Gesellschaften- 17. Lunar – 25. Lunar 242

In der folgenden Woche übte Kira mit Mitras die verschiedenen Varianten der Bewegungszauber. Schweben gelang ihr besonders gut, auch Gleiten klappte, wobei Mitras einige Male verhindern musste, dass auch das Möbilar sich einige Meter voran bewegte. Nachdem er Kira darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sie ihren Radius aktiv begrenzen musste, ließen die versehentlichen Bewegungen nach. Das Meditieren, obwohl sie sagte, dass sie es täglich übte, schien nur bedingt zu klappen: Ihre Aura schimmerte immer noch mit vielen roten Schlieren, sobald sie übten, aber Mitras schob es auf die Tatsache, dass sie sich auch immer noch über jeden gelungen Zauber wie ein Kind zur Frühlingsfeier freute. Am Ingas prüfte er wieder Mathematik und stellte erfreut fest, dass die letzten Wochen intensive Betreuung durch Abby geholfen hatte, ihre grundlegenden Lücken so weit zu schließen, dass sie nun wie eine Kaufmannstochter rechnen konnte. Abby hatte es sich offenbar auch nicht nehmen lassen, ihr ein wenig Geometrie zu zeigen, was Kira genutzt hatte, um eine bunte Zeichnung von ineinander verschlungenen Kreisen anzufertigen. Stolz zeigte sie ihm die Stifte, die sie gekauft hatte, und er erklärte ihr, dass es einen speziellen Zweig der Magie gab, der sich der Gestaltung von Bildern und Gemälden widmete – mit Ritualen aus Veränderungs-, Telekinese- und Elementarmagie konnte man die Farben auf dem Malgrund so formen, dass sich genau das Bild ergab, dass man im Kopf hatte. Zumindest, wenn man gut genug in den Ritualen war. Kira war begeistert, doch er musste gestehen, dass er von dieser Form der „Gesellschaftszauberei“ nichts weiter wusste. Stattdessen brachte er ihr am Silenz Schach bei, ein Spiel, dass neben Dame gerne auf den Gesellschaften gespielt wurde und als hohe Kunst der Strategie galt. Er beobachtete sie, wie sie vor ihm saß, in einem rötlichen Kleid mit goldenen Bändern, die Haare kunstvoll geflochten angesichts des Familienessens am Silenz, und erfreute sich, wie gut sie sich nach nur wenigen Wochen eingelebt hatte. Eigentlich hatte er bis zum neuen Jahr warten wollen, aber nun sprach nichts mehr dagegen, sie zumindest Christobal di Pinzon, seinem alten Gönner, vorzustellen. Er war ein Adeliger der alten Schule und galt als Koryphähe der Mathematik. Mitras wusste, dass er auch anderen jungen Adeligen Unterricht erteilte und hatte sich schon überlegt, dass er ein guter Mathematiklehrer für Kira sein konnte. Vieles von dem, was Mitras über die Etikette der Adelshäuser und die Mathematik wusste, hatte er selbst ja auch von Christobal gelernt. Er musste sich nur überlegen, wie er Christobal dazu brachte, eine Frau zu unterrichten. Im Allgemeinen hielt er nämlich nicht viel davon, dass Frauen etwas anderes taten, als gut auszusehen und die Kinder zu erziehen. Mitras seufzte bei dem Gedanken. Er hatte wirklich viele Nächte mit dem sonst von ihm sehr geschätzten Mann über diese Frage diskutiert, aber Christobal fand, dass die Rolle der Frau immer so gewesen sei und man deswegen jetzt auch nichts daran ändern müsste. Und er war ja auch nicht alleine mit diesem Gedanken… Nun, vielleicht konnte eine intelligente Frau wie Kira da mehr bewegen. Der Gedanke gefiel Mitras, also beschloß er, sich bei Christobal anzukündigen. Die Zeiten, in denen er unankündigt über den Gartenzaun zu ihm ging, waren ja seit über einem Jahrzehnt vorbei.

Am Uldumstag übten Mitras und Kira vormittags die Meditation. Sie war eigentlich gar nicht so schlecht darin, aber in seiner Gegenwart war es deutlich schwieriger. Als Mitras endlich damit zufrieden war, weil ihre Aura nicht mehr allzudeutlich die Gefühlsfarben erkennen ließ, war Kira beinahe eingeschlafen, so entspannt war sie. Sie ließ sich nach hinten auf ihr Sitzkissen sinken und beobachtete, wie Mitras aufstand und sich streckte. Eigentlich hatte sie ja zur Bibliothek gewollt, aber einfach liegen bleiben schien auch eine ganz gute Option… einfach liegen bleiben und Mitras beim Arbeiten zusehen. Er betrachtete sie einen Moment von oben und fragte dann: „Ist das eigentlich noch Meditation oder schon Schlaf?“ Er lächelte dabei, aber Kira fühlte sich dennoch ertappt. Rasch richtete sie sich auf und nutzte ihre offenen Haare, um zu verbergen, dass sie rot anlief. „Äh, nein, ich schlafe doch nicht im Unterricht!“ Mitras lachte herzlich und reichte ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. „Das wäre aber ungewöhnlich, eigentlich passiert das allen irgendwann mal beim Üben der Meditation.“ „Naja, dann habe ich vielleicht ein bisschen gedöst…“ Sie lächelte ihn auch an. Auf jeden Fall war sie entspannt und fühlte sich erholt, wie immer nach den Meditationsübungen, zu denen er sie immer öfters bat. Mitras nickte, wurde dann aber ernst. „In Ordnung. Trotzdem sollten wir mal schauen, wie wir die nächste Zeit gestalten. Der Lehrplan, den ich aufgestellt hatte, hat sich ja nun erübrigt. Ich würde dir gern meinen alten Mentor Christobal di Pinzon vorstellen. Er ist ein Adeliger alter Schule und ein hervorragender Mathematiker. Wenn er zustimmt, kann er den Unterricht von Abby übernehmen, denn du hast dich gut entwickelt. Und dann müssen wir mal schauen, wie wir Meditation, Zauberübungen und das restliche Lernen strukturieren, ohne dass du so erschöpft wirst, dass du mir öfters hier einschläfst.“ Kira schluckte. Ein Adeliger „alter Schule“ klang nicht unbedingt aufmunternd. Andererseits war das ja wohl jener Lord di Pinzon, der den jungen Mitras in seinem Garten hatte werkeln lassen, also konnte das kein schlechter Mensch sein.  „Wir sind übermorgen bei ihm zum Essen eingeladen. Das wird auch die erste Gelegenheit für dich zu zeigen, was du über Etikette gelernt hast.“, fuhr Mitras fort. Kira nickte, nun doch deutlich nervös. Mitras schien es zu sehen – vermutlich spiegelte es sich deutlich in ihrer Aura – denn er lächelte sie aufmunternd an, legte den Arm um ihre Schulter und drückte sie kurz. „Alles wird gut. Du bist intelligent, wirst wunderschön aussehen und dich gut zu verhalten wissen. Ich glaube an dich!“ Kira spürte, wie seine Berührung wie ein Blitzschlag durch sie fuhr und bemühte sich, ruhig und kontrolliert zu atmen, damit er nicht zu viel davon in ihrer Aura sehen konnte. Nach einem kurzen Moment des Sammelns fragte sie zur Ablenkung: „Im Niggel steht, man solle darauf achten, das Kleid und Schmuck zusammen passen. Meinst du, Frederieke würde mir ein bisschen passenden Schmuck leihen?“ Mitras hielt kurz inne und schlug sich dann mit der Hand an die Stirn. „Achja, du erinnerst mich an etwas. Ich denke, Frederieke würde dir bestimmt was leihen, aber ich glaube, ich habe was besseres. Wenn du nachher aus der Bibliothek wieder da bist, komm zu mir, dann kann ich es dir geben.“ Neugierig schaute Kira ihn an, traute sich aber nicht, weiter nachzufragen. Sie verabschiedete sich und ging nach dem Mittagessen wie beinahe jeden Uldumstag zum Kutschstand.

Als sie beinahe an der Kutsche war, hörte sie plötzlich hinter sich eine männliche Stimme: „Lady Kira?“ Sie drehte sich um und sah einen jungen Mann Mitte zwanzig auf sie zueilen. Er trug eine schwarze Leinenhose und einen guten, aber nicht übermäßig pompösen Mantel. „Ah, Lady Kira!“ Er blieb stehen und verbeugte sich, als Nichtadeliger vor einer Adeligen, erkannte sie. „Verzeihen Sie, dass ich Sie einfach so anspreche, aber ich wollte mich unbedingt noch einmal bei Ihnen persönlich bedanken. Mein Name ist Maximilian Engel. Sie haben meiner Großmutter das Leben gerettet.“ Kira lächelte ihn freundlich an. „Gerne, Herr Engel. Vielen Dank für den Korb meinerseits. Die Schokolade war ganz hervorragend.“ Galant verbeugte sich Maximilian Engel ein zweites Mal. „Das war das Mindeste! Meine Großmutter wünscht sich, Sie einmal zum Essen einladen zu können, oder ins Theater, wenn Ihnen das lieber ist. Dürfte ich so verwegen sein, danach zu fragen?“ Kira wusste nicht, was an der Frage verwegen war und nickte verlegen. Sollte sie zusagen? Sie war noch nie im Theater gewesen. Was würde Mitras dazu sagen? Er mochte Engel auf jeden Fall nicht. Aber er wirkte nicht gefährlich, höchstens ein bisschen gestelzt. Seltsam, dass gerade ein Nicht-Adeliger ihr gegenüber der Erste war, der ihr zu förmlich vorkam. Doch dann erinnerte sie sich an ihr eigenes Gefühl, wenn sie in Bispar mit einem Adeligen reden musste. Man ist ausgeliefert, wurde ihr bewusst. Also bemühte sie sich um ihr freundlichsten Lächeln, nickte entschlossen und sagte: „Ich werde gerne mit Ihrer Großmutter ins Theater gehen. Allerdings bin ich völlig unbewandert in diesen Dingen, ich werde mich Ihrer Empfehlung anschließen müssen, was denn ein gutes Stück wäre.“ Maximilian Engel strahlte sie erfreut an. „Keine Sorge! Ich sende Ihnen einen Boten mit Programmen und Sie können sich aussuchen, was Ihnen zusagt. Die Familie Engel steht Ihnen zur Verfügung, wann immer Sie es wünschen.“ Verlegen schaute Kira ihn an. Übertrieb er da nicht etwas? „Aber ich halte Sie auf, verzeihen Sie!“ Er trat an ihr vorbei auf die nächste Droschke zu, hielt ihr die Tür auf und reichte ihr die Hand, um ihr beim Einsteigen zu helfen. Kira warf einen kurzen Blick zu Julius Kutsche, wusste aber nicht, wie sie die Hilfe höflich ablehnen konnte, also stieg sie in die von ihm ausgewählte Droschke. Er schloß die Tür, winkte und sie hörte durch die Wand, wie er dem Kutscher zurief: „Zur Altstadt!“ und ihm einige Münzen hochreichte. Verblüfft ließ sie sich auf die Kissen sinken. Woher wusste er, wohin sie wollte?

Über diese Frage grübelte sie immer noch, als sie sich später mit Sebastian im Café traf. Sie überlegte, ob sie ihm von Engel erzählen sollte. Würde er auch schimpfen? Sie hatte keine Lust, sich mit ihm zu streiten. Letztendlich vergaß sie ihre Probleme aber, als sie Sebastian um die Ecke kommen sah. Er sah übel aus. Sein rechtes Auge war blau geschwollen und quer über die Wange zog sich ein häßlicher Schnitt. „Oh, meine Güte, was ist dir denn passiert?“ Sebastian lächelte sie schief an. „Ich wollte auch mal so heroisch sein, aber bei mir reagieren Pferde nicht so lieb wie bei dir!“ Kira betrachtete ihn prüfend. Sie war sich ziemlich sicher, dass er log – die Schramme sah eher nach einer Klinge als nach etwas aus, was ein Pferd verursachen würde. Aber offenbar wollte er nicht darüber reden, denn er schob sich auf die Bank neben sie und fragte: „Und wie läuft es im Hause Venaris?“ Kira erzählte ihm mit leiser Stimme von ihren Problemen bei der Meditation, was ihn fürchterlich erheiterte und zum Lachen brachte, obwohl er mehrfach schmerzhaft das Gesicht verzog. Anschließend fragte sie ihn zu di Pinzon aus. Sebastian kannte ihn als den kinderlosen Sprößling eines alten Adelsgeschlechts. Seine Frau war wohl früh verstorben und hatte nie wieder geheiratet. „Er soll ganz gute Parties machen, so richtig schicke Bälle, aber ich kann da nicht hin, er mag meine Mutter auf den Tod nicht. Sie ist ihm zu wenig fraulich.“ „Wie meinst du das?“ fragte sie. „Naja, er ist ein recht konservativer Mann, mit einem noch konservativeren Frauenbild. Wenn es nach solchen wie ihm gehen würde, dann hätte meine Mutter den erstbesten Adligen heiraten und ihm dann die Kontrolle über die Baronie überlassen sollen. Frauen und Macht das passt ihm nicht.“ „Das klingt tatsächlich sehr traditionell. Wieso will Mitras mich zu so einem zum lernen schicken?“ Sebastian zuckte mit den Schultern „Vielleicht weil er gut ist? Ich habe gehört, er kümmert sich öfters um die Söhne reicher Handelsfamilien oder um junge Adelige mit Aufstiegschancen. Mitras ist vermutlich nicht sein einziger Schützling, ich habe nichtmal gewusst, dass er überhaupt von di Pinzon gefördert worden ist.“ Kira nickte nachdenklich. Mitras würde einen Grund haben, ausgerechnet diesen Adeligen als potentiellen Lehrer auszuwählen. Ihr wurde bewusst, dass das Treffen am Schengstag vermutlich eine Prüfung war, ob sie überhaupt aufgenommen wurde, und sie beschloss, sich sorgfältig vorzubereiten, um Mitras nicht zu enttäuschen. Dazu gehörte dann wohl gutes Aussehen und gute Gesprächsthemen. Also fragte sie Sebastian den Rest des Nachmittags über alles aus, was er zu den angesagten Gesprächsthemen rund um Uldum wusste – von Klatsch über das Königshaus bis hin zu den Unruhen, die in den Hafenbezirken wohl immer wieder aufkamen. Nebenbei erfuhr sie so auch, dass Maximilian Engel wohl in Adelskreisen sowohl berühmt als auch berüchtigt war. Die Zeitschrift, für die er schrieb, deckte Skandale auf – besonders in Adelskreisen. Sebastian sah das allerdings deutlich entspannter als Mitras, er hielt die „rote Nelke“ nämlich für eine hervorragende Informationsquelle, um langweilige Empfänge mit pikanten Gesprächsthemen füllen zu können. Er stellte auch die These auf, dass Engel mit irgendjemandem aus dem Königshaus verbunden sein musste, schließlich tauchte er immer wieder auf Feiern auf, obwohl ihn so richtig niemand da haben wollte. Kira gestand ihm dann doch, dass sie ihm heute Mittag begegnet war und erzählte von der Einladung seiner Großmutter. Sebastian fand die Einladung zu ihrer Überraschung völlig nachvollziehbar und empfahl „Julis und Roma“, ein Stück eines Rigaer Autors, das wohl gerade sehr angesagt war. „Es ist sogar ziemlich realistisch, obwohl es schon 100 Jahre als ist!“, sagte er und rieb sich dabei über die verletzte Wange. Kira versprach, es sich anzusehen und ihm anschließend zu berichten.

Kira kehrte erst kurz vor dem Abendessen von ihrem wöchentlichen Bibliotheksausflug zurück, also bat er sie danach ins Labor, wo er die Kette, die er bei seinem Vater mitgenommen hatte, bereit gelegt hatte. „Wann hast du eigentlich Geburtstag?“, eröffnete er das Gespräch in Erinnerung an den Auftrag seines Vaters. Sie blickte ihn verblüfft an. „Äh… 26. Samhain… warum?“ Mitras grinste in sich hinein. Gemessen an ihrer Reaktion auf die Ohrringe würde das hier sehr niedlich werden. „Naja, weil meine Familie meinte, sie müssten dir ja noch was zum Geburtstag schenken. Oder was zum Einstand. Auf jeden Fall sollst du was kriegen.“ Er holte die Schachtel hervor. „Das ist für meine beste Schülerin, damit sie bestens aussehen wird.“ Sie starrte einen Moment auf die Schachtel, nahm sie dann zögerlich an und setze sich auf ihren Stuhl. Mitras merkte, dass er sein Grinsen gar nicht unterdrücken konnte. Sie zu beschenken war besser als das sonstige Schenken, fiel ihm auf. Sie reagierte so herrlich. Vorsichtig öffnete sie die Schachtel und schaute hinein. Staunen und Freude waren deutlich auf ihrem Gesicht ablesbar und erfüllten ihn mit Zufriedenheit. „Mitras, das ist wunderschön!“, hauchte sie. „Und ganz passend zu den Ohrringen.“, ergänzte er selbstgefällig. Sie nickte und wischte sich leicht mit der Hand über das rechte Auge. „Danke!“ Sie nahm die Kette aus der Schachtel und versuchte, sie sich umzulegen. Er stand auf und fragte: „Soll ich?“ Sie nickte und reichte ihm die Kette und er beugte sich über sie, um sie ihr umzulegen. Sie roch nach etwas Rauch der Stadt, nach Wald und Karamell, das war ihm schon beim Kanalisieren öfters aufgefallen. Seine Hand strich kurz über ihren Hals und sie zuckte ganz leicht zusammen. Er unterdrückte den Impuls, sie ganz in den Arm zu nehmen, um sie vor den Schrecken, die selbst eine leichte Berührung für sie offenbar bedeutet, abzuschirmen. Er wollte sie beschützen, aber sie in den Arm zu nehmen, hätte wohl eher das Gegenteil bewirkt. Sie stand auf und der Drang verschwand so schnell, wie er gekommen war. Gemeinsam gingen sie zu ihrem Zimmer, wo sie die Kette noch ausgiebig im Spiegel bewunderte und sich etliche Male bedankte. Schließlich ging er wieder in sein Zimmer und sank glücklich auf sein Bett. Verblüffend, dass es so glücklich machen konnte, jemanden anderem eine Kleinigkeit zu schenken!

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