Die Grenzen meiner Sprache – 14. Lunet (Ingastag)

Kira hatte den Tag mit der Lektüre von „Wort und Sinn“ verbracht. Sie brannte darauf, mit Magister Mitras zu reden, denn immerhin ging es dabei ja ums Reden. Zum Ersten Mal seit ihrem Eintreffen hatte sie nicht das Gefühl, am Abend zu einer Prüfung zu müssen, sondern für ein Gespräch verabredet zu sein. Vielleicht lag es am Thema des Buches, vielleicht auch am gestrigen Abend. Sie nahm sich daher etwas Zeit, ihre Haare zu flechten und zog sich das burgunderfarbene Kleid an, das schien ihr für eine entspannte Abendkonversation unter gebildeten Menschen am besten. Gebildete Menschen! Als ob sie sich selbst vor einer Woche oder zweien so betitelt hätte! Bei dem Gedanken musste sie laut lachen, so dass ihr fast der Muschelohrring wieder herunter fiel, den sie gerade anstecken wollte. Sie hatte sich nicht geirrt. Es war nicht schlimm hier. Es war so viel besser als alles an Moor und Sumpf in Burnias. Es waren ja erst wenige Tage gewesen, aber ihr kam es so vor, als wären es schon Jahre, und sie fühlte sich bereits so wohl hier… und sie freute sich, mit Mitras über den gerade gelesenen Text sprechen zu können.

Pünktich um 18 Uhr stand sie vor der Labortür und klopfte. Mitras hatte sie wohl bereits erwartet, er öffnete ihr relativ schnell die Tür und bat sie herein. Sie betrachtete ihn prüfend. Er hatte Ringe unter den Augen, wenn man genau hinsah. Sie spürte einen Anflug von Sorge. Bestimmt waren diese Ringe auch am Anfang schon da gewesen, aber sie hatte sie nicht bemerkt, zu beeindruckt war sie von seiner Präsenz, seinem Gesamteindruck gewesen, zu ängstlich, zu schüchtern. Doch jetzt sah sie sie. Was belastete ihn? War der Generator ein solches Problem? Sie setzte sich vor ihn. Diesmal hatte sie ihre Notizen in ihrem Zimmer gelassen. Die Fragen des Textes schwirrten ihr noch genug im Kopf, das brauchte sie nicht ablesen. Mitras setzte sich auf seinen Stuhl und schaute sie auffordernd an. Kira lächelte ihn an. Lächeln half gegen schlechte Laune, und die hatte er offenbar, so schweigsam wie er war. „Ich habe heute das letzte Buch vor den Magiebüchern beendet, wie Sie es festgelegt haben. Es geht in ‚Wort und Sinn‘ um die Philosophie, insbesondere um den Zusammenhang unserer Sprache und unseres Denkens. Das Buch ist eine Sammlung verschiedener Aufsätze. Ich habe mir heute unter anderem den Aufsatz ‚Die Grenzen unserer Welt‘ von Ludwig Wittsein durchgelesen. Er schreibt, Grenzen, die die Bedeutung eines Wortes exakt festlegen, gäbe es beinahe nie. Sie würden von jeder Person selber gezogen werden. Als Ergänzung kann man sagen, dass jeder somit seine Wortbedeutungsgrenzen nach eigener Erfahrung zieht. Daraus schlussfolgert er, dass man an den Abgrenzungen und Wortinterpretationen eines Menschen erkennen kann, wie er die Welt sieht. Jemand, für den ein Spiel etwa mit den Begriffen ‚kindlich‘ und ‚unnütz‘ konnotiert ist, hat vermutlich eine andere Einstellung zum Verhältnis von Erwerbsarbeit und Vergnügen als jemand, der das Wort Spiel mit den Begriffen ‚Entspannung‘ und ‚Herausforderung‘ in Verbindung bringt.“ Kira hielt inne und wartete, ob Mitras sie korrigieren würde. Sie war stolz, das Wort ‚konnotieren‘ heute gelernt zu haben und hoffe, es richtig eingesetzt zu haben. Mitras nickte jedoch nur, also fuhr sie fort: „Wittsein sagt auch, dass die umgekehrte These ebenfalls gelte. Wo die Sprache endete, endete also auch die sichere, erfahrbare Welt eines Menschen und Angst und Ungewissheit träten an ihre Stelle. Was man nicht ausdrücken könne, sei nicht erfassbar, nicht beschreibbar und daher auch nicht Teil der Welt, die wir wahrnehmen könnten. Was denkt Ihr dazu? Ich denke, es gibt viel in dieser Welt, was ich nicht beschreiben kann, aber deswegen ist es trotzdem da, oder?“ „Das haben Sie gut erkannt. Ja, etwas beschreiben zu können, macht insbesondere das Abstrakte greifbar. Gerade Magie lässt sich ohne magische Sinne kaum erfassen oder gar begreifen. Sie in Worte zu fassen und damit zu beschreiben, ändert das. Dabei ist auch das sprachliche Medium entscheidend. In ‚Die bewegte Welt‘ haben Sie ja schon gesehen, wie die Mathematik zur Beschreibung der physikalischen Welt genutzt wird. Wittsein meint aber mit dem ‚Ende einer Welt‘ nicht, dass etwas, das nicht beschreibbar ist, nicht existiere. Er sagt nur aus, dass es für die Person, die es nicht in Worte fassen kann, nicht zur persönlichen Welt, quasi zu seinem Weltbild, gehöre.“ Kira dachte eine Weile nach. „Jemand, der keine magischen Sinne hat, kann kaum begreifen, wie es sich anfühlt, Magie zu wirken. Wenn ich es ihm aber beschreibe, bekommt er eine Vorstellung davon und das magische Wirken wird für ihn nicht mehr unerklärlich, sondern Teil seiner Vorstellungswelt?“ Mitras nickte und lächelte. „Der Begriff ‚Vorstellungswelt‘ ist hier wichtig. Was man denkt, wie die Welt sei, ist nicht immer, wie jemand anderes die Welt sich denkt. Wir stellen uns alle vor, wie etwas ist oder zu sein hat. Etwas, von dem wir nie gehört haben, wofür wir keine Worte haben, können wir gedanklich aber kaum verarbeiten, es kann nicht Bestandteil unserer Vorstellungen werden.“ Einen Moment schwiegen sie, in Gedanken versunken. Dann sagte Kira: „Aber was ist mit Träumen? Ich kann ja auch nur in Bildern oder nur in Gerüchen träumen. Sind das nicht trotzdem Teile meiner Vorstellungswelt?“ Mitras lehnte sich zurück und runzelte die Stirn. „Hmm. Ja, ich denke schon. Wittsein geht auf diese Aspekte nicht ein, oder?“ Kira schüttelte den Kopf. „Zumindest nicht in diesem Artikel. Ich habe bisher noch nie solche Texte gelesen oder mir über so abstrakte Theorien Gedanken gemacht, aber ich finde es spannend.“ „Das freut mich. Die Philosophie lehrt uns unter anderem, wie wir die Welt wahrnehmen, was uns dann wiederum dabei hilft neues zu verarbeiten. Dieser Bereich nennt sich deswegen Erkenntnistheorie. Wenn man den Prozess der Wissensaneignung elementar versteht, dann fällt das Lernen an sich leichter.“ Mitras wirkte nun viel gelöster und entspannter. Er begann verschiedene Aspekte der Erkenntnistheorien zu erläutern, und Kira hörte ihm gespannt zu. Irgendwann klopfte Abigail an die Tür und steckte auf Mitras Aufforderung den Kopf hinein. „Ich soll fragen, ob die Herrschaften mit uns speisen wollen. William meckert, dass er das Essen nicht zu lange warm halten will.“ Mitras und Kira blicken gleichzeitig zur Uhr. Es war bereits halb acht. Kira lief – mal wieder – rot an, doch Mitras lächelte sie breit an und reichte ihr galant die Hand zum Aufstehen. „Da haben wir glatt die Zeit verschwatzt. Wir kommen sofort, Abby“. Er stand auf und half auch Kira, während Abby bereits die Treppe wieder herunter ging. „Kira, ich muss Ihnen allerdings vorher noch etwas gestehen. Mein Tag war nicht besonders erfreulich. Danke, dass Sie ihm einen so angenehmen Ausklang gegeben haben. Ihre Fragen waren klug und angemessen. Auf den Gesellschaften wird man sich bestimmt bald um Sie als Gesprächspartnerin reißen.“ Kira, die vorher schon rot war, lief noch etwas dunkelroter an. „Danke.“, flüsterte sie und blickte schüchtern zur Seite. Ein solches Lob hatte sie nicht erwartet. War sie wirklich dabei, eine gebildete Frau zu werden? Bloß nicht eingebildetet werden, schalt sie sich innerlich. Aber er hatte Recht gehabt, es war ein tolles Gespräch gewesen. Besser als Mathe. Oh, Mathe. Das hätte sie ja eigentlich auch machen sollen. Sie blickte zu Mitras, der hinter ihr die Treppe herunter ging. Er schien nicht daran gedacht zu haben. Schnell drehte sie sich wieder nach vorne und grinste. Erstens, ihr Magister war doch nicht so perfekt durchgeplant, wie er erschien, und zweitens, kein Mathe heute. Perfekter Tag, auf jeden Fall!

Nach dem Essen ging Kira schon bald auf ihr Zimmer. Sie wollte den Brief an Adrian weiter schreiben. William hatte den Tisch abgedeckt und hatte sich dann verabschiedet, er wolle seine Schwester besuchen. Mitras war in seinen Gemächern, er bereitete das Laden des Generators vor. Abigail und Tobey waren das ganze Abendessen hindurch am Schäkern gewesen und hatten sich dann schnell verabschiedet. William hatte auf Kiras verblüfften Blick schmunzelnd erklärt, dass die beiden sich an diesem Tag vor 24 Jahren kennengelernt hätten, und dieses Ereignis stets jedes Jahr wieder feierten. Kira beneidete sie um ihre Ehe, die anscheinend von Liebe und Zuneigung geprägt war, auch wenn sie den lockeren Umgang der beiden manchmal befremdlich fand. Vielleicht auch spannend. Vielleicht sollte sie mal mit Abigail über Sex reden? Die Haushälterin konnte ihr vermutlich positivere Erfahrungen berichten. Kira verwarf den Gedanken allerdings rasch wieder. Warum sollte sie sich darüber Gedanken machen?
Sie fischte sich den Brief aus der Schublade und las die letzten Zeilen noch einmal, ehe sie ihn fortsetzte.

Stell dir vor, deine kleine Schwester wird vornehm. Heute habe ich sogar ein Lob meines Magisters bekommen, er fand nämlich das Gespräch zur Philosophie mit mir interessant. Wahrscheinlich klingt das jetzt schrecklich eingebildet, aber es war tatsächlich spannend, sich mit ihm zu unterhalten.
Wie läuft es in Bispar? Grüße Nathalia von mir. Ich hoffe, es geht euch allen gut und deine Winterreise hat sich gelohnt.

In Liebe, Kira

Sie las den Brief noch einmal, nickte dann zufrieden und faltete ihn klein. Morgen war Schengstag. Spätestens am Uldumstag wollte sie ja wieder in die Stadt, sie würde nur bis dahin herausfinden müssen, wo die Post ihre nächste Station hatte und was ein Brief nach Bispar kosten würde. Ein Geschenk würde sie immer noch schicken können, wenn sie etwas mehr Geld angespart hatte. Sie gähnte. Der Tag war durchaus anstrengend gewesen, merkte sie. Das ganze Sitzen am Schreibtisch war auch ungewohnt. Normalerweise bewegte sie sich ja viel mehr. Sie überlegte, dass sie vielleicht ab morgen vor dem Frühstück eine kleine Runde spazieren gehen sollte. Wenn man sich zu lange nicht bewegte, rostete der Körper ein, wusste sie aus der Schule und von Bruder Harras. Regelmäßige Bewegung ist wichtig. Außerdem würde sie dann etwas mehr von der Gegend sehen. Zufrieden mit diesem Plan zog sie sich aus, bürstete sich noch einmal vor dem Spiegel die Haare, zog dann ihren Schlafanzug an und ging schlafen.

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