Kira wachte am nächsten Tag wieder gegen sieben Uhr dreißig auf. Offenbar hatte sich ihr Körper an diese etwas spätere Uhrzeit nun gewöhnt. Sie zog ihr Hauskleid aus Bispar an, kuschelte sich in den Sessel und las das Kapitel zu Familienbeziehungen zu Ende, dass sie gestern nicht ganz geschafft hatte. Demnach war die Familie Venaris aber auf jeden Fall sehr ungezwungen. Niggel führte zwar aus, dass Liebe und Wärme die Familie prägen sollten, aber er legte auch dar, dass Respekt und die nötige Distanz wichtige Tugenden seien, da man sein Vertrauen nur wenigen Personen schenken solle, und diese selten in der Familie zu finden seien. Schließlich gäbe es zahlreiche Beispiele, wo selbst die Kinder die Eltern betrogen haben oder umgekehrt. Kira stimmte ihm zu, in ihrer Familie galt das auf jeden Fall, aber die Venaris schienen all diese Regeln auf erfrischende und angenehme Art und Weise ausgesetzt zu haben. Wenn ich mal heirate, möchte ich auch so eine Familie, dachte Kira. Dann allerdings scholt sie sich selber für den Gedanken. Warum sollte sie heiraten wollen? Sie war ja jetzt frei. Und wenn sie doch jemals jemanden würde heiraten müssen, dann müsste es jetzt schon jemand sein wie Magister Mitras – gutaussehend und erfolgreich und fürsorglich und mächtig. Sie grinste. Luftschlösser bauen konnte sie immer schon gut. Vermutlich würde niemand vom Kaliber eines Magisters wie Mitras sie auch nur zur Kenntnis nehmen. Und sie wollte ja auch gar nicht, dass Männer sie besonders zur Kenntnis nahmen. Da kam nur Mist bei raus, sagte ihr die bisherigen Erfahrungen. Beleidigungen, Angriffe und, naja, die Sache mit Johann. Sie schaute auf die Uhr. Bald viertel vor neun. Zeit, zum Frühstück zu gehen.
Mitras saß bereits am Tisch. Er sah wieder müde und abgeschlagen aus. Kira verspürte einen Hauch von Mitleid. Dieser Generator, den er da betrieb, war ziemlich aufwendig, dass er jede zweite Nacht dafür arbeiten musste. Warum machte er es überhaupt nachts? Sie grüßte ihn freundlich und holte sich ihr Essen. „Magister?“ Mitras schaute sie an. „Abby hat mir gesagt, dass Sie sich um den Generator kümmern. Was ist das für ein Generator und warum müssen Sie die Nacht durch an ihm arbeiten?“ „So, hat sie das? Na ja, früher oder später hätte ich Sie sowieso mit meiner Forschung vertraut gemacht. Aber jetzt gibt es nur die Kurzfassung, da ich unbedingt etwas Schlaf nachholen muss. Mein Reichtum basiert auf einem Element, genauer einer Legierung, die ich auf magischen Wege mithilfe einer verloren geglaubten alchemistischen Formel erschaffen konnte. Diese verbindet magische und ferromagnetische Eigenschaften miteinander und bietet so viele neue Möglichkeiten. Eine davon ist es einen Stromgenerator mit Magie zu betreiben. Meine Forschungen drehen sich nun darum, wie ich diesen Prozess vereinfachen kann und vor allem wie ich das ewige Laden optimieren kann. Ich zeige es Ihnen heute Abend etwas ausführlicher, wenn sie möchten.“ Kira nickte. „Ja, sehr gerne!“ „Gut, damit wir alles schaffen sollten Sie dann schon um 17:30 Uhr kommen. Es macht nichts, wenn Sie sich dafür im Politikteil etwas kürzer fassen. Sie haben ja schon in Geschichte bewiesen, dass Sie eine schnelle Auffassungsgabe für sozialwissenschaftliche Themen haben.“ Kira freute sich, allerdings fand sie seine Aussage zum „kürzer fassen“ auch reichlich unnötig. Es war 9 Uhr, bis 17 Uhr blieb ihr genug Zeit, das erste Kapitel des heutigen Buches, „Von Krieg und Staaten“ zu lesen und mit Abby Mathematik zu üben. Sie nickte und begann zu essen. Mitras beendete sein Frühstück, verabschiedete sich und ging nach oben. Kira folgte ihm, nachdem sie das Geschirr weggeräumt hatte, und stand dann einen Moment unschlüssig im Flur herum. So, ihr Magister schlief jetzt? Das heißt, er würde sicher nicht mitbekommen, was sie jetzt tat. Das mit dem Geschirr hatte er auch schon nicht bemerkt, obwohl sie damit angefangen hatte, als er noch in der Tür war. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Aber erst Mathematik. Nicht, dass sie sich davon wieder ablenken ließ!
Sie setzte sich also an den Schreibtisch und rechnete motiviert die restlichen Aufgaben des Kapitels zum Dreisatz zuende. Nachdem sie nun verstanden hatte, worauf sie achten musste, waren zwar einige Aufgaben immer noch schwer zu verstehen und bei zweien hatte sie wohl auch einen Fehler gemacht – die Ergebnisse machten einfach logisch keinen Sinn – aber sie kam doch deutlich besser voran als zuvor. Nach etwa zwei Stunden waren alle Aufgaben erledigt. Sie packte die Sachen zusammen und sammelte dann ihre Unterwäsche der letzten Tage und das Kleid, dass sie bei ihrer Ankunft getragen hatte, zusammen in einen Korb, den Abby ihr dafür bereit gestellt hatte. Vorsichtig lugte sie aus der Tür, doch im Flur war alles ruhig. Sie schlich zu Mitras Tür und lauschte. Ja, er schlief auf jeden Fall, wie das leise Schnarchen anzeigte. Sie grinste. Es war natürlich völlig albern, aber sie fand, dass ein paar Geheimnisse zu haben und sich nicht an alles zu halten, was ihr vorgepredigt wurde, ihr bisher im Leben weitaus mehr geholfen hatte als alle anderen Angewohnheiten. Also hatte sie nicht vor, sich das hier nehmen zu lassen, und wenn es nur um etwas kleines wie Wäsche waschen als adelige Dame ging. Sie holte den Wäschekorb und ihre Mathesachen und suchte Abby. Diese war unten im Salon dabei, wieder alles herzurichten und zu putzen, was gestern beim Essen verdreckt worden war. „Abby, kannst du mir zeigen, wie das mit dem Wäschewaschen hier geht?“ Abby schaute sie einen Moment verwundert an. „Aber…“ Dann hellte sich ihr Gesicht auf. „Ach, du wolltest mir ja helfen. Hast du auch Mathe gemacht?“ Kira nickte. „Du musst mir nicht helfen, Kindchen. Mitras hat schon zusätzlich bezahlt heute morgen, er sagte, er wollte dir eh einen Mathelehrer suchen und erstmal sei es gut, wenn ich das mache.“ Kira zog eine Schmolllippe. Dieser dämliche Magister schaffte es echt, ihr selbst ein kleines bisschen Freiheit und Spaß zu verderben! „Aber wenn ich es will? Wir erzählen einfach niemandem davon! Ich hab zuhause immer die Wäsche gemacht.“ Abby blickte sie einen Moment nachdenklich an, dann schmunzelte sie und zuckte mit den Schultern. „In Ordnung, ich schau mit die Aufgaben an und dann zeig dir die Waschküche.“ Rasch breitete Kira ihre Rechnungen aus, und Abby prüfte sie. Mit ihrer Hilfe gelang es Kira, auch die letzten beiden Aufgaben zu verstehen, und sie freute sich, als Abby sie für ihre gute Arbeit lobte. Gemeinsam gingen sie anschließend in den Keller. Kira schaute auf die Wand links von der Treppe, doch selbst im Schein der elektrischen Lampe konnte sie nichts erkennen, was darauf hindeutete, dass diese Wand eine Tür war. Sie folgte Abby nach rechts in den Gang, von dem zwei Türen abgingen. Der hintere der beiden Räume entpuppte sich als Heizungsraum, indem auch ein kleiner Herd zum Erhitzen des Wassers und etliche Bottiche standen, in denen man Wäsche waschen konnte. Unter der Decke waren Schnüre angebracht, an denen bereits einige Wäschestücke hingen, die Abby nun prüfend befühlte. „Du kannst die hier abnehmen und in den Korb da legen, ich hole sie mir später.“ Kira nickte. Abby ging wieder nach oben, und die nächsten beiden Stunden war Kira damit beschäftigt, ihre Wäsche zu waschen, auszuwringen und zum Trocken aufzuhängen. Sie lauschte dabei immer wieder, ob ja niemand die Kellertreppe herunter kam, aber es blieb alles still. Schließlich hing alles gut auf der Leine, und sie ging die Treppe wieder nach oben, lugte vorsichtig durch die Tür und schlüpfte dann thriumphierend in den Flur. Nicht erwischt worden zu sein bei etwas, was man nicht tun durfte, aber niemand schadete, war einfach wundervoll. Das war definitiv das beste Wäschewaschen meines Lebens, grinste in sich hinein. Fröhlich öffnete sie die Küchentür, aus der bereits ein leckerer Duft drang. William war dabei, die Bratenreste des Vortages aufzuwärmen. „Hallo, William!“, strahlte sie ihn an. „Oh, unsere junge Schülerin! Wo kommst du denn her?“ „Ich, hmm… von der Arbeit?“, gab Kira zurück. „Arbeit? Und die macht dir so viel Spaß, dass du mich mit einem so umwerfenden Lächeln beglücken kannst?“ „Äh…“ Kira dachte kurz nach. Auch wenn sie durchaus gerne Streiche spielte und sich nicht immer an Anweisungen und Regeln hielt, log sie doch recht ungern. William schaute sie grinsend an. Er deutete auf ihre Hände. „Hast du dich unserem werten Magister etwa widersetzt und doch deine Wäsche gewaschen?“ Kira spürte, wie sie feuerrot anlief und versteckte rasch ihre Hände, die tatsächlich vom Wasser aufgequollen waren, hinter dem Rücken. „Darf man hier nicht mal einfach so lächeln?“, versuchte sie abzulenken. William lachte schallend. „Kira! Ernsthaft? Hättest du nicht wenigstens einen anständigen Streich spielen können, wenn du dich schon an ihm austoben willst? Warum überhaupt?“ Kira ließ sich von dem Lachen anstecken und gab sich geschlagen. „Ich hab mich geärgert, weil er mich so wegen Mathematik angepflaumt hat. Ist halt n schwieriges Thema in meiner Familie… naja, auf jeden Fall hat Abby vorgeschlagen, ich könne ihr bei der Wäsche helfen, wenn sie mir bei Mathe hilft, und ich fand, das sei ein guter Weg. Bitte sag Mitras nichts, ja?“ Sie blickte ihn mit ihrem Bettelblick an, der bei Adrian stets half. „Ha, meine Güte, schau mich nicht so an. Für wen hälst du mich? Ich habe viel schlimmere Streiche von Mitras gedeckt, ich werde dich bestimmt nicht fürs Wäschewaschen verpetzen!“ Kira setzte sich auf einen Stuhl, der zuvor in der Ecke gestanden hatte, und angelte sich etwas kalten Braten. „Was für Streiche denn?“ William grinste. „Das solltest du mal seine Schwester fragen. Sobald er wusste, wie man gezielt Magie so einsetzt, dass man einen Stoff festkleben lassen kann, hat er es ein paar mal eingesetzt, um sie auf irgendwelchen Stühlen kleben zu lassen. Einmal sogar in der Oper, wo sie ja noch nicht mal schimpfen konnte! Und da war er ja schon älter und reifer und Thadeus hatte ihm schon ganz schön zugesetzt. Rate mal, zu was er die Erde in Christobals Garten verformt hatte!“ Kira zuckte mit den Schultern. „Einer Frau?“ William schüttelte sich vor Lachen. „Einem Penis! Wir haben einen richtig schönen, hüfthohen Penis vor seiner Terrasse geformt, und Mitras hat ihn ungeplanter Weise magisch fest werden lassen.“ Kira lachte, bis ihr die Tränen kamen. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass der ernste, würdevolle Mitras mit William heimlich an einer Penisskulptur aus Erde herumklopfte, und das auch noch im Garten eines Adeligen!
Der Rest des Tages verging wie im Fluge. Sie aß mit William zu Mittag, der sie dabei mit einigen weiteren Geschichten aus Mitras Jugend erheiterte, etwa, wie sie Obst aus Christobals Garten geklaut hatten und letztendlich darin endeten, sich um den Garten zu kümmern, der ohne Gärtner eher vor sich hin verwilderte. Die Sache mit dem Penis war aber auf jeden Fall unangefochtene Spitze, fand Kira, und sie spürte, wie ein großer Teil ihrer Scheu, die sie in Mitras Gegenwart trotz allen Nettigkeiten und trotz aller Wärme verspürt hatte, dahin schmolz. Sie waren sich gar nicht so unähnlich, Mitras und sie, auch wenn Mitras offenbar aus einer viel netteren und viel reicheren Familie stammte. Aber zumindest der jüngere Mitras, den William da beschrieb, hatte eine ähnliche Vorliebe für kleine Streiche gehabt, hatte auch den Ruf gehabt, zu wild zu sein, hatte Grenzen überschritten, ohne dabei böse zu sein. Obwohl Thadeus von William nicht positiv beschrieben worden war, erschien es ihr, als sei der Schulleiter ein sehr weiser Mann, dass er sie genau diesem Hause zugewiesen hatte. Ein Magister, der in den Adel hingeboren worden war, hätte sich vermutlich weniger in Kiras Lage hineinversetzen können, wäre weniger nachsichtig gewesen, und auch, wenn sie sich in einem anderen Haushalt genauso angestrengt hätte – genauso glücklich wie hier wäre sie vermutlich nirgendwo geworden.
Sie stellte den Nachmittag über eine Übersicht über das Königshaus Leonidas zusammen, dass seit 142 die Könige von Albion stellte und etliche Reformen umgesetzt, sowie die Gebiete im Norden und Osten erorbert hatte. Insbesondere hatten die Herrscher dem Parlament direkte Verfügungsgewalten entzogen. Nun konnte der König Albion quasi alleine regieren – der Staat gehörte dem Königshaus, und was der König sagte, galt als Gesetz. Nur die Tatsache, dass einige der Distrikte, insbesondere Lingusia und Sybergia, unter der Verwaltung des Parlamentes standen, sicherte diesem ein wenig Macht über die Lehen und die dortige Politik zu. Jeder Distrikt entstandte je nach Größe eine feste Anzahl Personen, die den Distrikt im Parlament vertraten. Das Parlament verwaltete dann den Haushalt des Reiches und die ihm zugewiesenden Lehen. Es setzte sich aus je 10 Vertretern der 4 Gilden, 20 Vertretern der „großen Familien“ und den 100 Vertretern der Distrikte zusammen. Parlamentarier zu werden, war ein hoher Rang und sicherte ein fürstliches Gehalt, aber eigentlich, dachte Kira bei sich, ist das auch nur eine Methode, den Adel beschäftigt zu halten und sich die Geldverwaltung vom Hals zu halten, wenn letztendlich eh der König die Gesetze beschließt, die Richter ernennt und das Militär befehligt. Die Methode war aber recht erfolgreich. Immerhin hatte es seit der Regenschaft der Leonidas kein weiterer Adeliger mehr geschafft, durch spontane Alleingänge einen Krieg zu starten, wie es im Jahr 99 geschehen war, als eine Gruppe Adeliger die Nordkriege auslösten, indem sie begannen, nördlich des Olfiat Siedlungen anzugreifen. Die Ostkriege waren, soweit sie es aus landläufigen Erzählungen wusste, von den Angshire selbst ausgelöst worden. Das Buch wies allerdings darauf hin, dass Timothy di Leonidas, der zur Zeit der Ostkriege regierte, diese „freudig annahm“. Dazu gab es später noch ein Kapitel. Sie war gespannt und markierte sich das Kapitel mit einem Lesezeichen. Dann schaute sie auf die Uhr. Es war 17:20. Gerade noch Zeit, sich etwas frisch zu machen. Pünktlich um 17:30 klopfte sie, gut vorbereitet und noch besser gelaunt, an die Labortür. Mitras öffnete ihr und bat sie herein. Sie schaute ihn an. Er trug wieder die schwarze Hose, das weiße Hemd und die schwarze Weste, wie fast immer, und wirkte deutlich erholter als am Morgen. Sie stellte sich vor, dass dieser elegante, gutaussehende Mann als junger Magier eine Penisskulptur geformt hatte und musste dann sehr darum kämpfen, nicht laut zu lachen. Mühsam unterdrückte sie ihr Grinsen und setzte sich auf den Stuhl vor ihm, bereit für die Erklärungen und Prüfungen des Tages.
Mitras ging, nachdem er ein paar Stunden Schlaf nachgeholt hatte, in sein Labor, um die Geräte, die den Wärmezauber überwacht hatten, zu untersuchen. Mit einigen einfachen Zaubern konnte er die Bewegung des Zaubers auf ein Blatt Papier übertragen und stellte dabei fest, dass der Zauber deutlich schneller erloschen war, als erwartet. Es war schon relativ spät, so dass er keine Zeit hatte, sich das alles genau anzusehen, also begnügte er sich damit, alles zu dokumentieren und die einzelnen Drucke in zeitlicher Abfolge zu ordnen. So konnte er noch kein Muster erkennen, aber das ergab sich ja vielleicht Morgen bei genauerer Analyse.
Gegen viertel nach fünf hatte er soweit alles fertig und verstaute die Mappe mit den Aufzeichnungen erst einmal in seinem Schreibtisch und bereitete sich auf Kira vor. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass sie wieder auf die Minute pünktlich war. Er stand kurz auf und bat sie herein. Sie trat ein, begrüßte ihn und blickte ihn kurz, irgendwie vergnügt an, bevor sie wieder etwas ernster wurde, sich setzte und ihre Unterlagen ordnete. Mitras wunderte sich über diesen Anflug von Heiterkeit, konnte sich jedoch keinen Reim darauf machen. Sie saß vor ihm und unterdrückte offenbar ein Grinsen, was in ihrem Gesicht kleine Grübchen in den Wangen zur Folge hatte. Warum auch immer sie so gut gelaunt war, es sah auf jeden Fall sehr niedlich aus. Mitras räusperte sich, um sich konzentrieren zu können, und fragte: „Heute reden wir also über Politik?“ Kira nickte. „Gut, dann fassen Sie einmal zusammen, was Sie an dem Lehrbuch besonders interessiert hat.“ Sie schilderte ihm, was sie über die Organisation der Distrikte, den Aufstieg des Hauses Leonidas erarbeitet hatte und wie es die Könige der Linie schafften, ihre Macht immer mehr zu festigen. Wie immer war ihr Vortrag sowohl detailreich als auch unterhaltsam, ohne dabei vom Wesentlichen zu sehr abzuschweifen. Er korrigierte ein wenig ihre Vorstellung von den Lehnspflichten eines Adeligen – zwar waren Magier immer zum Kriegsdienst verpflichtet, aber ansonsten gehörte dieser Dienst nicht mehr standardmäßig zu den Plichten eines Lehnsherrens, man konnte sich auch mit Geld oder Waren davon befreien. Und da viele Adelige gar kein Lehen besaßen, war es noch weniger so, dass alle Adeligen im Kriegfalle zur Armee eingezogen wurden. Danach wandten sie sich der Mathematik zu. Wie von ihm vermutet hatte Abigail mit ihr das erste Kapitel durchgearbeitet und die Aufgaben bereits besprochen. Er prüfte, ob sie das Grundprinzip besser verstanden hatte, indem er ihr einige Aufgaben vorlegte, die er sich selbst ausgedacht hatte. Sie brauchte zwar merkbar Zeit zum Rechnen, doch es gelang ihr, alle richtig zu lösen. Er war positiv überrascht. Sie hatte sich binnen zwei Tagen signifikant verbessert. Anscheinend hatte Abigail es geschafft ihren Widerwillen der Mathematik gegenüber zu überwinden. Sie musste wahrscheinlich immer noch einiges aufholen, aber ihre Lösungen und ihre Überlegungen, die sie beim Rechnen verbalisierte, entsprachen nun schon eher dem Niveau, mit dem er gerechnet hatte. „Gut. Sie haben es anscheinend geschafft, ihr Verständnis deutlich zu verbessern. Lernen sie weiter mit Abigail und versuchen Sie sich auch ruhig an den folgenden Kapiteln. Konzentrieren Sie sich aber zunächst auf die anderen Lehrbücher, so wie wir es besprochen haben, und lernen sie Mathematik in kleinen Häppchen.“, lobte er sie sichtlich zufrieden. Sie strahlte ihn an, zunächst offenbar erfreut über sein Lob, dann stahl sich etwas anderes, schalkhaftes in ihre Augen, während sie ihn ansah, biss sie sich ein wenig auf die Lippen, um ihre Erheiterung zu unterdrücken. Mitras fand es schade, dass sie sich anscheinend der Freude nicht ganz hingeben konnte, aber es erinnerte ihn auch an sich selber. Auch er neigte ja dazu, seine Gefühle nur selten offen zu zeigen und er hatte sich schon des Öfteren selbst dabei erwischt, wie er ein Lächeln aus Freude über ein Lob unterdrückt hatte, um dem Gegenüber nicht zu zeigen, dass es ihm etwas bedeutete. Hoffentlich wird sie mir irgendwann mehr vertrauen als ich meinen Mentoren je vertraut habe, dachte er. Das war defintiv etwas, was er Thadeus zuschreiben konnte – vor seiner Lehre bei ihm war er nicht so misstrauisch gewesen, eher ein wilder, sorgloser Junge. Manchmal vermisste er die alten Tage, an denen er mit William durch die Viertel gezogen war. Er seufzte und lächelte sie dann freundlich an, damit sie nicht dachte, das Seufzen gelte ihr. „Nun denn, ich hatte Ihnen einen Einblick in meine Forschungen versprochen. Kommen Sie mit.“, sagte er, stand auf und ging in den hinteren Teil des Labors. Er nahm das Tuch vom Elektrumzylinder, stellte kurz einige der empfindlicheren Geräte zur Seite und blickte sich zu ihr um. „Sehen Sie sich diesen Zylinder an. Können Sie mir sagen aus welchem Material er besteht?“ Sie kam näher und betrachtete die Probe ausführlich. „Nur zu fassen Sie ihn ruhig an. Es ist nichts gefährliches daran.“ ermutigte er sie. Sie streckte die Hand aus und strich über den unterarmlangen, handtellerbreiten Zylinder. „Ein Metall? Es ist glatt und kühl und die Farbe ist silbrig, also kann es kein Gold sein, aber für Silber ist es auch zu bläulich… und andere Metalle außer Silber, die silbrig sind, kenne ich nicht.“ Er lächelte ein wenig schelmisch und mit Stolz in der Stimme antwortete er ihr: „Nun, es hätte mich auch schwer schockiert, wenn Sie das Metall identifiziert hätten. Was Sie da vor sich haben ist eine recht komplexe Legierung, die ich Elektrum getauft habe. Es besteht zu einem Teil aus Silber, zu einem Teil aus Cadmium und aus einem neuen Stoff, den ich Venarium genannt habe. Ergänzt wird das Ganze dann noch durch einen Teil Titan. Diesen neuen Stoff und die Legierung habe ich vor einigen Jahren bei der Erforschung alter alchemistischer Werke entdeckt. Eigentlich sollte dabei unter Zuhilfenahme von Magie ein Material entstehen, das der Stein der Weisen genannt wird und als Schlüssel die Transmutation unedler Metalle hin zu Gold ermöglichen sollte. Tja, den Stein der Weisen habe ich nicht entdeckt, dafür aber ein Material, dass selbst Stahl in allen Punkten überlegen ist und das anders als Stahl oder einfaches Eisen einen Vorteil bietet. Es reagiert auf Magie.“ Er wandte sich kurz um und ging zu einem der Schränke hinter dem Versuchsaufbau. Er kramte kurz darin herum und zog zwei Schwerter heraus, die er dann Kira zeigte. Das Schwert, dass er in der rechten trug war, ein normales Infanterieschwert aus Stahl, nur, dass es nicht geschliffen war und zahlreiche Scharten aufwies. Das Rechte war ein Rapier. Die Klinge und der Griff wirkten wie aus einem einzigen Stück geformt und es sah sehr scharf aus. Es gab keinerlei Nähte oder sonstige Bearbeitungsspuren. „Was Sie hier sehen, ist ein normales Langschwert aus Stahl und mein erstes Erzeugnis aus dem Elektrum. Ich brauchte damals Geld, um meine Forschungen weiter zu treiben. Also bin ich bei der Generalität vorstellig geworden, nachdem ich ein Patent beantragt hatte. Ich demonstrierte den Nutzen meines neuen Materials, indem ich mit diesem Rapier hier das Langschwert so zugerichtet habe. Die Klinge des Schwertes ist aus bestem mehrfach gefalteten Waffenstahl und ich habe sie mit einem Duzend Schlägen einer deutlich dünneren Klinge fast schon unbrauchbar gemacht. Einer Klinge, die ich mithilfe von Magie binnen eines halben Tages geformt hatte. Ich hatte gehofft, dass mir die Generalität größere Mengen abkauft und ich so meine Forschungen weiter treiben konnte. Waffen waren jedenfalls nie meine direkte Intention. Dummerweise sah man in der Generalität noch viel mehr Potential zum Kriegseinsatz eines solchen Materials, als nur harte Rapiere damit zu erzeugen. Wissen Sie, ich habe Kontakte zum Königshaus und die musste ich damals völlig ausreizen, sonst hätte man mir meine Forschungen damals schon weg genommen. Nun habe ich ein Geheimpatent und einen Lieferauftrag. Das einzig Gute daran ist, dass die Generalität nun nochmal deutlich mehr pro Gramm zahlt als ich erwartet hatte. Und ich muss die Schwerter nicht selber formen. “ Er kicherte zynisch in sich hinein. „Es gibt im Militärhaushalt wahrscheinlich einen eigenen Buchungspunkt mit Namen Mitras di Venaris.“ Er räusperte sich und blickte wieder zu ihr. „Mein eigentliches Ziel ist es einen elektrischen Generator zu entwickeln. Alle ferromagnetischen Stoffe, die wir kennen, und auch Kupfer sind antimagisch. Warum weiß keiner, auch weil es auf dem ersten Blick keinen Zusammenhang zwischen Kupfer und den Ferromagneten gibt. Das Elektrum ist aber auch ferromagnetisch, obwohl es magisch ist. Nicht nur das, es ist ein äußerst potentes Material, dessen magische Eigenschaften enorm sind. Sie gehen über alles Bekannte hinaus. Wie ich kürzlich feststellen musste sogar noch mehr, als ich mir vorstellen konnte – die Zauber scheinen durch das Material wandern zu können. Ist Ihnen das Prinzip eines elektrischen Generators überhaupt geläufig?“ Kira schüttelte den Kopf. „Es ist eigentlich recht einfach. Wird ein Eisenmagnet durch eine Kupferschlaufe geführt, dann erzeugt das in ihr einen Strom. Viele Windungen sorgen dabei für mehr Strom. Der fließt aber nur, wenn sich der Magnet bewegt. Bisher arbeiten Generatoren entweder mit Verbrennungsöfen durch Dampfantrieb oder durch Wasser- oder Windkraft. Mein Ziel ist es einen Generator zu entwickeln, der einen Elektrummagneten nutzt, der durch Magie bewegt wird. Der Zylinder hier ist so ein Elektrumkern. Er kann leicht magnetisiert werden. Das Problem ist nur, dass er, soweit ich es bisher erforscht habe, diese Größe haben muss, um einigermaßen produktiv Strom zu erzeugen. Der Zauber, den ich derzeit für die Bewegung nutze, erfordert große Mengen an Magie und wirkt dann nur zwei Tage. Ich bin also noch weit von einem praktischen Nutzen entfernt. Und frustrierender Weise sind meine jüngsten Ansätze, die Dauer zu verlängern oder einen alternativen Zauber zu finden, gescheitert.“ Kira schaute ihn nachdenklich an. „Gibt es in der Magie auch eine Art „Energieerhaltungssatz“ wie in der Physik?“ „Ja, zumindest wird das vermutet. Allerdings wissen wir nicht genau, wie magische Energie und physikalische Energie zusammenhängen. Manchmal meditiert man eine ganze Nacht, um einen Block zwei Tage in Bewegung zu halten, und dann kommt ein Telekinetiker und schleudert mal eben einen zwei Tonnen Block nach kurzem Kanalisieren über eine Stadtmauer.“ Kira wirkte nachdenklich. Ihre Miene war völlig ernst geworden. „Man verbindet sich mit der Magie wie mit den Geistern, oder? Vielleicht ist es eine Frage der Tiefe dieser Verbindung…“ Mitras zog kurz eine Augenbraue hoch. Der Gedanke war nicht abwegig, aber es überraschte ihn, dass eine völlig ungelernte und unerfahrene Schülerin ihn äußerte.“Ich habe mich nie sonderlich tief mit der Verbindung der Priester mit der Geisterwelt beschäftigt, aber die astralen Lebewesen und die Magie kommen, soweit wir das heute sagen können, aus derselben Quelle. Woher wissen Sie von den Verbindungen? Wieder ihr Priester?“ Kira nickte. „Wir haben uns manchmal darüber unterhalten. Er hat mir versucht zu erklären, wie es sich anfühlt, zu den Geistern Kontakt aufzunehmen, und wenn es mir sehr schlecht ging, habe ich auch versucht, zu ihnen zu sprechen. Keine Ahnung, ob sie mich erhört haben, aber manchmal gab es schon seltsame Dinge, die dann passiert sind… deswegen habe ich davon geträumt, Priesterin werden zu können, wenn ich die Matura geschafft hätte.“ Mitras sah sie ein bisschen mitleidig an. „Nun, aus diesem Traum wäre nichts geworden. Bei Ihrem ersten Gespräch im Priesterseminar oder wo auch immer Sie für eine Ausbildung hin gegangen wären, hätte man Ihre Begabung erkannt und Sie wären dann auch an einer Magierschule gelandet. Auch die Zeichen und Ereignisse, die Sie beobachtet haben, gehen wohl eher auf das Konto Ihrer eigenen Fähigkeiten, als auf das der Geister.“ Kira schaute zu Boden. „Kann es denn nicht auch sein, dass man magisch begabt ist und dennoch mit den Geistern sprechen kann?“ „Das ist schon möglich, ich glaube, im Bereich der Hellsicht wird es auch manchmal probiert. Aber wer magisch begabt ist, muss geschult werden, sonst können diese Kräfte dem Träger und anderen schaden – und ich vermute, dass wissen Sie sehr genau.“ Kira zuckte zusammen und nickte. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich verurteile Sie nicht für das was da vorgefallen ist. Sie hatten in dem Moment keine Kontrolle über Ihre Kräfte.“ Kira schaute ihn an. Für einen Moment sah er in ihrem unglaublich traurigen Gesicht ein Lächeln aufblitzen, das dort gar nicht hinpasste. Sie setzte an, etwas zu sagen, brach dann aber ab und wurde wieder traurig. „Aber ich wollte ihm wehtun. Denken Sie nicht auch, dass mich das zu einem schlechten Menschen macht? Bruder Harras hat gesagt, der Wunsch hätte sich in dem Zauber manifestiert. Ich wollte seinen Arm verdrehen.“ Mitras dachte an Vorgestern, sowohl an die di Porrums, als auch an die Kneipe. „Dass Sie ihm weh tun wollten allein, macht Sie noch nicht zu einem bösen Menschen. Der Grund dafür entscheidet.“ Und Mitras wusste, dass er am Hafen nur knapp am falschen Grund vorbei gekommen war. „Hmhm.“ Kira schien mit den Tränen zu kämpfen. Sie wischte sich über die Augen. „Warum laden Sie den Generator eigentlich nachts?“, wechselte sie das Thema. Mitras ließ die Frage nach dem Grund auf sich beruhen und beantwortete ihre Frage: „Aus zwei Gründen, der Generator ist noch nicht kommerziell einsatzbereit und ich möchte meine Forschung solange möglichst geheim halten, bis ich das ändern kann. Der andere Grund ist wesentlich trivialer, ich muss eine große Menge Magie kanalisieren, was Stunden dauert und in dieser Zeit muss ich ungestört bleiben. Da bietet es sich nunmal an Nachts zu arbeiten, auch wenn das fürchterliche Auswirkungen auf das eigene Wohlbefinden hat.“ Er lächelte müde und gähnte beim letzten Satz theatralisch. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es schon fast Zeit für das Abendessen war. „Gut, das reicht erst einmal. Wenn Sie noch Fragen zu meiner Forschung haben, nur zu, aber jetzt geht es erstmal zum Abendessen.“ Kira nickte. „Ich bringe meine Sachen weg.“ Mitras sah ihr nach, wie sie aus der Tür verschwand. Was war der Grund gewesen? Warum weinte sie beinahe, aber traute sich nicht, ihn zu nennen? Und was hatte sie in ihren Erinnerungen trotz allem erheitert? Während Mitras noch voller Sorge über seine Schülerin und ihre Vergangenheit nachdachte, verstaute er die Schwerter und deckte den Zylinder wieder ab.
Kira lief in ihr Zimmer. Der Grund. Der Grund entscheidet. Ob Magister Mitras ihr den Grund glauben würde? Dass sie Johann nicht angegriffen hatte, um ihm zu schaden, sondern um sich zu verteidigen? Aber wer glaubte einer jungen Magierin, die eh immer nur dadurch aufgefallen war, dass sie sich nicht an Regeln hielt? Vor allem, wenn der, der die andere Geschichte erzählte, ein Adeliger war und sie nur ein Dorfmädchen? Sie verfluchte sich selbst ein wenig. Sich nicht an Regeln zu halten, hatte ihr Freiheiten ermöglicht, und kleine, glückliche Momente. Diese Selbstzweifel hatte sie schon in den drei Tagen überwunden, die ihre Eltern sie in ihrem Zimmer eingesperrt hatten. Aber wenn… wenn sie doch etwas weniger Streiche gespielt hätte. Etwas weniger oft… anders… gewesen wäre. Ein bisschen weniger. Vielleicht hätte ihre Mutter sich dann angehört, was sie zu sagen hatte? Vielleicht hätte man ihr dann geglaubt? Vielleicht glaubte Mitras ihr dann jetzt? Sie seufzte schwer. Ja, an dieser Stelle war sie schon einige Male gewesen in den drei Tagen Gefangenschaft. Aber wenn sie ehrlich war, hätte ihre Mutter ihr vermutlich nie geglaubt – dazu hatte sie auch vor dem Vorfall schon zu sehr gewollt, Kira wäre gar nicht erst geboren worden. Und wie damals sprach auch jetzt die Erinnerung an die warme Stimme von Bruder Harras zu ihr: Sie hatte stets getan, was richtig war. Warnungen ausgesprochen. Unrecht gerächt. Sie hatte Spaß daran gehabt, andere hinter das Licht zu führen, aber sie war nicht bösartig. Und deswegen hatte sie sich auch nichts vorzuwerfen. Sie war, wie sie war. Und es war nicht ihre Schuld, dass die Dorfbewohner, ja selbst ihre eigenen Eltern, sie nicht als das sehen konnten, was sie war – eine kluge Frau, die ihren eigenen Weg ging. Kira seufzte erneut. Sie vermisste den Trost und die warmen Umarmungen ihres Ersatz-Opas, wie sie ihn manchmal liebevoll genannt hatte. Vielleicht sollte ich ihm auch einen Brief schreiben und ihn fragen, ob ich Mitras sagen sollte, was vorgefallen ist? Irgendwann findet er es ja vermutlich eh heraus. Hoffentlich. Ich will nicht, dass er mich für bösartig hält. Aber ich habe ja nicht mal Harras gesagt, was wirklich passiert ist. Er hat auch gar nicht gefragt, fiel ihr auf. Hatte er von sich aus angenommen, sie habe einen guten Grund gehabt? Immerhin hatte er in den drei Tagen immer wieder nach ihr geschaut, mit ihr gesprochen, sie hatte sogar das Gefühl gehabt, noch im Traum mit ihm zu sprechen, allerdings mehr über Pflanzen als über die Verletzungen, die sie Johann zugefügt hatte. Ist Verteidigung ein Grund, jemanden zu verletzen? War es überhaupt richtig gewesen, sich zu verteidigen? Hätte sie nicht einfach nachgeben sollen? Johann hatte ja gesagt, ihr Aussehen wäre schuld gewesen, weil sie sich nicht richtig bewegt und angezogen hatte… war sie selber schuld? Gedankenverloren schaute sie auf ihre Bücher und Materialien in ihrer Hand. Sie musste zum Abendessen. Sie war jetzt hier. Es machte keinen Sinn, sich jetzt über die Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen. „Das macht nur unnötig Sorgenfalten!“, klang die Stimme von Adrian in ihrem Kopf. Sie lächelte ein wenig. Langsam legte sie die Bücher weg, lief zum Waschbecken und wusch sich die Tränen vom Gesicht, ehe sie nach unten ging.
Nach dem Abendessen blieben William und Mitras im Esszimmer sitzen und spielten eine Partie Dame. Kira sah interessiert zu, und spielte dann zunächst eine Runde gegen William und anschließend gegen Mitras, verlor aber beide Runden. Es war ihr egal. Sie wollte nicht allein oben im Zimmer sein und war dankbar, mit den beiden Männern zusammensitzen zu können. Nachdem sie drei weitere Spiele beobachtet hatte, gewann sie eines gegen Mitras, der ihr mit einem Lächeln gratulierte, das Kira das Gefühl gab, ihr Herz würde kurz einen Schlag aussetzen. Meistens sah ihr Mentor ernst und nachdenklich aus, oder müde und abgekämpft, doch wenn er lächelte, schien sogar in seinen eisblauen Augen ein kleines bisschen Sonne zu funkeln. Kira räumte den Spielplatz und beobachtete Mitras, wie er die nächste Runde mit William spielte. Er hatte ein feines Gesicht mit kantigen, aber nicht zu rauen Konturen, fand sie. Um den Mund herum gab es kleine Stoppeln, die ihr bisher nicht aufgefallen waren, vermutlich rasierte er sich täglich. Seine Haare waren braun, teilweise schwarz, etwa einen halben Finger lang und sorgfältig geschnitten. Eine kleine, etwas längere Strähne an der rechten Schläfe schien sich nicht an die allgemeine Ordnung halten zu wollen und rutsche ihm immer wieder in die Stirn, von wo er sie ab und zu mit einer flüchtigen Bewegung wieder nach oben schob. Kira überlegte, wie alt er sein mochte. Er sah gut aus, nicht eine weiße Strähne war zu sehen, also konnte er nicht viel älter als 45 sein. Er sah aber mehr wie 35 aus. Schade, dass er so selten lächelt, dachte sie. Mit diesem Lächeln könnte er bestimmt einige Frauen erobern. Warum war er eigentlich nicht verheiratet? Sie legte den Kopf auf den Tisch und beobachtete ihn von schräg unten, wie er konzentriert das Spielfeld betrachtete. Er war schlau, und ehrgeizig. Dass er den Einsatz des Elektrums als Waffe ablehnte, sprach dafür, dass er einen guten Charakter hatte und vernünftig war. Nur Narren wünschen sich Krieg, hatte ihr Vater stets gesagt, und in diesem Punkt hatte er sicher Recht gehabt. Sie dachte über die Beziehungen zum Könighaus nach. Ob sie auch irgendwann einmal den Palast von innen würde sehen können? Das würde ihr doch nie jemand in Bispar glauben. Veträumt lächelte sie vor sich hin. Die würden sowieso allerhand nicht glauben… Penisskulpturen. Sie grinste in sich hinein. William und Mitras spielten neben ihr, der Raum war warm, ruhig und friedlich. Langsam döste sie ein.
Am nächsten Tag setzte Mitras seine Forschungen fort. Kira war gestern Abend einfach am Esstisch eingeschlafen und ließ sich auch nicht mehr wecken. Mitras konnte ihr das auch nicht verübeln. Er hatte Abigail noch einmal gerufen und sie gebeten, ihm dabei zu helfen, Kira ins Bett zu bringen. Sie hochzubringen, war kein Problem. Er hob sie einfach mit einem Zauber an und brachte sie hoch. Der delikate Teil war es, sie in ihr Nachtzeug zu stecken. Mitras wollte sie nicht einfach in ihren normalen Kleidern schlafen legen. Er hielt sie waagerecht in der Luft und drehte sich um, während Abby sie umzog, damit auf keinen Fall der falsche Eindruck entstand. Obwohl er zugeben musste, dass der Anblick ihres Rückens im Spiegel hübsch gewesen war… Doch dass er so dachte, sollte niemand wissen. Seine Feinde würden Kira sicher gern als Angriffsfläche nutzen – entweder, um seinen Ruf durch den Schmutz zu ziehen oder indem sie ihr direkt Schaden zufügten. Nein, er konnte es sich nicht leisten, eine Frau interessant zu finden. Als Abby fertig war, legte er Kira im Bett ab und seine Haushälterin deckte sie zu.
Nun war bereits der halbe Tag vergangen. Nachdem er beim letzten Versuch mit Wärme gearbeitet hatte, war heute Veränderungsmagie dran. Telekinese hatte er durch den zerstörten Generator bereits beobachten können und er legte keinen Wert darauf, das zu wiederholen. Um keinen Schaden anzurichten, hatte er sich etwas einfaches ausgesucht. Ertastete man das Material magisch, konnte man kleine, einzelne Zellen im Material entdecken. Das war ihm beim Wandern der Wärme aufgefallen. Nun brachte er ganz bewusst einen Bereich am Mantel zum leuchten. Ein kleiner Lichtpunkt tauchte auf und strahlte weißes Licht ab.
Den restlichen Nachmittag behielt er den Zylinder im Auge, während er Notizen anfertigte und mit seinem Bericht anfing. Nach einer Weile fing das Licht an zu wandern, oder vielmehr zu springen. Innerhalb eines Lidschlages erlosch es an der einen Stelle und tauchte an einer benachbarten auf. Nach ein paar Sprüngen wechselte es plötzlich die Farbe, statt weiß leuchtete es nun gelb und während der nächsten Stunden sprang es weiter und wechselte immer wieder die Farbe. Zeitweise verschwand es auch ganz, aber ein Magie erkennen Zauber zeigte, dass es nur ins Innere gesprungen war.
Wie immer erschien Kira pünktlich und auch, wenn sie zwischendurch vom Zylinder abgelenkt wurde, war ihr Vortrag zur Physik wieder gut. Jedenfalls, was das allgemeine Verständnis anging. Sie konnte noch nicht mit Variablen rechnen, aber das hatte er schon erwartet. Er konnte ihr aber ansehen, dass sie das sehr belastete. „Machen Sie sich keine Sorgen, den Umgang mit mathematischen Formeln und wie wir damit Sachen in der Physik und auch in der magischen Forschung darstellen, werden Sie schon noch lernen.“, sagte er in einem möglichst aufmunterndem Tonfall. Ihre Rechenergebnisse bei den linearen Aufgaben waren wieder besser geworden und das Lob, dass er ihr dafür gab, baute sie sichtlich wieder auf. Gegen Ende konnte sie dann auch ihre Neugier nicht mehr unterdrücken und fragte nach dem Lichtpunkt. „Ich habe einen Punkt auf der Oberfläche zum Leuchten gebracht und nun wandert der Punkt durch so nicht sichtbare Strukturen im Material.“, antwortete er ihr. „Wenn Sie einen kleineren Zylinder oder eine andere Form verwenden und mehr als nur einen Punkt darauf leuchten lassen, könnten Sie Schmuck daraus fertigen.“, schlug sie vor. Er lachte und antwortete: „Ja, das ist keine schlechte Idee. Der Zauber wirkt allerdings nur ein paar Stunden und müsste eigentlich schon längst erloschen sein. Das Elektrum scheint auch nicht geeignet zu sein, dauerhafte Verzauberungen zu halten, leider. Nur Zauber die auf die Form wirken, die funktionieren seltsamerweise fast ohne Begrenzung. Aber alle anderen Verzauberungen verlöschen irgendwann.“ Und wie auf Kommando erlosch das Licht und ließ sich auch im Inneren des Materials nicht mehr erkennen. „Hmm, interessant, Telekinesezauber wirken kürzer als erwartet. Verwandlungsmagie dafür länger. Der Wärmezauber lag ungefähr im Rahmen.“, grübelte Mitras. „Was hat das zu bedeuten, Magister?“ „Das kann ich noch nicht sagen, aber es ist eine interessante Entdeckung. Gut, aber nun geht es erst einmal zum Essen und dann geht es für mich zum Generator.“
Kira folgte ihm zum Essen. Als sie heute morgen aufgewacht war, hatte sie sich zu ihrer Verwunderung im Bett wiedergefunden, sogar in Schlafsachen. William hatte ihr auf ihre Nachfrage, als sie um acht herunter ging, um sich Frühstück zu holen, erklärt, was passiert war. Abby hatte unter Kichern hinzugefügt, wie verschämt sich Mitras umgedreht hatte. Kira hatte eine Weile dadrüber nachgedacht, ob sie das gut oder schlecht finden sollte. Es war ziemlich gut, dass Mitras ganz offensichtlich Anstand und Manieren hatte, und sich bemühte, ihr nicht zu nahe zu treten. Sehr proffesionell, und es gab ihr auch ein Gefühl von Sicherheit, stellte sie fest. Obwohl Mitras ein attraktiver Mann war, war er ja immer noch ein Mann, und vielleicht hätte sie ihn durch etwas zu lose Bekleidung ebenfalls zu sehr reizen können. Sie wollte ihm nicht zur Last fallen. Da war aber auch ein Funken Bedauern in ihr. Sie war sich nicht sicher, ob sie Mitras ablehnen würde. Dieser Gedanke hatte sie zunächst ziemlich erschreckt und dann eine Weile vom Lernen abgehalten. Männer waren grob und gefährlich und nach allem, was sie über Sex wusste, war das für Männer eine angenehme und auch recht notwendige Angelegenheit. Bei Frauen hingegen hatte sie etliche Horrorgeschichten gehört – wenn man ehrlich war, eher belauscht – und nur einige gute Varianten. Ihre Mutter selbst hatte nie mit ihr über Sex gesprochen, nur ihr Vater, und der war dabei recht unsicher gewesen. Selbst die Lehrer in der Volksschule waren weniger am stottern gewesen. Kira amüsierte sich in der Erinnerung stets darüber. Sie hatte kein besonders intensives Verhältnis zu ihrem Vater, er war oft weg, und wenn er wiederkam, hörte er stets erst die Geschichten seiner Frau über sein „unmögliches Trollbalg“, ehe er mit ihr selber sprach. Außerdem nutzte er für ihr Verständnis den Stock oder einen Gürtel zu oft als Erziehungsmittel. Kira wusste, dass er sie durchaus auch manchmal verteidigte, dass auch die Tatsache, dass sie weiter zur Schule hatte gehen dürfen, auf dem Eingreifen des Vaters beruhte, aber herzlich konnte man das Verhältnis wirklich nicht nennen. Er war als Mann eben seinen Söhnen mehr zugetan, zumal diesen ja auch gesellschaftlich mehr Wert zugemessen wurde als einer Tochter, insbesondere einer, die aussah wie die allgemein verhassten Skir.
Kira betrachtete Mitras, Abby, Tobey und William, wie sie beim Essen saßen und sich unterhielten. Sie hatte sich bereits heute vormittag gefragt, ob ihre Vorstellung, alle Menschen in Albion würden die Skir hassen, vielleicht gar nicht richtig war. Keiner der drei und auch niemand sonst in der Hauptstadt wie die Händler oder Rieke hatte bisher dasselbe Misstrauen oder gar Abneigung gezeigt, dass ihr sonst entgegen schlug. Die Händler hatten ihr Haar ja sogar gelobt! Woran das wohl lag? Als alle mit dem Essen fertig waren, nahm sie ihren Mut zusammen und wandte sie sich an Mitras: „Magister, ich habe eine Frage.“ Mitras schaute sie neugierig an und nickte, auch die anderen wandten sich ihr zu. „In Burnias werden Skir oft angespuckt oder verachtet. Es gibt dort auch wenige mit solchem Aussehen… also, wie ich… zumindest nicht in den Dörfern um Lührenburg, erst in Libekke oder so, habe ich gehört. Hier in Uldum werde ich zwar angesehen, aber es ist weniger verächtlich. Ihr habt nicht mal gezuckt, als ihr meine Haare gesehen habt. Kennt man die Skir hier nicht?“ Eine Weile herrschte verblüfftes Schweigen am Tisch. Dann redeten sowohl Abigail als auch Mitras gleichzeitig. „Warum sollte man die Skir hassen?“, fragte Abby, während Mitras empört sagte: „Jemanden wegen seines Aussehens zu verachten, ist falsch!“ Kira war verblüfft und beschloß, auf Abbys Frage zu antworten: „Na, weil sie uns überfallen und uns das Land wegnehmen, grausam und brutal sind.“ Mitras schaute sie scharf an. „Kira, wenn man ganz ehrlich ist, haben WIR den Skir ihr Land weggenommen, nicht umgekehrt. Das, was Sie da sagen, klingt für mich nach ziemlichen Vorurteilen, die einer Dame eigentlich nicht gut anstehen.“ Kira öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Natürlich wusste sie, dass das in den Nordkriegen eroberte Land den Skir gehört hatte. In Libekke gab es auch noch viele Skirfamilien, aber sie war selbst noch nie dort gewesen. Aber das restliche Land, besonders das, was nun zum Distrikt Burnias gehörte, war vorher kaum besiedelt gewesen. Die Skir waren eben unzivilisierte Jäger, die mit dem fruchtbaren Land wenig anfangen konnten, oder etwa nicht? Sie dachte nach. War das, was sie in der Schule und im Dorf gehört hatte, vielleicht falsch? Zumindest nicht ganz richtig, erkannte sie. Es musste Skir in Burnias gegeben haben, sonst wäre das Gebiet nicht „in den Nordkriegen erobert“ worden. Wo waren die vor 150 Jahren geblieben? Sie hatte sich das nie gefragt. Skir waren die Feinde, und sie sah einfach aus wie der Feind, so war es ihr ganzes Leben gewesen. Sie schaute Mitras an. „Entschuldigt, Magister. Ich wollte nicht unangemessen sein. Es ist nur… ich habe bisher nie erlebt, dass viele Menschen die Skir anders sehen.“ Oder mich, fügte sie in Gedanken hinzu. Eigentlich waren Bruder Harras, ihr Bruder Adrian und ein bisschen ihr Vater die einzigen gewesen, sie sie nicht als Feind betrachtet hatten. Also hatte sie die Skir als Feinde betrachtet, als diejenigen, weswegen sie leiden musste. Sie schaute zu Boden. Etwas in ihr bröckelte. War es falsch gewesen? Die Reaktion von Abby und Mitras zeigte ihr ja deutlich, dass die Sicht auf die Skir als verachtete Feinde hier zumindest nicht üblich war. „Die Gegenden im Norden sind oft von Siedlern aus Berg und der restlichen Ostküste besiedelt worden, die seit Jahrhunderten unter einzelnen Skirangriffen leiden „, sagte William versöhnlich. Mitras nickte und ergänzte: „Lesen Sie mehr darüber, wenn Sie das nächste Mal Geschichte lernen. Ich habe in unserer Hausbibliothek auch einige Werke speziell zu Handel und Krieg mit den Skir, glaube ich. Es wäre verständlich, dass in den nördlichen Provinzen die Skir oft als Feinde dargestellt werden, es ist sogar vielleicht politisch gewollt. Aber die Menschen vergessen zu schnell, dass auf einen Überfall auch immer zehn gute, Reichtum bringende Handelsfahrten kamen, egal ob es um Rhodestaria, Skir oder Astellia geht.“ Geschichte wird von den Siegern geschrieben, fiel Kira die Aussage von Harras wieder ein, und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, diese Aussage ein bisschen zu verstehen. Sie schaute auf ihre Hände, die sie unbewusst im Schoß verkrampft hatte. Hieß das auch, dass all die Beleidigungen, all die Missgunst, die die anderen sie hatten erleben lassen, gar nicht natürlich war, sondern ein Fehler, ein Vorurteil? Sie hatte das Gefühl, etwas in ihrem Inneren würde gleich reißen. Die Skir waren nicht immer böse. Sie war nicht der Feind. Sie war nicht … wirklich nicht schuld? In ihr tobte ein Sturm an Gefühlen, Wut, Verzweiflung, Unglaube, Ärger, Ärger über sich selber… warum hatte sie so einen Gedanken nicht vorher gehabt? Wenn sie nun darüber nachdachte, hatte Bruder Harras sogar öfters Dinge gesagt, die eigentlich dasselbe andeuteten – weder war Kira böse, noch waren es die Skir. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schoßen. Was war sie nur für ein dummes Dorfkind. Scham mischte sich in das Gefühlschaos. Sie schluckte. „Wenn ihr mich entschuldigen würdet…“ Sie stand auf, knickste kurz und ging hinaus, eilte fast in ihr Zimmer und vergrub sich unter den Decken. Dann kamen die Tränen. Erst langsam, dann immer mehr. Sie weinte, weinte über ihre Herkunft, ihr Aussehen, über diese andere Welt hier, die ihr die Fehler der alten Welt so klar vor Augen hielt, weinte über sich und ihre eigene Dummheit, weinte vor Erleichterung, vor Wut, vor Trauer. Später hörte sie Abby und Mitras auf dem Flur sprechen und vergrub sich noch tiefer in den Kissen, wollte nicht mit ihnen reden oder sich erklären, aber es kam niemand herein, und sie war dankbar dafür.
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