Kira erwachte völlig zerschlagen. Sie war in ihrer gesamten Kleidung eingeschlafen, hatte sich in den Schlaf geweint, und nun waren ihre Augen verquollen, sie hatte Kopfweh und fühlte sich elendig dreckig. Sie sammelte sich einen Moment und spähte dann zur Uhr. Es war erst sieben. Ehe sie erneut in die schwermütigen Gedanken von gestern abend versinken konnte, beschloß sie, das Bad auszunutzen. Immerhin war es ja auch schon 5 Tage her, seitdem sie sich das letzte Mal komplett gewaschen hatte. Sie nahm sich ein neues Keid aus dem Schrank, zog das alte aus und warf es in den Korb und hüllte sich dann in ein Handtuch, um über die Flure herunter zu huschen. Im Haus war alles still, nur aus der Küche hörte sie ein leises Klappern, also war William vermutlich schon wach. Sie ließ sich warmes Wasser ein, stieg ins Becken und ließ sich eine Weile entspannt treiben. Dann wusch sie sich und ihre Haare, trocknete sich ab und zog sich wieder an. Danach ging es ihr besser. Sie reinigte das Becken und die Umgebung und ging dann zum Esszimmer.
Die Tür zur Küche stand offen und Abby war damit beschäftigt, den Tisch zu decken. Sie lächelte freundlich, als sie Kira sah, die ein wenig verlegen in der Tür stehen geblieben war. „Guten Morgen! Geht es dir wieder ein bisschen besser?“ Kira nickte stumm. „War ein bisschen viel gestern für dich, oder?“ Wieder nickte Kira. Abby kam auf sie zu und umarmte sie. „Mach dir keine Sorgen. Was vergangen ist, ist vergangen. Und für jeden von uns ist es aufregend und erschütternd, wenn wir unsere Heimat verlassen und neues lernen.“ „Danke.“ Kira drückte sich einen Moment an Abby und genoß das weiche, warme Gefühl ihres Körpers neben sich. „Na komm. Du kannst mit uns frühstücken, vielleicht kommt sogar Mitras gleich noch dazu, dann hätten wir mal ein seltenes großes Frühstück.“ Kira nickte wieder. Auf dem Tisch war bereits alles gedeckt. An ihrem und Mitras Platz lagen die Tabletts, die sie sonst später immer gefüllt vorfanden, diesmal allerdings noch nicht gefüllt. Tobey und William kamen mit Kaffee und Tee aus der Küche, und sie setzen sich zum Essen hin. Als Kira gerade beim zweiten Brot war, kam Mitras durch die Glastür herein, obwohl es erst kurz vor acht war. Er grüßte alle und setzte sich zu ihnen.
Mitras hatte sich beeilt, um nach den Ereignissen vom gestrigen Abend auch beim Frühstück zu sein, da er vermutet hatte, dass Kira ihm sonst ausweichen würde, aber er wollte nach ihr sehen. Abby hatte ihn gestern Abend davon abgehalten, zu ihr zu gehen, und auch abgelehnt, selber sie zu trösten. Das muss sie selber mit sich klären, hatte sie gesagt. Er war ein paar Risiken beim Kanalisieren eingegangen, hatte aber die Balance halten können und war so fast eine Stunde früher fertig geworden. Nun saßen alle beisammen und er gesellte sich dazu. Kira sah besser aus, als er erwartet hätte, gemessen an der Dauer, die er ihr leises Weinen noch gehört hatte. Ihre Haare waren noch ein wenig feucht, also hatte sie wohl ein Bad genommen. Sie wirkte immer noch etwas niedergeschlagen, aber klarer als gestern Abend. Er war sich unischer, ob er das Abby zu verdanken hatte oder ob ihr selbst ein paar Sachen deutlich geworden waren. Mitras selbst hatte gestern Abend noch kurz mit William gesprochen. Dieser kannte sich besser aus und hatte ihm bestätigt, dass in den Nordprovinzen tatsächlich, obwohl sie eigentlich von der skirgardischen Kultur geprägt waren, eine offene Abneigung gegenüber den Skir besonders bei der einfacheren Landbevölkerung vorherrschte. Die Siedler, die auf königlichen Geheiß oder aus freien Stücken dorthin nach Burnias siedelten, waren wie vermutet oft aus den Gebieten gekommen, die jahrhunderlang beliebte Beutegebiete der östlichen Skir gewesen waren. Insgesamt waren es wohl nur drei Klans, diese überfielen das Reich aber regelmäßig. Letzendlich hatten einige Adelige ohne Zustimmung des Königshauses begonnen, nördlich des Olfiat Siedlungen „zurückzuerobern“, wie sie es nannten. Das führte erst zur Besetzung Burnias und in Folge dessen zum Anschluss Schwyras. Der dort lebende Klan war der kleinste der dreien und wurde Ziel eines gewaltigen Vergeltungsschlags des Reiches, da sich das Königshaus dem erfolgreich verlaufenden Krieg angeschlossen hatte und eine Machtdemonstration brauchte, um die eigenmächtig agierenden Adeligen innerpolitisch zu schwächen. Die Stadt Mynstar wurde komplett ausgelöscht. Die Reste des Klans, die in und um die reiche Seehandelstadt Libekke lebten, ergaben sich und gliederten sich trotz dieser Tat in den folgenden Jahrzehnten gut in Albion ein, wohl auch, weil Mynstar und Libekke zuvor nur wenig verband. Sie waren wohl eher als Konkurrenten innerhalb des Klans aufgetreten und oft verfehdet. Dass die Libekker Skir, durch häufige Handelsfahrten, aber auch Überlandhandel, viele Bräuche aus dem Königreich übernommen hatten und auch häufig die Sprache Albions sprachen, tat sein übriges bei der Integration. Die verbliebenen Klans schworen nun aber Vergeltung am Reich und Rache an den Verrätern und überfielen die neuen Provinzen nun immer häufiger und weitaus brutaler als in den Kaperfahrten zuvor. Das Reich marschierte daraufhin in die Gebiete westlich und nördlich von Libekke ein, was die restlichen Klans dazu bewegte, mal wieder einen Hochkönig zu wählen und ihren Brüdern im Süden beizustehen. Letztendlich gewann Albion und drängte die Skir bis hinter den Fluß Bliktad zurück, auch, weil sie mit der Gründung Niuw-Mynstars ein Zeichen der kuturellen Überlegenheit und des Frieden setzen konnten. Im Jahr 142 wurde dann auch dort der Frieden ausgehandelt und der gewählte Hochkönig schwor alle Häuptlinge darauf ein, das Königreich nie mehr unprovoziert anzugreifen. Natürlich hatten der Rat und die Generalität die Gelegenheit genutzt, die neu eroberten Gebiete mit ihren treuen Gefolgsleuten zu bevölkern, und nach Williams Aussage schickten sie auch einige Magier, Schulmeister und andere gebildete Menschen in die Provinzen, um sicherzustellen, dass in einigen Jahrzehnten sich auch die Tradition der Hexenzirkel und ähnlichem verlaufen würde, wie die Skir, die aus den Gebieten zumeist nach Norden geflohen waren.
Mitras konnte verstehen, dass die Leute in Burnias schlecht auf Skir zu sprechen waren. Aber der Krieg lag nun schon fast ein Jahrhundert zurück und seit dem Frieden gab es keine Angriffe mehr. Laut William war es dort allerdings nach wie vor am schlimmsten, während die anderen nördlichen Provinzen eher gemäßigt mit Skir umgingen, ja, sogar ihre Kultur teilweise in die eigenen Bräuche integrierten. Doch in Burnias saßen die Erinnerungen an die Vergeltungstaten der Skir nach dem Brand von Mynstar wohl zu tief. Alles, was nach Skir aussah, wurde verachtet oder gleich zerstört. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was das für Kira bedeutet hatte. Laut Abigail konnte Kiras Mutter es kaum erwarten sie endlich und möglichst gewinnbringend los zu werden. Soviel Kaltherzigkeit dem eigenen Kind gegenüber machte ihn wütend.
Er setzte sich neben sie und wandte sich ihr zu. „Kira, ich muss gestehen, ich wusste bisher noch nicht viel über die nördlichen Provinzen und noch weniger über Burnias. Ich finde, Sie sollten sehen, dass Uldum anders ist. Wir pflegen hier einen weltoffenen, toleranten Umgang miteinander. Da Sie heute eh frei haben, schlage ich vor, dass Sie Uldum noch besser kennenlernen und sich selbst ein Bild davon machen. Abigail und Tobey hatten heute eh vor in die Stadt zu fahren und ein paar Besorgungen zu machen. Ich spendiere Ihnen eine Hafenbesichtigung dazu.“ Er schaute zu Tobey. „Wenn das in Ordnung ist.“ Tobey nickte, und Abby sagte begeistert: „Eine hervorragende Idee! Das machen wir gerne!“ „Gut.“ Kira saß einen Moment still auf ihrem Platz, dann lächelte sie ihn etwas bemüht an. „Danke, Magister. Ich werde die Gelegenheit nutzen. Ihr habt Recht. Alles ist anders hier.“ Sie schwieg einen Moment und setzte dann leise hinzu, während ihre Wangen sich röteten: „Anders, aber viel besser. Ich bin Ihnen allen sehr dankbar.“ Abby grinste. „Naa, wart ab bis zum Sommerfest. Dann überhäufen wir dich mit Geschenken und unserer unerschüttlichen Familienliebe, da wirst du gar nicht wissen, wo dir der Kopf steht.“ Kira wurde nun feuerrot. Sie öffnete den Mund, als ob sie etwas entgegnen wollte, schaute dann kurz traurig und schloß ihn wieder, lächelte dann aber und sagte: „Ich werde mich dann angemessen rächen.“ Abigail, Tobey und William brachen in Gelächter aus, was die Anspannung am Tisch klärte. Mitras fand, dass Abigail gar nicht so unrecht hatte. Kira war ein liebreizendes Geschöpf und nicht auf den Mund gefallen, sie hatte es verdient, gut behandelt zu werden. Und auch wenn er ihr sicher nicht Vater oder Mutter ersetzen konnte, so würde er doch ein guter Mentor sein und dafür sorgen, dass es ihr gut gehen würde in den Jahren bei ihm – und vielleicht auch danach, wenn es passte und sie es wollte.
Abby und Tobey trafen sich nach dem Frühstück mit Kira vor der Tür und zeigten ihr den Weg zum Kutschenstand. Abby stellte ihr Julius vor, einen etwas älteren, sehr gemütlichen Droschkenfahrer. „Wenn du jemals alleine eine Kutsche ordern willst und Julius da ist, fahre mit ihm.“, schärfte sie ihr ein. „Er ist vertrauenswürdig.“ Julius, der ihre Worte hörte, knetete verlegen seine Mütze und stotterte: „Ma…Ma..Madame, wir bemühen uns alle, vertrauenswü..wü..würdig zu sein.“ Tobey schlug ihm auf die Schulter. „Aber nicht alle sind es, altes Haus. Komm, heute gibt es eine gute Tour für dich: Der Herr wünscht, dass wir seiner Schülerin die ganze Stadt zeigen. Mit Hafenrundfahrt. Und die Wartezeit kriegst du auch bezahlt.“ Julius lächelte breit. Ihm fehlten etliche Zähne, fiel Kira auf. Er sah sonst einigermaßen gepflegt aus, aber seine Kleidung war oft geflickt und an den Händen erkannte sie trotz der Tatsache, dass er erst 30 sein mochte, erste Anzeichen von Gicht. Das Leben auf dem Kutschbock war nicht einfach, das wusste sie auch von denen, die in Burnias die Waren fuhren und bei ihren Eltern oft übernachtet hatten, wie es üblich war. Kaufleute und Fuhrleute halfen einander. Sie stiegen in die Droschke und Abigail begann, wie schon bei ihrer ersten Fahrt in die Stadt, Kira zu erklären, was zu sehen war.
„Hier an dieser Kreuzung siehst du die Grenze zwischen drei Bezirken der Stadt. Links von uns das Viertel der Aristrokraten. Es zieht sich weit die Hügel hinauf, aber etwa zwei Straßenzüge von hier beginnt die wirkliche Riege der Adelshäuser, dort sind auch die Schulen und noch ein ganzes Stück bergan der neue Palast. Und hinter uns ist das Gebiet der Handwerker, was du letztes Mal ja schon gesehen hast.“ Sie beugte sich vor und wies Julius an, zum Palast zu fahren. „Hier rechts von uns ist das Viertel der Händler. Mitras Eltern wohnen zum Beispiel dort.“ Der gegenüberliegende Straßenzug unterschied sich kaum von dem Bereich des Aristrokratenviertels, aus dem sie gerade gekommen waren. Teilweise standen die drei- bis viergeschoßigen Häuser eng beieinander, teilweise gab es kleine Gärten um sie. „Weiter zum Fluss hin gibt es auch einige richtige Villen der Händler“, ergänzte Tobey. „Die sind wirklich fast wie Paläste. Man kann heutzutage doch ganz gut Geld machen, besonders, wenn man Manufakturware verkauft, das produziert sich einfach schneller.“ Sie fuhren die Straße hinauf, die beidseitig von nun kahlen Bäumen gesäumt war. An Seite der Händler wurden die Gebäude nach einer Weile etwas höher, Mietshäuser, wie Abby auf Kiras Frage erklärte, dort konnte man sich einmieten, wenn man genug verdiente, aber nicht genug für ein ganzes Haus hatte. Ab einer etwas breiteren Straße zur rechten Seite wichen die Mietshäuser dann erst einfachen, dann immer pompöseren Adelshäusern, die hinter der Bahnlinie lagen, die sich an der Straße entlang wand. Auch zur linken Hand waren die Adelshäuser pompöser, die Mauern höher, die Gärtern größer geworden. Sie bogen nach einer ganzen Weile nach rechts ab, überquerten die Bahnstrecke und gelangten auf eine breite Straße, eher eine Promenade, die offenbar die Stadtgrenze darstellte und die auf einem großen Platz endete, an dessen westlichem Ende sich offenbar das Palastgelände erhob. Kira konnte nicht umhin, dem Archtiketen Bewunderung zu zollen: Anmutig und doch beeindruckend erhob sich das weiße Gebäude auf einem länglichen Hügel über die umliegenden Häuser, geschickt hervorgehoben durch die natürliche Umgebung. Hinter dem weit verzeigten Gebäude lag eine steile Klippe, die es nach hinten abriegelte und es wie auf einer Leinwand präsentierte. Nach Norden hin konnte sie den Avens erahnen. Abby erzählte ihr, dass die Wand der Klippe magisch verformt worden sei, so dass niemand daran herunterklettern konnte. Vor dem Gebäude und auch darum konnte Kira eine weitläufige Parkanlage erkennen, sofern zumindest die umgebende Mauer den Blick freigab. „Das ist das Wohngebäude der königlichen Familie, gebaut von Phillipos di Leonidas. Manchmal gibt es hier auch Feste für den höheren Adel. Aber für offizielle Anlässe nutzt das Könighaus Leonidas immer noch das alte Königshaus im Stadtkern. Da fahren wir als nächstes hin.“ Sie fuhren auf einem anderen Weg durch das Aristrokratenviertel zurück, was eine ganze Weile dauerte, so dass Kira ausreichend Gelegenheit hatte, die Paläste und Wohngebäude,die teilweise aufwendig verziert, teilweise aber auch schlicht und elegant waren, zu bewundern. Sie erkannte, dass Mitras, obwohl er ja nicht arm war, ein verhältnismäßig kleines Haus hatte, nur sein Garten war doch größer als die der meisten anderen Adelshäuser. Vielleicht lag es daran, dass er keine Familie hatte und daher kein so großes Haus brauchte?
Am Bahnhof vorbei kamen sie in das Händlerviertel, und Kira sah, dass es hier nicht nur die Wohnungen der Händler gab, sondern auch Kontore, mehr verschiedene Mietshäuser und auch Läden. Oftmals war es so, wie sie es aus Lührenburg kannte: Oberhalb von Kontor und Laden lagen die Wohnungen der Familie. Hier allerdings war die Wohnung teilweise mehrgeschossig. Abby erklärte ihr, dass reiche Handelsfamilien sich von den Adeligen abgeschaut hatten, besonders viele Bedienstete zu haben, und dass daher in den oberen Geschossen oft die Zimmer der Dienerschaft lagen. Kira staunte, wie viele Menschen es in Uldum gab. So viele Menschen auf eigentlich so wenig Platz!
Sie kamen an die große Straße, auf der sie begonnen hatten, und durchquerten das Viertel der Handwerker, das Kira bereits kannte. Hier standen die Häuser etwas enger, oft waren die Werkstätten direkt in die Wohnhäuser gebaut, an einigen Stellen waren auch schon Manufakturen zu sehen, zu erkennen an den Schornsteinen, aus den grauer Qualm aufstieg, der sich auf den Fassaden und Dächern der ganzen Stadt absetzte und Kira schon am ersten Tag das Gefühl gegeben hatte, die ganze Stadt sei dreckig. Tatsächlich, stellte sie verblüfft fest, fand sie es jetzt gar nicht mehr so schlimm. Sie hatte sich vermutlich an den ständig rauchigen Geruch der Luft gewöhnt. Tobey erzählte, dass die wirklich reichen Manufakturbesitzer längst auf der anderen Seite der großen Straße, die einfach nur „die Chaussee“ genannt wurde, im Händlerviertel wohnten. „Dort ist die Luft besser.“ Vom Kutschbock ergänzte Julius mit einem zahnlosen Grinsen: „Und, nech, die Konkurrenz sieht man auch nich mehr immer, da muss man sich nich so ansehn, wie die zugrunde geht.“ „Schaden die Manufakturen den anderen Handwerkern?“, fragte Kira. Tobey nickte nachdenklich. „Einige machen ihr Glück damit, und insgesamt ist es natürlich gut, alle können sich die Stoffe leisten. Und die Minen im Osten arbeiten auch viel damit, es gibt viel mehr Sicherheit und eine bessere Produktion. Aber die, die Stoffe handweben, naja, die kommen jetzt halt nicht mehr so recht an Geld, und die Minenarbeiter… du wirst es sehen, wenn wir im Hafenviertel sind.“ Kira nickte. Es gab in den Nordprovinzen kaum solche Manufakturen, in Lührenburg gab es eine Mühle, die mit Dampf betrieben wurde, und die wurde stets als große Errungenschaft gefeiert, da nun viel mehr und viel zuverlässiger gemahlen werden konnte, niemand musste mehr warten, es half bei der Versorgung der ganzen Gegend sehr. Aber das, was Tobey sagte, machte schon Sinn. Sie dachte an die Kinder, die sie beim ersten Ausflug gesehen hatte. Uldum war reich, viel reicher als Flate, Lührenburg oder gar Bispar, und dennoch gab es hungernde Kinder hier – vermutlich, weil ihre Eltern nicht mehr genug verdienten. Sie überquerten wieder die Brücke, die Kira schon kannte, und Abby zeigte ihr noch einmal kurz den alten Palast, dessen sternförmige, klobige Mauern den Kutschenparkplatz vor der Altstadt begrenzten. „Die Altstadt kennst du ja schon.“ Kira nickte. Also fuhren sie über den Platz und auf der gegenüberliegenden Seite wieder aus der Altstadt heraus über den Corvio, dessen Wasser blau glitzernd unter ihnen längs floß, anders als das braune Wasser des Avens, den sie zuerst überquert hatten. Hier war das Ufer etwas flacher, und, wie Abigail erklärte, ehemals auch sumpfig gewesen. Man hatte es trocken gelegt, um hinter dem Hafen mit all seinen Kanälen und Pieren, Lagerhallen, Kontoren und Mietskasernen für die Hafenarbeiter zu bauen. Jetzt war der Sumpf etliche Kilometer weiter vom Fluß weggedrängt worden. Julius lenkte die Kutsche zu einem kleinen Anleger. Dank seiner Vermittlung konnten die drei rasch einen Fährschiffer finden, der sie durch den Hafen rudern würde. Kira betrachtete sein kleines Boot mit mulmigem Gefühl, doch Tobey beruhigte sie. „Keine Sorge. Der Corvio ist ein lebhafter Fluss, aber der Avens ist ruhig und träge. Und hier, wo sie zusammentreffen, färbt eindeutig das ruhige Wesen auf den kleinen Jungspund hier ab.“ Kira nickte. Sie konnte schwimmen, sogar ziemlich gut. Etwas anderes blieb einem auch nicht übrig, wenn man in einer Gegend voller Moorseen aufwuchs. Dennoch fand sie seit ihrer Erlebnisse in Flate Bootsfahren nicht unbedingt erstrebenswert. Die Aussicht, den Hafen Uldums von der Wasserseite aus zu sehen, machte dieses Unbehagen allerdings auch wieder wett. Der Schiffer, ein aufgeweckter junger Mann, erzählte ihnen einiges, während er sie umherruderte. Erst gab es einige kleinere Anleger für die Schiffe, die den Corvio herunter kamen, um kleinere Waren zu bringen, und für private Schiffe. Kira staunte über einige kleine Jollen, die dort vor Anker lagen. Eine hatte den Schiffsnamen „Morgentau“ sogar in Goldbuchstaben am Bug stehen. Kurz vor Zusammenfluss der beiden Flüsse gab es dann einige sehr große Piere, an denen die Schiffe anlegten, die das Eisen und andere Materialien aus den Minen bei Ferros nach Uldum brachten. Kira dachte an Sebastian. Sebastian di Ferrus – ob seiner Familie die Gegend um Ferros gehörte? Oder war das nur Zufall? Falls ja, mussten sie irre reich sein – Eisen war ja für die ganzen neuen Maschinen in großen Mengen nötig.
Dort, wo die Flüsse zusammenflossen, waren beide Ufer gut befestigt. Der Schiffer erklärte, dass sich im Kreuzgebiet manchmal Wassergeister zeigten, wohl angeregt durch den Zusammenfluss der vom Wesen so unterschiedlichen Flüsse. Deswegen baute dort niemand nah am Wasser. Nix mit „ruhigem Wesen“, dachte Kira, doch sie war Tobey nicht böse. Ein Stück weiter flussabwärts lag der richtige Hafen, ein Gewirr aus Kanälen, Pieren und Schiffen, größer als das, was Kira in Flate erlebt hatte. Sie manövierten vorsichtig hindurch und der Schiffer ließ sie wie vorher verabredet an einem kleinen Seitensteg aussteigen. Tobey bezahlte ihn, und an der Anzahl seiner Verbeugungen trotz des wackeligen Bootes vermutete Kira, dass es großzügig gewesen war. Sie schlenderten die Kaimauer entlang und beobachteten, wie ein großes Handelsschiff mit einer Rigaer Flagge entladen wurde. Es war kleiner, als die, die Kira kannte, doch Tobey erklärte ihr, dass die Schiffe, die auf Flüssen fuhren, immer kleiner sein mussten als die, die das Meer unter sich hatten. „Man hat halt viel schneller mal ne flache Stelle, verstehst du?“ Kira nickte. Bei allem, was Technik betraf, schien Tobey richtig aufzublühen, und er erklärte ihr ausführlich alles über die Binnenschifffahrt, das er wusste. Und das war tatsächlich gar nicht so wenig. Kira war bemüht, sich alles zu merken, aber sie erkannte schnell, dass sie wohl doch besser einen Block und einen Bleistift hätte mitbringen sollen. Nach einer Weile erlöste Abby sie, indem sie ihren Mann sanft ermahnte, Kira nicht zu sehr in Beschlag zu nehmen, sie solle ja auch noch etwas sehen können von der Stadt. Kira sah sich um. Hier im Hafen war Uldum eindeutig dreckiger als am Westufer. Unrat lag in den Ecken, und an einigen Stellen sah sie trotz des helllichten Tages Ratten in den Ecken huschen. Es stank auch, nach einer Mischung aus Öl, Maschinen, Menschen, Müll und Kohle. Sie liefen durch ein paar enge Gassen zwischen den Kontoren hindurch und gelangten auf einen Platz, an dem Julius samt Droschke auf sie wartete. Abby wies ihn an, sie zum Stadtpark zu bringen.
Sie fuhren noch durch einige Gassen, dann öffnete sich der Blick nach Südosten und Kira blickte auf eine etwas abfallende Ebene voller kleiner, zusammengeflickter Häuser. Wobei, Häuser konnte man das eigentlich nicht nennen, eher Behausungen. Tobey nickte herüber. „Das ist die unschöne Ecke von Uldum. Geh nie alleine dort hinein.“ „Warum baut man keine richtigen Häuser?“, fragte Kira. Abigail schnaubte. „Dazu müsste das Könighaus erstmal alle verteiben, Und dann das Land darunter trocken legen. Und dann befestigen. Nein, dass ist den hohen Herren eindeutig zu aufwendig. Und wenn sie es tun würden, dann müssten die Bewohner ja auch hinterher Miete zahlen. Aber die, die da wohnen, die können keine Miete zahlen.“ „Die Minenarbeiter, weißt du?“, ergänzte Tobey. „Sie haben dank der Maschinen in den Minen oft keine Arbeit mehr. Die di Ferrus bemühen sich, aber andere Baronien weiter im Süden, die ebenfalls Erze fördern, haben weniger soziale Programme aufgesetzt, und so strömen jeden Tag mehr Arbeiter hier her, um sich in den Manufakturen zu verdingen. Dazu kommen noch die ehemaligen Weber, Schmiede und noch alle anderen, die nun eben nicht mehr so gebraucht werden. Es gibt auch genug Arbeit, aber weil es seit einigen Jahren auch wirklich genug Arbeiter sind, fallen die Löhne. Irgendjemand macht es doch immer für einen Schilling weniger.“ Kira blickte traurig auf die Hütten, die nun hinter einem kleinen Hügel verschwanden. Sie fuhren durch eine Ansammlung von Mietshäusern, die teilweise bis zu sechs Stockwerke hoch waren. Einge sahen gut gepflegt aus, bei anderen hatte man das Gefühl, sie würden nur dadurch zusammengehalten, dass sie sich an den Nachbarshäusern festhielten. Dann realisierte sie, dass sie mit ihrer Vermutung über Sebastian Recht gehabt hatte. Di Ferrus. Wieso arbeitet der Sohn eines Barons, der zudem vermutlich auch noch deutlich reicher als Mitras war, in der Bibliothek? Sie würde ihn fragen müssen.
Über eine weitere Brücke gelangten sie zurück in die Altstadt, nun allerdings an der nördlichen Grenze. Hier lagen die ehemaligen Befestigungsanlagen, eine Mauer mit sternförmigen Zacken, die die Altstadt gegen Angriffe aus dem Norden geschützt hatte. Nun waren die Wälle zu einem länglichen Park ausgebaut worden. Nördlich davon lagen weitere Wohngebiete, erklärte Abby. „Alles gemischt dort, diese Gebiete wurden erst in den letzten Jahren besiedelt. Eigentlich waren dort nur Bauernhöfe, aber es liegt ein wenig erhöht, und wer Geld hat, baut dort gern – es ist nicht so weit in die Altstadt, zumindest wenn man nicht zu weit nördlich ist, und man hat einen guten Blick, wenn man einen Bauplatz oben auf einem Hügel erwischt. Manche Adelige haben sogar zwei Anwesen – ein Stadthaus im Aristokratenviertel und eine Landvilla im Norden zwischen den verbliebenen Bauernhöfen. Und, naja, wer nicht ganz so viel Geld hat, aber längere Wege in Kauf nimmt, kann dort gut zur Miete wohnen. Der Tierpark ist auch da, aber da können wir besser im Sommer hinfahren.“ Sie hielten an und Abby besorgte von einigen Händlern Brote, Kuchen, Käse und Wurst, während Tobey in ein nahe gelegendes Teehaus ging und mit einer Kanne voll dampfenden Tee zurück kam. Sie wischten eine Bank trocken und setzten sich trotz des kalten Wetters in den Park und aßen gemeinsam. Abby bestand sogar darauf, dass der Kutscher Julius etwas vom Essen abbekam, aber sie konnte ihn nicht dazu bringen, sich zu ihnen zu setzen. Der Ständeunterschied ist zu groß, realisierte Kira, und dass, obwohl Abigail und Tobey ja eigentlich auch nur Bedienstete waren. Sie genoß es, draußen bleiben zu können, statt in ein Restaurant zu gehen. Sie hatte oft so gegessen – nun ja, ohne warmen Tee und mit weniger warmen Decken – aber es erinnerte sie an lange Streifzüge durch die Moore, von denen sie Abby und Tobey nun erzählte. „Kann ich noch in die Bibliothek gehen?“, fragte sie, als Abby die Essensreste zusammenpackte. Diese nickte. „Es ist dein freier Tag, hat Mitras gesagt. Aber pass auf und komm nicht so spät nach Hause.“ Kira nickte und versprach, Julius Droschke zu nehmen, sofern sie ihn später am Platz vor dem alten Palast sehen würde. Dann verabschiedete sie sich vom Ehepaar und ging zu Fuß durch die Stadtmauer bis hin zur Bibliothek.
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