterhaltungszauber gewirkt hatte. Dann hatte sie den Bewegungszauber so verlagert, dass die Bücher hinter ihr flogen. Sie brauchte also keinen Sichtkontakt mehr, um den Zauber aufrecht zu halten, zumindest wenn sie selbst das Zentrum der Bewegung war. Erst jetzt hatte sie die Acht autark gemacht und auch an diesen Zauber eine Aufrechterhaltung angebunden, um anschließend das eine Buch zu sich zu holen und es aufzublättern. Sie hatte also mehr oder minder gleichzeitig vier Zauber gewirkt, einige mehrmals. Diese hatte sie teilweise direkt und andere nachträglich modifiziert. Mitras merkte erst jetzt, dass sein Mund offen stand. „Verdammt Kira, weißt du was du da gerade alles gemacht hast?“ Er brauchte einen Moment, um aus seiner Verblüffung wieder herauszukommen, und lachte auf. „Bei den Geistern Kira, mit der Darbietung wärst du jetzt Schülerin der Schule der Kinetik und hättest die Prüfung wahrscheinlich sogar als Beste bestanden. Die Zauber selbst sind zwar simpel und andere Schüler würden sicher mit komplizierteren kommen, aber die Komposition…“ Er stockte kurz. Kira stand etwas außer Atem vor ihm und wurde gerade bis zu den Ohrspitzen rot. „Derartige Verknüpfungen und auch das nachträgliche Modifizieren eines bereits gewirkten Zaubers, das ist alles Stoff, den du erst in der Schule lernen solltest. Ach, Kira!“ Er lachte erneut auf und entspannte sich. Was hatte er für eine Schülerin! Mit wenigen Schritten stand er vor ihr, umfasste ihre Hüfte und wirbelte sie umher, wie er es oft mit seiner Schwester tat, wenn er sich freute. „Du bist die beste Schülerin, die sich ein Magister wünschen kann!“
Kira schwindelte, während sie versuchte, seine Worte in sich aufzunehmen. Beste Schülerin? Sie klammerte sich mit den Händen an seinen Oberarmen fest, während er sie langsam wieder herunterließ und fühlte die Hitze seines Körpers nah an ihrem, selbst durch beide Roben hindurch. Ihr Gesicht glühte. Es gefiel ihm, das Üben hatte sich gelohnt. Und dabei war das eben gar nicht so schwierig gewesen – sie hatte nur gezeigt, was sie schon sicher konnte. Freude und Glück und sein Geruch verstärkten das Gefühl von Schwindel und sie griff mit den Armen um ihn, um sich an ihn zu drücken und nicht umzukippen. „Danke.“, flüsterte sie.
Immer noch komplett berauscht und von Euphorie erfüllt erwiederte Mitras ihre Umarmung und strich ihr väterlich über die Haare und die Schultern. Sie hatte kaum einen Monat gebraucht, um so weit zu kommen. Gut, sie hatte ein enormes magisches Potential, welches aufzubauen für die meisten Schüler sonst schon das erste große Problem war, aber auch das sichere Erlernen der Sprüche und Gesten. Und Verknüpfungen waren noch viel schwerer. Sie hatte sogar begonnen, Gesten und Sprüche zu minimieren. Dabei kam ihm eine Idee. Er schob sie ein Stück von sich weg und schaute sie verschmitzt lächelnd an. „Was meinst du, bist du bereit für ein kleines magisches Telekinese-Duell mit deinem alten Magister?“
Kira hatte noch das Gefühl seiner Hand auf ihren Haaren und in ihrem Nacken. Seine sanfte Berührung hatte ihr alle Härchen auf den Armen aufrecht stehen lassen und als sein Finger wie versehentlich hinter ihrem Ohr längstgestrichen war, hatte es sich angefühlt, als seien tausend Blitze durch ihren Körper gefahren. Sie brauchte einen Moment, um zu realisieren, was er gesagt hatte. „Ein Duell?“, wiederholte sie, mehr um von ihrem eigenen Zustand abzulenken. Sie war tatsächlich erregt, verdammt. Mitras schien nichts bemerkt zu haben, den Geistern sei dank. „Na ja, es ist eher ein Spiel, um das schnelle Wirken von Sprüchen zu üben. Wir nehmen einen kleinen, weichen Ball.“ Er holte kurz aus und ein ziemlich staubiger Ball kam aus einem der hinteren Regale angeflogen. Er klopfte ihn kurz ab, bevor er fortfuhr. „Und schleudern ihn hin und her. Ziel ist es ein magisches Netz hinter dem Gegner zu erreichen. Wenn ich den Ball mit Magie werfe, musst du ihn fangen und zurück werfen, bevor er das Netz berührt.“ Das klang nach einem Spiel, dass sie auch ohne Magie kannte, die anderen Jugendlichen hatten es öfters auf dem Dorfplatz gespielt, und Adrian manchmal mit ihr auf dem Hof. „Wie Zick-Zack?“ Mitras nickte. „Ja, magisches Zick-Zack. Der Ball darf nicht die Hände oder den Körper der Mitspielenden berühren.“ Er hob die Hände und ein Geruch nach Nougat begleitete die Zauber, mit denen er den Raum in ein Spielfeld verwandelte. Als Kira sich drehte, konnte sie das Netz sogar etwas außerhalb des ganzen Kreis erahnen, es schimmerte leicht in der Luft. Mitras ging einige Schritte zurück, lächelte sie an und fragte: „Bereit?“ Ein Ballspiel wie mit Adrian, aber diesmal mit Magie. Und wie sie bereit war! Sie hob die Hände und atmete Magie ein, so viel wie sie halten konnte. „Bereit!“
Mitras fing an und warf den Ball in die Luft wo er auf der Höhe, die Mitras haben wollte, stehen blieb. „Gut, ich fange an.“ Mitras stand mit auf dem Rücken verschränkten Armen einen halben Meter vor seinem Netz und war äußerlich völlig unbeweglich. Der Ball flog los, von einem schnellen Gedanken angestoßen. Er prallte in der Mitte zwischen ihnen auf und flog auf Kira zu, die ihn mit einer Handbewegung in seine Richtung in der Luft stoppen ließ. „Mova!“, rief sie, und der Ball schoß zurück zu Mitras, der ihn ohne eine Bewegung stoppte und ebenso schnell zurück schnellen ließ. Eine Weile hörte man nur noch Kiras Atmen und ihre Bewegungen, da sie ab dem zweiten Wurf nur noch die Lippen bewegte. Mitras hatte schon lange nicht mehr gespielt, und beim fünften Wurf lenkte ihn kurz ein Blick auf ihre nackten Beine ab, als sie sprang, um den Ball noch zu erwischen, und sich die Robe aufbauschte. Mit einem Pfeifgeräusch knallte der Ball in das Netz hinter ihm und blieb in der Luft hängen. „Jaaaaaaa!“ Kira sprang in die Luft und jubelte. Er ärgerte sich kurz, sie hatte eine Lücke ausgenutzt, an der er selbst schuld war. Das würde ihm nicht noch einmal passieren. „Nicht schlecht.“ Der Ball schnellte auf die Position zurück, an der er am Anfang des Spiels in der Luft gehangen hatte und zischte sofort in Kiras Richtung. Mitras hatte ihm einen leichten Spinn versetzt und als der Ball den Boden berührte, flog er in eine komplett andere Richtung weg, als Kira anhand des Winkels erwartet hatte. Sie keuchte, schrie „Silente!“, riß die rechte Hand hoch und stoppte ihn knapp vor ihrem Netz. Einen Moment sammelte sie sich, dann drehte sie sich zu Mitras um und ihre Augen funkelten. „Wie macht man das?“ Mitras lächelte selbstzufrieden „Ich habe dem Ball zwei Stöße gegeben. Der erste greift im Zentrum des Balls an und der zweite gleichzeitig am Rand.“ Sie runzelte die Stirn, dachte einen Moment nach, blickte dann auf den Ball und sagte: „Mova!“ Gleichzeitig bewegte sie die rechte Hand, als würde sie werfen. Der Ball prallte in der Mitte auf und sprang in einem gespiegelten Winkel nach oben, direkt auf Mitras Gesicht zu. Er stoppte ihn kurz vor seinen Augen. Sie hatte keine zwei Zauber gewirkt wie er. Warum hatte der Ball dennoch die Richtung geändert? Er erinnerte sich an William früher. Sie hatten das Spiel durchaus gemeinsam gespielt, Magier gegen Nicht-Magier. Und der konnte Bälle auch so springen lassen. Hatte sie die Handbewegung nachgeahmt und auf den Ball übertragen? Sie stand breitbeinig vor ihm, bereit für den nächsten Wurf und grinste ihn herausfordernd an. Er grinste ebenfalls. Dieser kleinen Trickserin würde er schon zeigen, dass er mehr Übung hatte! Er versetze dem Ball, während er ihn noch festhielt, mehrere Stöße und brachte ihn in eine komplizierte Drehung, ehe er ihn sehr weit nach links schoß. Der Ball traf auf den Boden auf und flog nach rechts, begann aber sofort einen Bogen und flog letztendlich wieder links an Kiras Kopf vorbei und traf ins Netz, was den Treffer mit einem lauten Pfeifen quittierte. „Ah!“, kreischte sie, dann griff sie sich magisch den Ball und schleuderte ihn rasch zurück, wieder mit einem leichten Dreh. In Folge erwischte sie zwei seiner gedrehten Bälle, aber dann trafen die nächsten drei das Netz. Sie keuchte heftig und er sah, dass der Schweiß ihr Gesicht herunter lief. Nach dem dritten Treffer von ihm drehte sich ihr Ball nicht mehr, und nachdem er das vierte Mal ihr Netz getroffen hatte, griff sie nach dem Ball, der nun aber mit einem leichten „Pflopp“ zu Boden fiel. Keuchend ließ sie sich neben den Ball fallen. „Uff, Magister, ich kann nicht mehr! Da ist einfach keine Magie mehr über!“ Mitras sah sie verwirrt an. „Wieso keine Magie mehr?“ Er aktivierte den Analysezauber wieder, betrachtete sie eingehend und sah, dass ihre Aura schon recht schwach war. Sie hatte kaum noch Magie in sich und konnte anscheinend auch keine mehr sammeln. Erschrocken wob er einen zweiten Zauber, um den Fluß der Magie betrachten zu können. Er hatte genug Magie, warum war sie plötzlich so leer? Ihr Potential war doch nicht so weit unter seinem und um sie herum war doch eigentlich genug Magie! Die Farben verschwammen kurz vor seinen Augen und er sah, dass innerhalb des Labors keine greifbare Magie mehr übrig war. Er selbst konnte wie alle Magier über die physischen Grenzen des Raumes hinausgreifen und dort war das Level nur unwesentlich niedriger als normal. Dort sah es so aus, als wenn ein Magier gerade eine Reihe von kleinen Zaubern gewirkt hatte. Aber innerhalb des Raumes waren die Magieflüsse völlig ausgedünnt. Während er schaute, floß auch langsam wieder Magie in den Raum, auch wenn er nicht genau sagen konnte, woher sie kam. Ein wenig mehr kam vom Fenster, das machte Sinn, da es nicht ganz dicht war und dort auch Luft eindrang. Es war faszinierend. Er wusste, dass man Gebiete leeren konnte, aber Räume? Mit einem schnellen Zauber öffnete er das Fenster. Schneeflocken stoben herein. „Versuche bitte etwas Magie zu sammeln.“ Angestrengt griff sie wieder in den Strom und konnte diesmal wieder Magie sammeln. Mitras sah das deutliche Band, das vom Fenster zu ihr ging. „Kira, du lässt die Wände dich blockieren. Ich weiß nicht wieso, aber du hast den Raum komplett geleert, ohne die Magie außerhalb überhaupt anzurühren. Versuche bitte, dir vorzustellen, dass die Wände gar nicht da sind, greif durch sie hindurch.“ Er schloß das Fenster wieder und wartete ab, was passierte.
Kira fühlte sich, wie nach einem Hochflug plötzlich auf dem Boden aufgeschlagen. Der Mangel an Magie tat beinahe in der Magengrube weh, sie hatte während des Spiels nicht gemerkt, wie sie alles aufgebracht hatte. Das kleine bisschen von eben half, aber jetzt war der Raum irgendwie wieder stickig. Sich vorstellen, die Wand wäre nicht da? Das sagte er so leicht. Sie starrte auf die Wand. Ja, sie konnte spüren, dass dahinter Magie war, aber sie konnte nicht hindurch. Das war… unnatürlich. Ihr Kopf rauschte. Sie hatte das Gefühl, ihr würde schlecht werden. Da war nicht genug. Das ging doch nicht! Erschöpft ließ sie sich ganz zu Boden sinken. Da hatte ihr Magister ihr aber gut gezeigt, dass sie noch viel zu lernen hatte. Sie wusste nicht, ob sie sich ärgern sollte. Das Hochgefühl des Spiels hing doch noch ein wenig in ihr, und ihr Verstand realisierte auch, dass er sie nicht kritisiert hatte, sondern sie einfach nur unterrichtete. Auf dem Boden liegend, starrte sie weiter die Wand an. Blöde Wand! Da müsste doch nur ein kleines Loch drin sein, dann könnte die Magie doch mit der Luft hinein. Frustriert schloß sie die Augen, zu müde, um noch mehr zu machen.
Mitras sah wie sie sich bemühte. Aber sie bekam die Magie nicht zu fassen, es war als wenn die Wand sie komplett abschirmte. Es gab Verzauberungen und auch Materialien, die dafür sorgen konnten, dass der Magiefluß unterbrochen wurde, aber nichts davon war beim Bau dieses Hauses zum Einsatz gekommen und er selbst konnte ja auch ohne Probleme in einem weiten Radius Magie sammeln. „Lass gut sein Kira, ich weiß nicht, was dich blockiert, aber anscheinend kannst du nicht so wie ich durch die Wände hindurch Magie sammeln. Für mich sind die Wände gar nicht richtig da, wenn ich nach Magie greife. Ich kann sie sehen, aber ich ziehe die Magie eben hindurch. Warte kurz.“ Er öffnete das Fenster wieder, kalte Luft und Schneeflocken ignorierend. „Greif nicht aktiv danach, das könnte gerade zu viel für dich sein. Aber du solltest dich gleich erstmal in den Garten setzen oder einen kurzen Spaziergang machen.“ Mitras hatte so etwas noch nie gesehen. Konnte das mit ihrem hohen Potential zu tun haben? Er würde so bald wie möglich mit Nathanael darüber reden müssen. Er war der einzige von dem Mitras aufgrund seines Wissens Antworten erwarten konnte und dem er auch weit genug vertraute. Sie nickte und rappelte sich langsam auf. „Geht schon wieder.“ Besorgt blickte er ihr nach, wie sie den Raum verließ. Sie war eine hervorragende Schülerin, eine ganz besondere Frau, und die Geheimnisse um sie waren im gleichen Maße faszinierend und besorgniserregend.
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