Der Geschmack von Angst – 25. Lunet 242 (Uldumstag)

Am nächsten Morgen konnte Kira beim Frühstück beinahe nichts essen, so aufgeregt war sie. Sie hatte gestern gemeinsam mit Mitras erneut den Generator geladen, und wieder waren sie nach etwa einer dreiviertel Stunde mit dem gesamten Prozedere durch gewesen. Auch diesmal hatte sich das Sammeln der Magie beinahe wie zeitlos angefühlt, und Kira hatte sogar das Gefühl gehabt, das leise Waldrauschen, dass sie während des Kanalisierens gehört hatte, hätte noch beim Schlafen gehen in ihren Ohren geklungen. Vermutlich war das auch der einzige Grund gewesen, warum sie überhaupt hatte einschlafen können.

Mitras sah sie schmunzelnd an, als sie nervös im Zirkel vor ihm stand und die Hände knetete. „Gut, Kira, wir beginnen erstmal mit Übungen zum Kanalisieren. Nervös sein ist normal, aber keine Sorge, bei deinem Potential wird dir das Zaubern nicht schwer fallen.“ Er schien nicht ganz von seinen Worten überzeugt zu sein, aber Kira spürte dennoch wie sie sich etwas entspannte. „Hast du dir eine Form überlegt?“, fragte ihr Mentor, während er seine Geräte justierte und aktivierte. „Ähm, ja, also, ich dachte ein Krug vielleicht? Einen einfachen, ohne Henkel? So wie das Glas an meinem Nachttisch?“ Eigentlich hatte sie sich bis heute morgen überhaupt nicht mit sich selbst einigen können und der Vorschlag war eher aus der Verzweiflung entstanden, irgendwas zu brauchen, doch zu ihrer Erleichterung nickte Mitras. „Gut. Dann setz dich. Wir wollen eine kleine Menge Magie. Zieh sie dir heran und halte sie.“ Kira setze sich, konzentrierte und sammelte die Engergie. Der erste Atemzug war zu angespannt, und sie spürte selbst, dass die Menge wohl gereicht hätte, einen komplett neuen Verjüngungszauber zu wirken. „Eine KLEINE Menge.“, mahnte Mitras. Kira spürte, wie ihre Unsicherheit stieg und ihre Wangen rot wurden. „Entschuldige.“, murmelte sie und ließ die Magie aus sich fließen. Konzentriert schaffte sie es nach zwei weiteren Versuchen, die von Mitras gewünschte Menge in sich zu halten. Er ließ sie die Magie halten und wahrnehmen, dann lösen und wieder neu diesselbe Menge heranziehen. Die Magie floß durch sie hindurch und hinterließ einen Geschmack von Karamellbonbons auf ihrer Zunge. Nach einer halben Stunde und etlichen Wiederholungen hatte sie das Gefühl, den Waldboden ihres Lieblingsortes im Moor riechen zu können und wurde endlich auch ruhiger.

„Gut. Dann konzentriere dich jetzt auf den Ton vor dir.“ Mitras, der seitlich neben ihr saß, deutete auf den Tonklumpen vor ihnen. „Lass die Magie in den Ton fließen. Lenke den Fluß mit deinen Händen. Denke daran, wie es aussehen soll. Und wenn du sprichst, lass die Magie los.“ Kira nickte. Die Aufregung stieg wieder sprunghaft an. Sie zog die Magie in sich, hob die Hände, sah den Klumpen Ton an… ein Krug… sie spürte die Magie in ihren Armen…der Geschmack auf der Zunge wurde beißender…plötzlich überrollte sie ein Gefühl von Ekel. Die Magie fühlte sich an wie Hände. Auf ihren Armen. An ihrer Brust. Hände, die sie nicht wollte. Scharfer Geruch von etwas Verbranntem erfüllte ihre Nase. Etwas knallte und sie drehte sich würgend zur Seite, hatte das Gefühl, ihr Innerstes würde nach außen gekehrt werden, während sie wieder in der Scheune stand, wieder ihm ausgeliefert war…

„Gut. Dann konzentriere dich jetzt auf den Ton vor dir.“ Mitras gab ihr noch eine Reihe weiterer Anweisungen, während er sich voll auf seine magischen Sinne konzentrierte. Er sah den Energiefluss. Sie hatte nun die richtige Dosierung gefunden und er sah an ihrer Aura, dass sie zwar aufgeregt war, sonst aber alles stimmte. Sie hatte die Menge gut unter Kontrolle und begann mit dem Zauber. Die Magie begann, in ihre Arme und Hände zu fließen. Sofort spürte Mitras, dass etwas nicht stimmte. Schlagartig veränderte sich ihre Aura, nackte Panik, die schnell von ihr Besitz ergriff. Um den Zauber noch zu unterbrechen war es schon zu spät, mit einem schmatzenden Knall explodierte der Tonklumpen und verteilte sich über das Labor. Wie durch ein Wunder wurde keines der Geräte umgeworfen, aber im Probenregal zersplitterte irgendwas. Im gleichen Moment durchfuhr ihn ein dumpfer Schmerz, ein Klumpen hatte ihn am Bauch getroffen und ihm die Luft aus den Lungen getrieben. Halb benommen ließ er sich in Kiras Richtung fallen, um die Magie, die sie gerade wieder sammelte, abzulenken. Merkbar benebelt wirkte er rasch einen defensiven Zauber, einen Schild, der das gröbste abfangen sollte. Er bekam Kiras Handgelenk zu fassen und zog recht grob die Magie aus ihr heraus, was sie mit einem schrillen Schrei und einem erneuten Sammeln weiterer Magie quittierte. Anhand ihrer Aura sah er klar, dass sie ihn angreifen würde, sie wirkte komplett von Sinnen. Mühsam um Atem ringend rief er: „Kira, ich bin es.. Mitras!“ Sie griff mit der zweiten Hand nach seinem Arm, versuchte, ihn wegzudrücken und kreischte: „Nein! Ich will das nicht!“ Er ließ los. „Kira! Kira! Es ist alles in Ordnung! Was willst du nicht?“

„Kira!“ Jemand rief ihren Namen. Jemand, der ein Freund war. Sie blickte auf. Mitras saß vor ihr. Mitras. Ihr Mentor. Sie blinzelte. An seiner Wange war eine Schramme und er hielt sich die Magengrube. „Oh, Geister!“ Hatte sie ihn verletzt? Schon wieder jemanden verletzt? Sie griff nach der Hand, mit der er sich neben ihr auf dem Boden aufstützte. „Mitras. Magister. Oh…“ Sie spürte, wie die Übelkeit nochmal wie eine Welle über sie rollte und krümmte sich zusammen. Er griff nach oben und hielt sie an den Schultern fest. „Was ist passiert?“ Sie keuchte, rang um Luft und Worte. Dann ließ sie sich gegen ihn sinken. Mitras. Sein Geruch hüllte sie ein, vertrieb den Geruch nach verbanntem Karamell, der ihre Übelkeit verstärkt hatte. Sie war in Sicherheit. Er hatte gefragt, was passiert war. Er war der erste, der sie wirklich gefragt hatte. Ein Freund. Mit leiser Stimme begann sie zu erzählen.

„Es war der Geburtstag von unserem Bürgermeister. Alle waren eingeladen, sogar ich. Und alle sind gekommen, auch aus den Nachbarsdörfen und auch die Adeligen aus Lührenburg und Hagen und so, die immer kommen, wenn es Met gibt und gutes Fleisch. Weiß jeder. Ich hab’s nicht gewusst. Ich hatte mein Winterkleid an, das ist mit Pelz besetzt, und unsere Festhalle ist warm. Ich hab Met getrunken, mit mir reden wollte eh niemand so richtig, Adrian war nicht da und Bruder Harras muss auf solchen Festen immer mit allen reden. Und mir war so warm…“ Sie verstummte kurz und schaute auf Mitras Hand, die ihre hielt, ehe sie stockend weiter sprach: „Ich… ich bin nach draußen gegangen, zur Scheune. Es war so warm… Ich hab… ich hab… mein Kleid aufgeknöpft. Ich wollte nur abkühlen. Ich hab nachgedacht, ob ich nach Hause gehen soll. Und als ich zur Tür gegangen bin, stand einer von den Adeligen da. Johann. Ich wusste seinen Namen, weil die anderen Mädchen über ihn gesprochen haben. Ich hab mein Kleid zugehalten und wollte an ihm vorbei…“ Sie stockte wieder. Sie hätte sich wegdrehen sollen, sich erst wieder richtig anziehen sollen. Mitras Hand umfasste ihre fest. Sie schaute auf seine Finger, warm und beschützend über ihre Hand gelegt. „Er hat mich gegriffen. Mich festgehalten. Und gesagt, ich solle mal zeigen, was ich da habe. Ich wollte nicht. Aber…“ Sie blickte Mitras schräg von unten an, ängstlich. Würde er verstehen, warum sie sich nicht einfach losgerissen hatte? „Du bist in Sicherheit, dir kann hier nichts passieren.“ Er löste den Griff um ihre Schulter etwas, wich aber nicht zurück. „Er ist adelig. Und ich nicht. Er…“ Sie schluckte und flüsterte die nächsten Worte. „Er hat meine Hand beiseite geschoben und meine Brust angefasst. Ich hab versucht mich zu drehen, weg, aber er war stark, und hat um mich gefasst. Es hat wehgetan. Und er… er hat gesagt, wenn ich stillhalte, wird es mir gefallen… aber es hat mir nicht gefallen. Und dann… dann… er hat… mit der Hand meinen Rock gegriffen, hier…“ Sie deutete mit der Hand an, wie Johann ihr den Rock fast bis zum Schritt hochgezogen hatte. „Und ich hab so Panik bekommen. Ich wollte nicht. Ich hab noch nie mit einem Mann geschlafen. Ich wollte nicht. Und irgendwie war da plötzlich ein Knacken und Knistern wie Feuer und es hat irre nach verbranntem Karamell gerochen so wie jetzt und ich wollte seine Hand wegziehen und dann hat er geschrien und losgelassen und ich bin gerannt, einfach nur gerannt und er hat geschrien, bis ich beim Waldrand war konnte ich ihn hören. Ich hab noch nie jemanden so schreien hören, das war fürchterlich.“ Die Tränen liefen ihr in Strömen über die Wangen. Sie hatte nicht geweint seit der Nacht, in der sie sich an ihre Eiche gelehnt hatte, verkrochen in ihre Wurzelhöhle, und geweint hatte, bis sie keine Tränen mehr in sich fühlte. Jetzt schien es, als sei der Damm erneut gebrochen und sie schluchzte und schniefte und krallte sich dabei an Mitras Robe und Oberkörper fest. Seine Hand strich über ihren Rücken. Sie hatte das Gefühl, er wäre wütend, aber als sie nach einem kleinen Moment nach oben sah, war sein Gesicht so unbewegt wie immer. „Als ich später nach Hause gekommen bin, war niemand da. Ich bin in mein Zimmer gegangen. Am nächsten Morgen war es von außen abgeschlossen, und Bruder Harras war da, er hat vor der Tür gewartet, dass ich aufwache. Er hat mir gesagt, dass ich starke Magie gewirkt habe, böse, doch eine Hexe, aber ich bin keine Hexe und dass ich jetzt zur Gilde gehen werde. Ich hab Johann den Arm verdreht, die Kochen und die Muskeln, und niemand weiß, ob die Gildenmagier das wieder hinbekommen, aber sie versuchen es. Und er hat sich entschuldigt, dass er nicht aufgepasst hat, aber es war ja gar nicht seine Schuld…Meine Mutter war dagegen, dass ich weggeschickt werde, ich glaube, sie wollte mich lieber verbrennen oder so… auf jeden Fall hat sie das zu ihm gesagt. Gebrüllt. Und er hat ihr zugesprochen. Naja. Nachher hat sie ja Gold von dem Magier bekommen, der mich abgeholt hat, und dann war es ihr egal oder so. Und der Magier hat auch gesagt, die Heilung sei geglückt, aber das ich ziemlich gefährlich sei, zu unkontrolliert…“ Mitras hielt sie fest, und obwohl seine Umarmung etwas schützendes, tröstendes hatte, spürte sie auch deutlich, dass er wütend war. Kira sackte noch ein Stück mehr in sich zusammen.  „Es tut mir leid. Ich hab den Zauber nicht hinbekommen. Ich hab es wieder nicht kontrolliert.“ Bestimmt würde er sie zurückschicken. Sie wollte nicht zurück.

Sie wäre beinahe vergewaltigt worden und ihre Mutter dachte allen Ernstes nur daran, sie als Hexe verbrennen zu lassen! Innerlich tobte es in Mitras. Wäre auch nur eine der beiden Personen, Johann oder ihre Mutter hier, er wüsste nicht, was er ihnen antäte. Für die beiden war es sehr gut, außer Reichweite zu sein. Er versuchte sich zu beruhigen, das war jetzt nicht wichtig und konnte warten. Er musste sich wieder unter Kontrolle bekommen und sich um Kira kümmern. Sie hatte Schreckliches erlebt und der Zauber hatte sie komplett auf diese Ereignisse zurück geworfen. Kein Wunder, dass er so aus dem Ruder gelaufen war. „Kira, alles ist gut. Hier bei uns bist du sicher. Keiner wird dir etwas zu leide tun, solange ich es zu verhindern weiß. Mach dir über den Zauber keine Gedanken. Es ist nicht deine Schuld, dass er schief gelaufen ist. Magie wird stark von Emotionen beeinflusst und nach den Erlebnissen konnte das nichts werden. Du hast dem Mistkerl nichts angetan, jedenfalls nichts was er nicht auch absolut verdient hätte. Du hast ihn nicht angegriffen, du hast dich verteidigt. Und das mit Recht. Dieser Bastard sollte nun eigentlich in einem Kerker schmoren, ohne, dass ihn jemand wieder heilt.“ Mitras war außer sich. Einen Moment lang überlegte er, ob es nicht völlig unpassend war, dass er – ein ja doch eigentlich auch fremder Mann – sie anfasste. Auf der anderen Seite schien sie sich geradezu an ihm festzuhalten. Er ließ dennoch die Hand sinken, mit der er eben noch ohne darüber nachzudenken ihren Rücken gestreichelt hatte. Sie schniefte erneut. „Aber wenn ich nicht zaubern kann, kann ich doch auch nicht bleiben…“ „Da mach dir mal keine Sorgen drum. Du hast so ein großes Potential. Und jede Magieform fühlt sich anders an. Verwandlungsmagie ist jetzt negativ für dich behaftet. Das nennt man ein Trauma, daran müssen wir arbeiten, aber wenn du es überwinden kannst, dann kannst du auch Verwandlungsmagie anwenden. Erst einmal machst du jetzt ein paar Tage Pause. Du bist ja komplett fertig, und das ist ja auch verständlich. Danach werden wir es erst einmal mit Telekinese versuchen. Aber bis Miras wirst du dir erstmal frei nehmen und dann liest du dich ein bisschen in die Schule der Bewegung ein und wir besprechen am Abend, wie wir in der Woche weiter vorgehen.“

Er schickte sie nicht weg. Sie spürte unglaubliche Erleichterung. Sie bekam eine zweite Chance. Telekinese. Diesmal würde sie sich besser kontrollieren, nicht die Erinnerungen überhand nehmen lassen. Sie versuchte, ihn zaghaft anzulächeln. Die Schramme an seiner Wange war gar keine Schramme, sondern eine Spur vom Ton. Er hatte Ton auf der Robe und sie hatte sie nass geheult. Verlegen schaute sie sich um. Der Ton war überall im Raum. Aus dem Reagienzenregal rieselte feiner Staub aus einem zerbrochenen Glas zu Boden. „Oh, bei den Geistern.“ Verzweifelt blickte sie das Chaos an. Die Übelkeit ließ langsam nach. „Keine Sorge, das bekomme ich schnell wieder sauber.“ Mitras war ihrem Blick gefolgt. „Aber, sollte ich das nicht machen?“ Sie wischte mit der Hand über eine Tonspur auf dem Boden vor ihr, doch das vergrößerte den Fleck nur. Mitras griff ihre Hand. „Du ruhst dich jetzt aus und machst gar nichts mehr.“ Kira spürte deutlich seine Wut, auch wenn er sich bemühte, sie nicht zu offen zu zeigen. Betroffen ließ sie die Schultern sinken. Was nutzt alles Potential, wenn man es nicht nutzen kann. Was für eine schreckliche Schülerin sie nur war – ein fürchterliches Chaos hatte sie da angerichtet. Kein Wunder, dass er wütend auf sie war. Und trotz alledem bemühte er sich noch, freundlich zu bleiben und sie zu schonen. Es tat ihr fast körperlich weh, nicht selbst ihre Verfehlungen wieder wegzuputzen, aber sie stand gehorsam auf, verabschiedete sich leise und ging in ihr Zimmer. Dort zog sie die Robe aus, ihren Schlafanzug an und ließ sich aufs Bett sinken. Die Tränen waren wieder versiegt, doch sie fühlte sich völlig leer und verzweifelt. Nach einer Weile sammelte sie sich, holte sich das Buch zur Einführung in die Magie und begann, das Kapitel zur Telekinese zu lesen. Am Mirastag durfte es nicht noch einmal schief gehen!

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