Einige Tage später, am Silenz, saß Kira im Wintergarten und beobachtete Tobey, der im Beet herum kroch und die Pflanzen versorgte. Sie hatte vor sich ein Notizbuch liegen, in das der Herzog di Pinzon ihr am Mirastag nach einem langen Vortrag über Gleichungen und die Möglichkeiten, sie durch Geometrie zu lösen, einige Aufgaben notiert hatte, und versuchte eher unmotiviert, die Linien für die letzte Aufgabe so korrekt zu zeichnen, dass man die Lösungen ablesen konnte. Er hatte in seiner kleinen, sauberen Handschrift hinter jede Aufgabe auch die Lösung notiert und ihr deutlich gesagt, dass er nicht daran interessiert sei, ob sie diese raten könne, sondern ob sie sie begründen könne. Kira hatte Sebastian davon erzählt, allerdings nur flüsternd, der Herzog hatte ja deutlich gesagt, dass ihre Stunden bei ihm ein Geheimnis bleiben sollten. Sie fand aber, dass Sebastian eine Ausnahme von allem sein konnte – immerhin hatte sie ihm ja auch erzählt, dass sie ein wenig in ihren Mentor verliebt war, und mehr Geheimnis ging ja wohl schlecht. Sebastian hatte sich beinahe an seinem Tee verschluckt, so sehr hatte er lachen müssen, und ihr dann erzählt, dass Herzog Christobal di Pinzon durchaus auch Vorlesungen an den Akademien als Gastdozent hielt, und auch an der Universität für Nichtmagische Wissenschaft berühmt-berücht war für seine Vorträge. „Er ist ein Genie, glaube ich“, sagte Sebastian, „aber ein sehr schrulliger Mann manchmal.“ Er hatte ihr auch Hilfe bei den Hausaufgaben angeboten, aber Kira wollte sich nicht zu sehr helfen lassen, eigentlich war der Vortrag ganz verständlich gewesen, und seitdem die Mathematik mehr war als Kaufmannsaufgaben fand sie sie auch nicht mehr ganz so schlimm. Stattdessen hatte sie es vorgezogen, sich von Sebastian dabei helfen zu lassen, aus dem Theaterprogramm, dass ihr Guardia Engel hatte schicken lassen, ein Stück auszusuchen. „Julis und Roma“, hatte sie nämlich herausgefunden, war ein dramatisches Stück um zwei unglücklich Verliebte Adelige, die wegen eines Familienstreites nicht zusammen sein duften. So etwas romantisches fand Kira unpassend für einen Theaterbesuch mit einer alleinstehenden Witwe, also überlegten sie und Sebastian, dass sie lieber die in einigen Wochen beginnende Aufführung von „der gebrochene Teller“ ansehen könnte, da es ein lustiges Stück über eine „schändliche Tat und die Versuche, diesselbe zu verbergen“ sei. Kira war noch nie im Theater gewesen und Sebastian bestätigte, dass eine Komödie als Einstieg wohl besser geeinigt sei als eine Liebestragödie. Gemeinsam verfassten sie eine Antwort an die Großmutter von Maximilian Engel und Sebastian kümmerte sich sogar um einen Boten.
Tobey fluchte, als er in einige Dornen im Beet an der Hauswand griff. Kira spürte, wie eine Welle von Sehnsucht über sie rollte. Sie vermisste Bruder Harras. Er hatte auch immer an irgendwelchen Pflanzen herumgewuselt, während sie am Tisch saß und lernte. Ihr Bruder Adrian hatte auf ihren Brief geantwortet, er freue sich sehr, dass es ihr gut gehe. Zuhause sei alles wie gewohnt. Er wirkte ein wenig unbeholfen, wahrscheinlich hatten die anderen ihm ziemliche Schauergeschichten erzählt, aber sie war sehr erleichtert gewesen, dass er ihr überhaupt schrieb. Sie sollte wirklich auch Bruder Harras mal schreiben. Gedankenverloren streckte sie die Hand nach einem Blatt des Oleanders aus, das neben ihr über den Tisch ragte, und strich darüber. Es fühlte sich gut an. Sie dachte daran, wie Bruder Harras neben den Pflanzen gestanden hatte, sie gestreichelt hatte und gesungen. Er bat die Geister um Hilfe, das wusste sie, und von dem, was sie bis jetzt außerdem über Magie wusste, nahm sie an, dass er außerdem Magie kanalisiert hatte und die Pflanzen damit gefüttert hatte. Leise begann sie zu summen. „Hmmm…hmhmm.. Gäa, meine Mutter, Gäa, mein Vater, schenke uns allen, was uns soll gefallen… hmhm…“ Leise prickelte ein bisschen Magie in ihren Händen, und sie öffnete sich, ließ sie zu der Pflanze fließen. „Hhmmhmmm… was soll uns gefallen, was soll uns ernähren, kannst du uns gewähren…hmhmmm…“
Den Rest der Woche war Mitras zum Glück viel zu sehr von seiner Arbeit eingespannt gewesen und war Kira außer beim Essen, Laden und ihren Lehr- und Meditationsrunden nicht über den Weg gelaufen. Beim Essen lenkten ihn die anderen ab, und in ihrer Lehrstunde hatte der anstehende Stoff und die zeitliche Distanz geholfen. Aber die erste Meditation war schwer gewesen und das Laden danach erst…
Mitras wusste rückblickend nicht was ihn so sehr die Kontrolle hatte verlieren lassen. Ja, sie sah sehr gut aus und ja seine letzte Frau war sehr lange her. Aber sie war auch seine Schülerin und dann war da noch die Geschichte mit Johann. Wobei – das mit der Schülerin oder dem Schüler hielt diverse andere Mentoren auch nicht auf, aber trotzdem. Sie war noch jung und unerfahren, und die Begegnung mit diesem möchtegern adeligen Bastard hatte sicher Spuren hinterlassen. Er musste außerdem darauf achten insbesondere öffentlich nicht zu vertraut mit ihr umzugehen. Ihm war erst jetzt bewusst geworden, wie sehr das die Fasade von der nervigen Ablenkung, die er Thadeus gegenüber aufgebaut hatte, sonst zerbröckeln würde. Und er wollte gar nicht erst daran denken, was die di Porrums ihr antun könnten, wenn sie zu früh feststellen sollten, dass sie ihm wichtig war.
All diese Gedanken liefen seinen eigentlichen Plänen für den Nachmittag komplett entgegen. Er hatte sich überlegt, vielleicht auch aus schlechtem Gewissen, sie in ein Café in der Nähe des Avens, auf der anderen Seite des Händlerviertels einzuladen. Aber gut, er war ja auch für ihre gesellschaftliche Bildung verantwortlich und da gehörte auch die Caféhauskultur der Hauptstadt dazu. Und außerdem hatte er den vorzüglichen Kuchen dort schon viel zu lange nicht mehr genoßen, und für Kira war es eine gute Belohnung für all die Leistungen, die sie in letzter Zeit vollbrachte.
Er kam nun gerade die Treppe herunter, nachdem er sie weder in ihrem Zimmer noch in der Bibliothek angetroffen hatte. Sie würde wohl im Wintergarten sein, soweit er wusste, war sie dort fast genauso häufig wie in der Bibliothek. Er öffnete die Tür und hörte sie schon beim Eintreten irgendwas halb summen halb singen. Er erkannte die Melodie aber nicht. Sie saß mit dem Rücken zu ihm am Oleanderstrauch. Ein Oleanderstrauch, der trotz des gleichmäßigen Klimas im Wintergarten üblicherweise seine gelben Blüten nur vom späten Frühling bis in den Herbst hinein zeigte und damit dann das Herzstück des mittleren Beetes war. Doch nun, mitten im Winter, von gestern auf heute, blühte er! Nur einige Blüten, aber sie leuchteten deutlich gelb zwischen dem Grün des Busches, und während Mitras verblüfft hinsah, öffnete sich vor seinen Augen eine weitere. Kira hatte ihn immer noch nicht bemerkt. Sie strich gedankenverloren über eins der Blätter und summte weiter. Einer Eingebung folgend beschwor Mitras seine magische Sicht herauf. Sie zauberte eindeutig, es war jedoch keine klar definierte Magie, aber auch kein chaotischer Ausbruch. Es sah am ehesten so aus wie die Magie eines Priesters, aber Mitras konnte keine Geister sehen, die aktiv halfen. Außerdem war es eine Magieform, die er bei ihr noch gar nicht beobachtet hatte. Auch wenn Priester ihre Magie von Geistern erhielten und sie in Form von Gebeten wirkten, so folgten sie doch den üblichen Regeln. Nur, dass sie aufgrund der Geisterbindung in der Regel nur Heilungsmagie und Elementarmagie wirken konnten. Nur wenige starke Priester hatten leichte hellseherische Fähigkeiten, die dann auch von den Geistern abhängig war, die sie umgaben.
Kira wirkte nun ganz beiläufig, was einem Priester Jahre der Übung gekostet hätte. Da fiel es Mitras wieder ein. Der Dorfpriester, sie hatte viel Zeit mit ihm verbracht. Sicher hatte sie sich einiges von ihm abgeschaut, nur dass sie keine Geister als Hilfe brauchte. Aber nach einer so langen Zeit konnte es gut sein, dass sie sich einige der Gebete oder Rituale abgeschaut oder intuitiv gelernt hatte. Nach ihren Erfolgen mit der Telekinese wirkte sie nun also auch Elementarzauber, wobei sie diese wohl schon länger kannte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie steckte weiterhin voller Überraschungen. Er trat leise an sie heran und blickte über ihre Schulter. „Na, meine zauberhafte Schülerin ist ganz versunken darin meinen Garten zu verzaubern?“
Als Mitras Stimme plötzlich nah an ihrem Ohr erklang, riss Kira vor Schreck beinahe das Blatt ab. Sie sprang nach oben und zur Seite, und nur Mitras schneller Reaktion verdankten die beiden, dass sie nicht mit den Köpfen zusammen stießen. „Ich… äh… was?“ Sie schaute den Oleander an. Hatte er eben auch schon Blüten gehabt?
Mitras wich aus und hielt sie fest, damit sie sich nicht selbst umwarf und lachte. „Ruhig, wie ich sehe erwische ich dich an deinem freien Tag gleich bei zwei Sachen, die du heute nicht tun solltest. Ein bisschen spät für Mathehausaufgaben oder? Aber was mich wirklich interessiert, hast du bewusst die Pflanze verzaubert oder geschah das versehentlich?“
Kira spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. „Ich hab gestern schon angefangen!“, protestierte sie, dann wurde ihr bewusst, was er als zweites gesagt hatte. Gezaubert? Sie schaute auf den Oleander. Es war Winter, er hätte nicht blühen können. Obwohl, die Bougainvillea blühte ja auch, obwohl es Winter war. Verwirrt sah sie die Blüten an. Die waren gelb, und gelben Oleander hatte sie noch nie gesehen. Wenn er vorhin schon geblüht hätte, wäre ihr das doch aufgefallen! Hatte sie wie Bruder Harras ihn durch ihr Singen zum Blühen gebracht? Freude schwappte über sie hinweg und sie hob staunend die Hand, um eine Blüte zu berühren. Im nächsten Moment saß sie auf der Bank und heulte. Sie vermisste das Gartenhaus von Harras!
Was war denn nun los? War er zu grob gewesen? Nicht genau wissend, was er jetzt tun sollte, setzte er sich zu ihr: „Es ist schon gut, Kira. Solange den Pflanzen nichts passiert, kannst du sie gerne verzaubern.“ fing er unsicher an. „und nein, ich bin dir wegen der Mathehausaufgaben nicht böse, auch wenn du sie eigentlich schon erledigt haben solltest.“ Sie schniefte, griff sich dann in den Ausschnitt des Kleides und zog ein Taschentuch hervor. „Nein, nein, das ist es nicht!“ Einige Schniefer und Hickser folgten, und sie putzte sich die Nase. „Ich hab mich nur gefreut und ich vermisse Bruder Harras einfach… er war der einzige, der mir immer zugehört hat. Außer ihm hatte ich nur zwei richtige Freunde, meinen Bruder und Atlas, aber der war ja nicht echt.“ „Ein frühkindlicher imaginärer Freund?“ Sie schaute ihn an und zuckte mit den Schultern. „Weiß ich nicht. Er war ein Hund und konnte mit mir sprechen, nennt man das dann einen imaginären Freund? Bruder Harras meinte, er könne ihn nicht sehen, und Atlas hat gekichert und gesagt, das solle er auch nicht, weil er erwachsen sei. Ich fand Atlas aber sehr real! Erst als meine Regelblutung eingesetzt hat, habe ich ihn nicht wieder gesehen.“ „Hm, es könnte sein, dass dein Freund sehr wohl real war.“ grübelte Mitras laut. Es gab viele Berichte über Kinder, bei denen später eine magische Begabung entdeckt wurde, die Geister sehen konnten. Oft nahm die Schule der Hellsicht solche Kinder auf, die solche Geistererscheinungen lange und besonders intensiv sahen. Bis zum Einsetzen der Pubertät klang eigentlich recht intensiv, wenn er es sich recht überlegte. Eine intuitive Grundfähigkeit, auch Hellsicht zu wirken, würde ebenfalls erklären, warum sie vor einigen Tagen den Magiefluss hatte sehen können. Er fasste sich an den Kopf. Bei den Geistern, erst Elementarmagie mit Priestergesang, dann Hellsicht. Was steckte heute wohl noch in seinem kleinen Wundermädchen? „Kira, ich glaube, wir sollten wirklich andere Zauber probieren. Ich werde dir nachher zwei Bücher hinlegen, Einstiege zur Hellsicht und zur Elementarmagie. Und dann werden wir mal schauen, wie du dich da schlägst. Aber jetzt…“ er blickte sie so streng wie möglich an und deutete auf das Notizbuch. „…jetzt wirst du diese eine Aufgabe da meinetwegen beenden, und dann wirst du deine Sachen wegräumen und dir etwas feineres anziehen. Ich würde dir gern ein besonders gutes Café zeigen, sie machen tollen Kuchen.“
Andere Magie? Kira war gleichzeitig aufgeregt, nervös, glücklich, ängstlich, neugierig und … naja, hauptsächlich aufgeregt. Sie freute sich jetzt schon auf übermorgen, wenn sie Zeit zum Lesen hätte. Mathe würde sie heut abend zu Ende machen. Mit dem Tuch wischte sie sich die letzten Spuren der Tränen ab und nickte. Sie hatte Mitras zu ihrem Bedauern in der Woche gar nicht so oft gesehen und so vermischte sich in die Freude über die neue Magie noch viel mehr die Freude, Zeit mit ihm verbringen zu können und mehr von Uldum zu sehen. Rasch sammelte sie ihre Unterlagen zusammen, strahlte Mitras noch einmal an und huschte nach oben, um sich umzuziehen.
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