Am Uldumstag ging Kira zuerst zu Clopenbargs und kaufte die Fliege, die ihr schon bei ihrer ersten Einkaufstour aufgefallen war. Sie kam sich fürchterlich reich vor, als sie die 10 Silber aus dem Geldbeutel abzählen musste – Mitras hatte ihr den „Lohn“ für das Generatorladen von Abby auszahlen lassen und zum ersten mal in ihrem Leben war ihr Geldbeutel sogar prall gefüllt, obwohl sie einige der Münzen zuhause gelassen hatte. Sie bummelte durch die Stadt und entdeckte in einem Schaufenster, dass es hier einen Laden speziell für Buntstifte und Papier gab. Sehnsüchtig bestaunte sie den großen Kasten mit 120 verschiedenen Farbtönen, der im Schaufenster ausgestellt war. Er kostete allerdings auch 10 Gold. Dafür warb das Plakat neben den Stiften damit, dass sie „sehr geeignet auch für Farbmagie“ waren, und sie fragte sich, wie das wohl funktionierte. Ob sie sowas lernen konnte? Gehörte es zur Schule der Verwandlungsmagie? Sie beschloß, Mitras bei Gelegenheit zu fragen. Nach einem weiteren Moment des Zögerns traute sie sich letztendlich auch, den Laden zu betreten. Wie vermutet führten sie auch kleinere Pakete an Stiften, und sie kaufte für 5 Silber einen kleinen Packen und für weitere 5 Silber einen Block edles Zeichenpapier.
Sebastian und sie trafen sich im Café, und sie präsentierte stolz ihre Einkäufe, woraufhin er sie ein wenig auslachte – er fand ihr Erstaunen über so viel Geld „ausgesprochen niedlich“, wie er sagte. Sie verbot ihm daraufhin, ihr den großen Stiftekasten zu kaufen, was er lachend zusagte. Gemeinsam mit ihm schrieb sie auf einem der Bögen in abwechselnd bunten Farben einen neuen Brief an Adrian, in dem sie ihm Geschichten über das Königshaus erzählte, die Sebastian ihr diktierte. Leider konnte sie nicht gleich zur Post gehen, erst musste Mitras das Paket zuhause versiegeln. Dennoch genoß sie den Tag sehr und hatte wirklich das Gefühl, dass sie sich immer mehr wie eine junge Lady benahm. Sie fragte sich, wie sie all das gute Karma, dass das Leben gerade über sie schüttete, jemals ausgleichen sollte.
Gegen späten Nachmittag brachen sie wieder auf. Das Wetter war immer noch kalt, aber sehr sonnig, und Sebastian bot ihr an, mit ihr die Hauptstraße hinauf zu laufen, statt eine Kutsche zu nehmen, um die Sonne zu genießen. „Ich hörte von meinem Bruder, dass das Wetter bald wieder schlechter wird.“ Erstaunt hatte Kira sich erklären lassen, dass die Elementarmagier, zu denen auch sein Bruder gehörte, die Veränderungen in der Luft sogar einige Tage im Vorraus spüren konnten. Starke Magister könnten sogar das Wetter lokal beeinflußen, berichtete Sebastian und Kira grübelte, warum dann nicht immer zur Erntezeit Magier das Wetter anpassten, damit das Heu nicht nass wurde. Darauf wusste Sebastian allerdings keine andere Antwort außer der Vermutung, dass es zu teuer sei und das bisschen Heu ja auch so in die Scheunen käme, was Kira mit einem gemurmelten „Stadtschnösel“ quittierte. Er ignorierte das, oder hatte es nicht gehört, das war vermutlich auch besser. Stattdessen erklärte er ihr, während sie über die Avensbrücke liefen, was für neue Manufakturen es bei den Handwerkerhäusern gab, auf die sie zugingen. Der Wind strich über das Wasser und Kira zog ihren Mantel etwas enger an sich. Das grüne Kleid, das sie heute trug, war ja sehr hübsch, aber Abby hatte es defintiv nicht für einen Spaziergang im Winter gedacht. Plötzlich hörten sie vor sich Schreie und Hufgetrappel, und durch ihre etwas erhöhte Position auf der Brücke erfassten sie rasch, welch ein Unglück sich vor ihnen ereignete. Eine kleine Droschke mit nur einem Pferd davor schlingerte auf der Hauptstraße entlang, drohte jeden Moment zu kippen. Der Kutscher war nirgends zu sehen, doch das Pferd war eindeutig in Panik und stürmte auf die Brücke zu. Mit einem raschen Blick erfasste Kira die Gefahr: Die Brücke war breit, aber statt mit glatten, großen Steinen war der Boden dort mit kleinen Pflastersteinen ausgelegt, die sich den leichten Bewegungen einer Brücke besser anpassen konnten. Durch den kalten Wind vom Wasser her war das Pflaster relativ glatt. Das Pferd würde in diesem Tempo möglicherweise ausrutschen, auf jeden Fall aber würde der unebene Grund die Kutsche noch mehr kippen lassen. War noch jemand darin? Ja, sie glaubte eine Bewegung zu sehen. Ohne lange zu überlegen lief sie einige Schritte nach vorne, an den Rand der Brücke und hob die Arme, wie sie es schon einige Male getan hatte, um das Pferd zu stoppen. Durchgehende Pferde waren keine Seltenheit, und Adrian hatte mit ihr geübt, wie man in so einem Fall handeln musste, um die Handelsfracht retten zu können. „Brrrrr!“ Das Pferd scheute kurz, gut, jetzt war es neben ihr, sie griff in die Zügel, brrr, ruhig, ruhig atmen, ein bisschen spürte sie plötzlich Magie in sich, Konzentration, ruhig… ruhig, mitlaufen, nicht hinfallen, ruhig… sie fing sich ab, einige Schritte noch, dann stand das Pferd. Sie kraulte seinen Hals, ganz konzentriert, damit es sich nicht gleich wieder losriss. Um sie klangen Stimmen, sie hörte Schritte, dann berührte sie jemand an der Schulter und sie blickte zur Seite. Es war Sebastian. Jemand anderes griff die Zügel des Pferdes und Kira ließ sich von einem sichtlich aufgeregten Sebastian einige Schritte zur Seite ziehen. Dabei stolperte sie und wurde von ihm aufgefangen, ein Blick nach unten zeigte ihr auch rasch warum: Ihr Rock war zerrissen und flatterte in Fetzen um ihre Beine. So ein Kuhmist. Das schöne Kleid! „Was sollte denn das?“, schimpfte Sebastian, kaum dass sie einige Meter vom Pferd weg waren. „Was fällt dir ein, dich einem Pferd in den Weg zu stellen?“ Kira sah ihn verblüfft an. „Naja, ich wollte es aufhalten?“, fragte sie vorsichtig. Warum regte er sich so auf? „Das kann doch der Kutscher machen oder ein Bediensteter oder, bei den Geistern, auch irgendein Mann! Guck dich doch an, dein Kleid ist zerrissen, wie siehst du aus! Ich dachte, du wolltest dich wie eine Dame verhalten!“ Verdutzt sah Kira ihn an. Der Wind bauschte den zerrissenen Rock auf und sie griff rasch nach unten, um ihre Beine bedeckt zu halten, und lief rot an. Es stimmte schon. Da waren eine Menge Leute um sie herum, und wirklich angezogen sah sie jetzt nicht mehr aus. Auf jeden Fall nicht wie eine adelige Dame. „Ich… ich wollte nur helfen…“ „Helfen ist gut, aber so ein Pferd ist doch gefährlich! Das hätte dich bis sonstwo schleifen können!“ Zustimmendes Nicken von dem Mann, der das Pferd hielt. Sebastian zog seinen deutlich längeren Mantel aus und hielt ihn ihr hin. Kira nahm ihn und zog ihn an, was ihr einen Moment gab, sich zu sammeln. Etliche Leute um sie herum tuschelten, zwei halfen einer alten Dame aus der Kutsche, die ganz offenbar sehr mitgenommen, aber unverletzt war. Wenigstens hatte sie das Kleid nicht umsonst zerrissen. Und es war ja nicht ihr erstes zerrissenes Kleid, dachte sie, wenn auch das teuerste. „Das hätte mich nicht bis sonstwo geschliffen.“, sagte sie leise zu Sebastian. „Glaubst du, das war das erste Pferd, was ich gestoppt habe?“ Sebastian schüttelte den Kopf. „Nein, aber das erste, bei dem du als junge Magierin von der ganzen Stadt beobachtet wirst. Du machst dich zum Stadtgespräch, ehe du überhaupt die erste Prüfung abgelegt hast.“ Kira zischte: „Na und? Ich war auch schon Dorfgespräch, bevor ich sprechen konnte!“ Verägert drehte sie sich um und lief über die Brücke zurück. Wahrscheinlich war Julius noch irgendwo dort. Auf einen weiteren Spaziergang war ihr auf jeden Fall jede Lust vergangen. Die kleine Menge machte ihr sofort Platz, und nach nur wenigen Schritten rief Sebastian ihr hinterher: „Warte! Kira, warte, das war nicht so gemeint!“ Er lief hinter ihr her und holte sie auf der Mitte der Brücke ein. „Warte, sei nicht böse, entschuldige. Du hast ja Recht, es war gut, das Pferd zu stoppen. Eigentlich hätte ich das machen müssen.“ Kira sah ihn von der Seite an, blieb aber nicht stehen. „Bitte, Mylady Silva, Verzeihung.“ Er machte eine Verbeugung im Laufen, was ziemlich albern aussah und ihr ein kurzes Lächeln abrang. „Ah, guck, ein Sonnenschein. Verzeih meine harschen Worte, ja? Ich kauf dir ein neues Kleid, wenn du erlaubst. So kannst du wohl kaum zu deinem ganz wundervollen Magister nach Hause kommen.“ Kira blieb stehen. Dieser Schnösel machte sie mehr fertig als das Pferd! Sie kämpfte mir ihrer Wut. Wahrscheinlich hatte er Recht. Erstens war sie eine Frau, von denen erwartete man ja sowieso, dass sie zart und hübsch waren, und zweitens wollte sie ja eigentlich wirklich lernen, sich wie eine adelige Frau zu benehmen – alles andere brachte Mitras vermutlich Ärger ein, und das wollte sie nicht. Und wenn sie mit zerrissenem Kleid nach Hause kam, würde das vermutlich eine Menge Ärger geben. Selbst wenn der Ärger wahrscheinlich nur ein Bruchteil dessen war, was ihre Mutter veranstaltet hatte, wenn sie ein Kleid zerrissen hatte. Sie sah Sebastian an. Der konnte es sich leisten. Hatte er sie vorhin nicht noch wegen des Geldes ausgelacht? „In Ordnung. Bei Peeks.“ Sebastian richtete sich auf, strahlte sie an und ergriff ihren Arm. „Selbstverständlich, Mylady.“ Kira verdrehte die Augen, ließ sich aber von ihm zum Laden begleiten.
Bei Peeks erfuhr sie dann, dass Sebastians Vorliebe für schöne Frauen offenbar noch übertroffen wurde durch seine Leidenschaft für schöne Kleider. Er wirbelte durch den Laden und zog ein Kleid nach dem anderen hervor. War Kira beim ersten Besuch schon überfordert gewesen, kam sie sich nun wie eine Ankleidepuppe vor. Auch die Verkäuferin, die beim ersten Besuch höflich und zuvorkommend wirkte, hatte sich bei seinem Eintreten beinahe bis zum Boden verbeugt und sprühte nun beinahe vor Eifer. Sogar die neuesten Stücke aus dem Lager brachte sie nach vorne. Ohne, dass Kira viel dazu sagen konnte, lagen bald vier Kleider vor ihr, die Sebastian als „tragbar“ bezeichnete, und eines fand sie schöner als das andere. „Welche gefallen dir?“ Kira sah die vier Kleider an. Das eine war grün wie das, was zerrissen war, und es bestand auch aus Rock und Oberteil. „Das dort wäre doch ein guter Ersatz.“ Sebastian kniff die Augen zusammen. „Ja, stimmt, aber das mit dem grünen Muster hier“ , er deutete auf das entsprechende Kleid, das durch einen Aufdruck von verschieden hellen Blättern einen atemberaubenden Farbverlauf hatte, „ist schon etwas hübscher, findest du nicht?“ Kira nickte leicht: „Ja, schon, aber ich kann ja nicht immer aussehen, als ginge ich gerade zu einem Empfang.“ Nachdenklich wiegte Sebastian den Kopf, schob nochmal eines der anderen Kleider zur Seite. Dann zuckte er mit den Schultern. „Stimmt schon. Offenbar brauchst du ja auch Kleider zum wilde Pferde zähmen. Dann nehmen wir halt beide. Und den Rock von dem einfachen da kannst du ja gleich anbehalten.“ Kira wollte protestieren, schluckte den Protest dann aber herunter. Er hatte Geld. Und das Kleid war wirklich schön. „Danke.“ Sebastian lächelte sie an. „Gerne. Tut mir echt leid, dass ich vorhin erstmal so geschimpft habe. Eigentlich erinnerst du mich an meine Mutter. Sie hätte sowas auch gemacht. Aber ich weiß auch, wie viele Schwierigkeiten sie deswegen ständig hat. Danke, dass du mein Geschenk annimmst. Jetzt fühle ich mich nicht mehr ganz so unnütz.“ Verblüfft über seine Ehrlichkeit schaute Kira ihn an, aber er meinte es wirklich so. Er trägt sein Herz auf der Zunge und ist doch völlig verschlossen, stellte sie erstaunt fest. Auf jeden Fall war es spannend, mit ihm unterwegs zu sein, und scheinbar auch nützlich, schmunzelte sie, während die Verkäuferin die Bezahlung entgegen nahm und anfing, alles bis auf den neuen Rock einzupacken.
Am Vormittag des nächsten Tages war Mitras gerade mit der Vorbereitung eines Zaubers beschäftigt, den er am Elektrum ausprobieren wollte, als es an der Labortür klopfte. „Herein.“ rief er und erwartete schon halb, dass Kira eintreten würde, um irgendeinen Spruch zu trainieren. Als er sich jedoch zur Tür umdrehte, stand Abygail in der Tür. „Mitras, unten steht ein Herr Engel und bittet um ein Gespräch mit Kira.“ „Bitte was? Das ist doch dieser Reporter von diesem Schmierenblatt, blaue Tulpe oder so!?“ „Äh, nein, ich glaube es heißt Rote Nelke.“ „Egal, jag ihn fort. Kira wird sich mit derartigen Gestalten noch früh genug herumschlagen müssen. Fürs erste muss das noch nicht sein. Das ausgerechnet die Schreiber von diesem Aufwieglerblatt als erstes hier aufschlagen und sie belästigen.“ „Ja, Mitras ich kümmere mich darum.“ Kopfschüttelnd verließ Abby den Raum. Ärgerlich musste Mitras daran denken, wie gerade die Reporter dieses Blattes mit ihm umgesprungen waren, als er durch das Elektrum wohlhabend und einflussreich geworden war. Er hatte sich immer bemüht genug für die Armen zu tun. Er hatte mit Williams Hilfe Suppenküchen errichtet, ein Armenhaus und zwei Waisenhäuser finanziert. Und dennoch hatten diese Bastarde es gewagt, ihn als den neuen aristrokratischen Erzdämonen des Mammons zu verschreien.
Bisher hatte er es noch nicht an die große Glocke gehängt, dass er eine Schülerin hatte. Sonst wären die Schmeißfliegen von der Presse schon eher über ihn oder schlimmer über sie hergefallen. Nicht ohne Grund hatte er sich in den letzten Jahren so zurückgezogen, dachte er grimmig. Natürlich, da war viel Arbeit gewesen, aber dieses ständige Herumgehopse der selbsternannten „Berichterstatter“ war auch einfach lästig. Wie also hatte jetzt ausgerechnet die welke Nelke von ihr erfahren? Könnten die di Porrums so niederträchtig gewesen sein? Sie hatten sicher durch Thadeus von Kira erfahren. Auch wenn Secus bei Thadeus unten durch war, hätte sein alter Meister dies garantiert als Chance gesehen ihn und Secus gegeneinander auszuspielen. Aber die di Porrums waren selbst ein beliebtes Ziel für die Nelke und noch dazu ein viel attraktiveres als er. Auch Thadeus selbst kam nicht in Frage, kaum einer in Uldum hasste dieses Klatschblatt mehr als er. Und er selbst hätte auch nicht die Presse auf sie gehetzt. Er hat andere Mittel und Wege um uns zu schaden, dachte Mitras. Andere Parteien, die schon von seiner Schülerin wissen konnten und ihm schaden wollten, fielen ihm nicht ein. Oder wurde er doch ausspioniert? Am besten wäre es wohl doch mal mit Kira zu reden.
Er ging zu ihrem Zimmer und klopfte, bekam jedoch keine Antwort. Seit sie mit dem Zaubern angefangen hatten, las sie allerdings auch immer häufiger in der Bibliothek, also ging er dorthin. Sie war tatsächlich da, aber er blieb einen Moment beim Tisch stehen, um den Anblick zu erfassen, der sich ihm bot. Sie lag auf dem kleinen Sofa unter dem Fenster. Eigentlich war das Sofa deutlich zu klein, um darauf zu liegen, also lag sie mit dem Kopf auf der Sitzfläche, hatte ihre Beine jedoch halb auf der Lehne und halb auf der Fensterbank dahinter abgestellt. Ihr Rock war ihr dadurch bis auf den Bauch gerutscht und es wirkte, als blicke er auf ein großes Buch mit roten Haaren auf einer Wolke aus Stoff, aus dem zwei Beine mit Strümpfen hervorschauten. Zwei sehr hübsche Beine, wie er zugeben musste, aber ein Buch mit Stoff und Beinen sieht auch dann noch ausgesprochen witzig aus. Ein bisschen von seiner Anspannung und dem Ärger schmolz in ihm, während er sie schmunzelnd betrachtete. Er räusperte sich, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Sie quietschte erschrocken auf, rutschte durch die aprupte Bewegung vom Sofa herunter und das Buch fiel vor ihr mit einem satten Knall auf den Boden. „Mi… Mitras!“ Erschrocken zog sie den Rock nach unten. „Hallo Kira.“ sagte er und bemühte sich, ein Lachen zu verkneifen. Ernster fuhr er fort: „Eben war ein Journalist an der Tür und wollte mit dir sprechen. Und da nun die ersten auf dich aufmerksam werden, wird es wohl Zeit für eine Lektion im Umgang mit der Presse. Die können noch deutlich gefährlicher werden als alle meine sonstigen Feinde zusammen.“ Kira lief sofort feuerrot an. „Oh, woher wissen die, wo ich wohne? Ich hab doch nichtmal meinen Namen gesagt!“ Dann schlug sie sich mit der Hand auf den Mund, als seien ihr die Worte unwillentlich herausgerutscht und sie blickte ihn mit einer Mischung aus Schuldbewusstsein und Schreck an.“In Ordnung.“ Er holte Luft. Offenbar war der Reporter doch nicht aus losen Vermutungen heraus gekommen. „Kira, was hast du angestellt?“ Sie druckste einen Moment herum, dann sagte sie verlegen: „Ich hab vielleicht mich nicht so ganz damenhaft verhalten. Aber da war ein Pferd, und die Kutsche wäre umgekippt oder es wäre gestürzt, wenn niemand es gestoppt hätte, also hab ich es gestoppt, und, naja… es ist halt auf meinen Rock getreten… und dann ist der zerissen…“ „Also Moment einmal, langsam von vorne. Du hast dich vor ein durchgehendes Pferd gestellt. Das dann auch noch eine Kutsche zog?“ Kira nickte. „Kira, du hättest umkommen können!“ „Bah, nicht du auch noch! Sebastian hat mir auch schon ne Lektion vor den ganzen Leuten erteilen wollen!“ Kira sprang vom Boden auf, konnte aber nicht an ihm vorbei. „Als ob das mein erstes Pferd gewesen wäre, was ich anhalte. Das ist nicht schwer, und ohne dieses ganze Gebausche von Rock wäre dabei bestimmt auch nichts kaputt gegangen. Tut mir auch leid. Ich hab den Rock ersetzt, also eigentlich hat Sebastian ihn neu gekauft, Abby wird gar nichts merken, und den kaputten kann ich flicken. Was denkt ihr denn alle bloß, warum eine Frau da nicht auch eingreifen kann? Immerhin war das Leben der alten Dame in der Kutsche in Gefahr!“, schimpfte sie, ohne Luft zu holen. Mitras war verdutzt. „Woher weißt du wie man ein Pferd anhält?“ „Häh, weil mein Bruder mir das erklärt hat? Wie sonst rettet man die ganze Ware? Kannst das Pferd ja nicht damit weglaufen lassen… Und ich hab das sogar schon mit 12 gekonnt, da hat sogar mein Vater gestaunt.“ Mitras seufzte „Gut, gut. Ich habe verstanden. Als Tochter eines Fuhrunternehmers ist das wahrscheinlich auch normal. Aber Kira, hier in der Stadt können das nur die wenigsten. Da erschreckt es die Leute, wenn du dann plötzlich vor ein durchgehendes Pferd springst, da alle dann damit rechnen, dass es dich über den Haufen rennt.“ Schnippisch warf sie den Kopf nach hinten. „Da hat sich niemand erschrocken. Die haben ja nur geguckt. Keiner hat irgendwas gemacht. Ist das so, bei euch Städtern, dass ihr euch lieber gegenseitig die Nase pudert, als jemandem zu helfen?“ „Nun, Sebastian hat sich erschrocken und ich will gar nicht darüber nachdenken, was ich getan hätte, wenn ich dich plötzlich einer solchen Gefahr ausgesetzt gesehen hätte.“ Sie verdrehte genervt die Augen. „Das war keine Ge-“ Sie hielt inne und blickte ihn kurz an, wurde dann schlagartig rot. „Oh, äh…“ „Ja, für dich nicht, da du ausgebildet darin bist. Etwas was ich eben nicht berücksichtigt habe. Aber weißt du eigentlich, wie viele Menschen jedes Jahr umkommen, weil sie von durchgegangenen Kutschen überrollt werden? Und ja, wahrscheinlich hast du recht, vielleicht sollten mehr Menschen wissen, wie man ein Pferd stoppt.“ gestand Mitras resignierend ein. „In Ordnung, ich gestehe mit deinem Wissen, war das, was du getan hast, das einzig Richtige. Sei aber bitte trotzdem vorsichtig. Bei einem Pferd mag dir das problemlos gelingen, aber ein Vierspanner ist da schon was ganz anderes, selbst wenn du die Pferde davon überzeugen kannst zu halten, wird der Wagen euch alle dann doch mitreißen.“ Kira ließ sich auf das Sofa fallen und bückte sich, um das Buch aufzuheben. „Ja, in Ordnung, Magister.“ „Gut, aber deswegen wollte ich eigentlich gar nicht zu dir. Die Presse ist auf dich aufmerksam geworden, also solltest du vorsichtig sein.“ Kira schaute ihn von unten herauf an und zuckte mit den Schultern. „Ja, mach ich, aber ich hab schon zu Sebastian gesagt, ich war ja schon Dorfklatsch, bevor ich reden konnte, ein bisschen mehr Klatsch halte ich schon aus.“ Mitras seufzte und setzte sich zu ihr, was zwar etwas eng war, aber ging. „Das ist nicht nur ein bisschen Klatsch. Viele Leute glauben, was geschrieben wird. Manchmal einfach nur deswegen, weil es geschrieben ist, weil sich jemand die Mühe gemacht hat, es zu drucken. Weil es gedruckt ist, muss es ja stimmen. Und wenn die Tageszeitungen über dich schreiben, dass du bei deinem Einstand einen ganz hervorragenden Eiszauber gezeigt hast, aber daneben eine Zeichnung deines von Brandnarben durchzogenen Gesichtes packen, dann kann dich das möglicherweise deinen Forschungsposten kosten – weil dein Geldgeber plötzlich diesen Schmierblättern und ihren Andeutungen, mit dir stimme etwas nicht, mehr Glauben schenkt als dir selber.“ Schade eigentlich um die junge Magierin, der das in diesem Jahr wohl gerade erst passiert war. Kira schaute ihn nachdenklich an und nickte dann, und er nutzte die nächste halbe Stunde, um ihr weitere Tipps und Hinweise zu geben, die er zu Gesprächen mit Reportern und anderen Berichterstattern kannte.
Als Kira an diesem Abend im Bett lag, brauchte sie ein Weile, um schlafen zu können. Das Gespräch mit Mitras ging ihr nicht aus dem Kopf. Er hatte nichtmal über das zerrissene Kleid geschimpft, stattdessen machte er sich Sorgen um sie. Wie fürsorglich und liebevoll er war. Dennoch war sie auch ängstlich. Hatte sie mit dem raschen Eingreifen zu viel Aufmerksamkeit erzeugt? Würde man jetzt über sie und Sebastian schreiben? Woher wussten sie überhaupt ihren Namen? Am besten ging sie in der nächsten Zeit nicht mehr so viel aus…
Am Silenz erlöste ein Bote sie von ihren Zweifeln. Kira und Mitras saßen gerade im Wintergarten bei einer Partie Dame, als Abby aufgeregt herein kam und einen großen Korb auf den Salontisch stellte. „Mitras, das ist gerade für Kira abgegeben worden. Ich glaube, es ist von dem Herrn Engel…“ Neugierig trat Kira an den Korb heran. Es sah aus wie ein üblicher Präsentkorb, allerdings mit einer durchaus edlen Auswahl. „Für mich?“, staunte sie und blickte zwischen Abby, Mitras und dem Korb hin und her. Mitras wirkte sehr ablehnend. „Ja, und eine Karte.“ Abgail reichte ihr eine Karte. Neugierig klappte sie sie auf und las vor: „Liebe Kira, leider weiß ich Ihren Nachnahmen nicht, aber ich konnte dankenswerterweise ihren Wohnort ausfindig machen. Sicherlich fragen Sie sich, was der Korb soll, daher werde ich mich Ihnen kurz vorstellen: Mein Name ist Maximillian Engel, ich bin der Enkelsohn von Guardia Engel, die Sie am Uldumstag vor einem großen Unglück bewahren konnten. Seien Sie daher bitte versichert, dass ich Ihnen unendlich dankbar bin. Ich hoffe, der Korb enthält einige Annehmlichkeiten für Sie, da ich sie leider am Ingastag nicht antreffen konnte, um mich persönlich zu bedanken. Meine Großmutter ist die einzige Familie, die ich noch habe, ein Unfall oder gar ihr Tod hätte mich schwer getroffen. Sollten Sie je etwas benötigen, wenden Sie sich gern an mich. Ich stehe in Ihrer Schuld. Hochachtungsvoll, Maximilian Engel.“ Erstaunt ließ sie das Blatt sinken und schaute Mitras an, der eine Hand auf den Henkel des Korbes gelegt hatte. „Äh… meint er das ernst?“ Mitras nahm ihr den Brief ab und las ihn selbst noch einmal. „Nun, wie es aussieht muss ich mich wohl bei dem Herrn Engel entschuldigen.“ „Was für ein Unglück?“, fragte Abby. Kira lief rot an und blickte hilfesuchend zu Mitras. Musste sie Abby gestehen, dass sie eines der neuen Kleider zerissen hatte? „Nun, es hat sich gezeigt, dass unsere kleine Heldin hier einige praktische Erfahrungen im Umgang mit Tieren gesammelt hat, die man hier in der Stadt viel zu selten antrifft. Erinnerst du dich noch an den Reporter vorgestern? Es scheint so als wenn Kira seine Großmutter gerettet hat, indem sie ihre durchgehende Kutsche gestoppt hat. Zum Preis eines Rockes, den ihr der junge di Ferrus ersetzt hat.“ Abby riß die Augen auf. „Was? Und davon erzählst du nichts?“ Kira schaute verlegen zur Seite. „Naja, ich dachte, du bist sauer, weil der Rock kaputt gegangen ist, und Sebastian war ja auch sauer, weil er fand, es sei nicht besonders damenhaft…“ Sie brach leiser werdend ab. Mitras wirkte, als müsste er sich ein Lachen verkneifen. Abby holte tief Luft und brach dann in eine Triade aus, die darstellte, dass es wirklich undamenhaft sei, es wirklich schade um den Rock wäre, sie wahnsinnig sei, und außerdem, was bezahlte der junge di Ferrus etwas wie ein neues Kleid für sie, lief da etwas? Kira versuchte mehrfach, sie zu unterbrechen, es gelang ihr jedoch nicht, und sie wusste nicht, ob sie sich verkriechen oder wütend werden sollte. „Abby, es reicht.“ unterbrach Mitras sie letztendlich mit einem leichten Lachen. „Ja, ich war zuerst auch entsetzt, aber Kira ist in einer Familie groß geworden, die ihr Geld mit Handel verdient. Sie hat Erfahrung mit Kutschen, mehr als wir anderen zusammen, wahrscheinlich. Alles was sie getan hat, war ihr Wissen nach bestem Gewissen zum Besten einzusetzen. In der Theorie also genau das, was wir eigentlich von jedem unserer ach so hehren Magier erwarten. Und ja, um das Kleid ist es schade, aber Geld ist so ziemlich das Letzte, worum wir uns Sorgen machen müssen.“ „Und ich hab nichts mit Sebastian!“, fiel Kira heftig ein. Bestimmt war sie schon wieder rot im Gesicht, aber auf keinen Fall wollte sie, dass Mitras dachte, sie würde sich leichtfertig auf andere Männer einlassen. „Geld, Geld!“ Abigail warf die Hände in die Luft. „Ein Kleid ist ein Kunstwerk, nicht einfach nur Geld!“ Sie beruhigte sich etwas. „Wo ist es denn, das zerrissene Kleid?“ „In meinem Schrank.“, murmelte Kira. Abby seufzte. „Wenigstens etwas. Leg es mir raus. Ich schaue, was da zu retten ist.“ Kira nickte, und um dem weiteren Gewitter zu entkommen, wandte sie sich dem Korb zu. Neugierig packte sie die verschiedenen Dinge aus: Ein Strauß Blumen, allerdings aus Papier gefertigt, sehr aufwendig, eine Flasche Wein, einige Stücken Käse und eine Schachtel Pralinen. Mitras nickte anerkennend. „Ich wusste gar nicht, dass man mit so einem Käseblatt so gut verdienen kann.“ „Wieso Käseblatt?“, fragte Kira, woraufhin Mitras sich ausgiebig darüber ausließ, dass Engel Reporter einer Boulevard Zeitung sei, über die er auch seine kommunistischen Ansichten verbreite, die aber primär Skandale von Adligen ausgrub. Meist schlecht belegt und wohl auch öfter mal erfunden. Rote Rose oder so hieß es – Abby korrigierte: Nelke – und dass dort mal ein sehr unfairer Bericht über ihn abgedruckt gewesen sei. Ab etwa der Hälfte der Erzählung begann Kira zu begreifen, dass erstens Abby seine Aufregung gar nicht für angemessen hielt, wahrscheinlich las sie die Zeitung sogar regelmäßig, wenn Kira ihren Gesichtsausdruck richtig deutete, und zweitens Mitras wesentlich mehr auf die öffentliche Meinung seiner selbst gab, als er es gestern im Gespräch über die Presse zugegeben hatte. Ein bisschen fand sie das niedlich, also setzte sie sich an den Tisch, stützte den Kopf auf die Hände und genoß es, seiner kräftigten Stimme zuzuhören, während er sich aufregte und dabei wild gestikulierte. Abby verabschiedete sich kurz nachdem er dabei angefangen hatte, über die nicht vorhandene Recherchefähigkeiten der Reporter der Zeitung herzuziehen, und so konnte Kira sich ganz darauf konzentrieren, ihn nicht zu sehr anzuhimmeln und dabei doch die Show zu genießen.
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