Rückschläge – 9. Lunet 242, Schengstag

Als Mitras am nächsten Tag erwachte, spürte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Das Laden war reibungslos verlaufen, er hatte sich auch direkt danach hingelegt, war aber trotzdem um halb acht aufgewacht und deswegen frühstücken gegangen. Dann hatte er sich nach dem Frühstück aber wieder hingelegt, um noch ein wenig Schlaf zu bekommen. Kira hatte sich nicht zum Frühstücken zu ihm gesellt, aber er war zu müde gewesen, um sich darüber zu wundern, außerdem war er ja auch zu früh beim Frühstück gewesen. Der Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es erst kurz vor zehn Uhr war. Gerade mal vier einhalb Stunden Schlaf in der ganzen Nacht waren nicht eben viel. Er blickte sich weiter um und sah dann die Alarmglyphe am Spiegel. Entweder im Labor oder am Generator war irgendetwas schief gelaufen. Er sprang vom Bett und sammelte bereits die nötige Magie, um den Spiegel zu aktivieren. Eine kurze Formel, gefolgt von einer Geste und sein Bild verschwamm. Neben der roten Glyphe erschienen weitere mit Symbolen für die anderen Spiegel, durch die er von hier blicken konnte und er wählte schnell den kleinen Spiegel, der dem Generator gegenüber an der Wand hing. Beruhigt stellte er fest, dass alles in Ordnung war, also das Labor. Er berührte die entsprechende  Rune und sah die beiden Testgeneratoren. Der bereits aktivierte wies eine große Beule an der Oberseite auf und eines der Probegeräte war umgeworfen worden. Auf dem Ampermeter war kein Stromfluss mehr abzulesen. Er deaktivierte den Spiegel und schnappte sich schnell ein paar Sachen zum anziehen. Sobald er fertig war, hastete er zum Keller. Was war nur schief gegangen? Er hatte den Zauber doch genau analysiert. Wieso war es jetzt zu dieser Panne gekommen? 

Im Keller angekommen öffnete er schnell die Geheimtür und eilte ins Labor. Hastig wirkte er magische Sicht, um zu überprüfen ob der Zauber noch wirkte, aber außer von den Messgeräten nahm er keinerlei magische Energie wahr. Das Führungsrohr für das Elektrum war zu den Seiten hin offen und er blickte hinein. Der Zylinder war anscheinend leicht nach oben gekippt, hatte das hintere Lager zerstört und war dann in den oberen Rumpf gekracht. Die am Gehäuse angebrachten Eisenschienen hatten den Zauber dann anscheinend geerdet, so dass nicht noch mehr Schaden angerichtet wurde. Mitras fluchte: „Verdammt! Was bei allen Geistern der Erde…!“ Das umgefallene Gerät war zum Glück aus Silber und enthielt keine empfindlichen Glasteile. Es war weder verbogen, noch hätte etwas daran zerspringen können. Nachdem er es wieder aufgerichtet hatte, murmelte er: „Gut, wenigstens sind die Instrumente alle noch intakt. Der Generator lässt sich ersetzen, aber die Geräte kosten ein Vermögen. Gut zu wissen, dass die Eisenbänder geholfen haben. Gut, Mitras, das wird schon. Sammel dich und dann lass uns herausfinden, was hier passiert ist.“ Noch etwas fahrig, sog er tief die Luft ein und sammelte sich. Die nächste Stunde verbrachte er damit, die magischen Sensoren zu analysieren und ihre Ergebnisse auszuwerten. Es war ein mühsamer Prozess, der immer wieder das Wirken von Hellsichtszaubern und anderen Analysezaubern erforderte, die wirklich nicht seine Spezialität waren. Doch langsam eröffnete sich ihm, was passiert war. Anscheinend hatte der Zauber anfangs gut funktioniert, aber dann schien er sich von der Stelle, an der er angeheftet war, zu lösen. Die Wirkung verlagerte sich und plötzlich wurde der Zylinder vom Zauber gegen die Oberseite geschmettert. Dabei war die Wucht so groß, dass die Lagerung, in die der Zylinder eingespannt war, komplett zerrissen wurde. Danach erfolgten noch weitere Schläge, bis der Mantel riss und das Elektrum gegen die magische Erdung stieß.

Kira erwachte erholt. Sie kuschelte sich noch einen Moment in die Decken, dann blinzelte sie sich wach. Draußen war es noch dunkel. Vorsichtig angelte sie nach der Lampe neben ihrem Bett und knipste sie an. Nach einer Weile wurde es so hell im Zimmer, dass sie die Uhr auf dem Schreibtisch lesen konnte. Es war viertel vor sieben. Kein Wunder, dass sie sich so erholt fühlte. Sie lauschte einen Moment, im Haus war es ziemlich still. Sie lächelte in sich hinein. Jetzt gleich mit Mathematik anzufangen, klang gar nicht so verlockend, aber da sie wach war, könnte sie ja in dem Buch von Niggel lesen. Sie knautschte sich das Kissen zurecht, lehnte sich gemütlich an und begann, das erste Kapitel zu lesen. Neben langatmigen Ausführungen zur richtigen Einstellung, etwa dem richtigen Maß an Bescheidenheit oder der Grundeinstellung zu Vertrautheit, gab es eine Einführung in Stände, Ränge, Titel und unterschiedliche Anreden. Ab und zu ließ sie das Buch sinken und übte die Formulierungen oder Gesten, die sie fand. „Sehr wohl, Mylord.“ Es war, so ganz allein und im Schlafanzug im Bett sitzend, manchmal ein bisschen albern, also kicherte sie zeitweise leise in sich hinein. Nach und nach hörte sie erste Geräusche im Haus und nach einer längeren Weile, draußen war es schon hell geworden, hörte sie Schritte auf dem Flur näherkommen und dann eine Tür, aber dann wurde es wieder ruhig. Offenbar war Mitras von unten hochgekommen und in sein Zimmer gegangen. Vielleicht war er beim Generator gewesen? Was hatte der dann den Rest der Nacht gemacht? Gestern abend, als sie schlafen ging, war er ja anscheinend in seinem Zimmer gewesen… Kira grübelte, beschloß dann aber, ihn einfach beim abendlichen Bericht zu fragen. Sie schaute auf die Uhr und erschrak. Es war schon neun, sie hatte das Frühstück vergessen! Rasch legte sie sich ein Lesezeichen in das Buch und stand auf. Nach einer kleinen Wäsche zog sie sich an. Ihr Kleid von gestern war noch sauber genug, beschloß sie, und ging dann rasch nach unten. In der Küche stand William und knetete einen Teig. Auf der Arbeitsfläche stand wieder ein Frühstückstablett mit einem Zweig, allerdings war es diesmal ein schön gebogener Zweig eines Stechbusches, mit kleinen, roten Früchten daran. „Na, ausgeschlafen?“, lachte er sie an. Kira lief feuerrot an. „Entschuldige, ich habe gelesen und die Zeit vergessen.“ William rollte die Augen, lachte aber weiterhin. „Nein, Abby lässt sich entschuldigen, sie musste heute früh weg und konnte dich deshalb nicht wecken. Sie nahm an, dass ausschlafen dir ausnahmweise auch nicht schaden würde. Du musst dich für nichts entschuldigen oder rechtfertigen. Mitras hat heute auch früh gegessen, aber der war so fertig, der wäre eh keine Gesellschaft für dich gewesen. Ich würde dir ja Gesellschaft leisten, aber wie du siehst, sind meine Hände gerade anderweitig gebunden.“ Er hob die Hände voller Teig hoch. Kira trat neugierig heran und linste in die Schüssel. „Was wird das denn?“ „Kekse!“, verkündete William. „Gehörst du auch zu den Mädchen, die ungemein gerne Kekse ausstechen?“ Kira nickte begeistert. „Na, dann musst du wohl heute nachmittag wieder herkommen und mit mir Kekse ausstechen.“ Kira grinste ihn an und machte einen kleinen Knicks, wie er laut Niggel für gleichrangige Adelige genutzt wurde. „Mein Herr, es wäre mir eine Freude, Ihnen behilflich sein zu dürfen.“ William zog kurz die Augenbrauen hoch und lachte dann. „Oh, hat unsere Lady also vor, den alten William noch zu adeln?“ Kira schüttelte den Kopf. „Aber hat man das erkannt? Ich habe ein Buch über Begrüßungen und andere Regeln ausgeliehen und wollte nur üben… “ William nickte, nun ernst geworden. „Ja, das hat Mitras früher auch mit mir gemacht. Ich musste alles mögliche sein, ich glaube, ich kannte den Niggel nachher besser als er selber.“ Kira blickte ihn erstaunt an. „Ist Magister Mitras nicht von Geburt an adelig gewesen?“ „Nein, seine Familie ist zwar immer schon ganz gut gestellt gewesen, aber die Venaris waren bis zu Mitras eine Händlerfamilie ohne viele magische Sprösslinge. Du hättest seine Mutter sehen müssen, als Lord Christobal mit ihm im Schlepptau ankam und ihr eröffnete, er habe in seinem Garten die Erde magisch verformt.“ William gluckste bei der Erinnerung. „Sie brach mitten in ihrer Entschuldigungsflut ab und fragte ihn: Verzeiht, Mylord, aber was haben Sie gesagt? Magisch? Unser Mitras ist magisch? Und als er ihr es bestätigte, ist sie beinahe vor Aufregung in Ohnmacht gefallen!“ Kira musste unwillkürlich bei seiner Erzählung mitlachen, doch schon rasch obsiegte ihre Neugierde. „Ihr kennt euch schon so lange?“ „Seitdem wir Pferdeäpfel auf Kutschen werfen konnten.“, sagte William sichtlich stolz. „Aber, Lady Kira, ihr solltet nun wirklich essen. Ewig bleibt der Tee auch auf dem Stöfchen im Esszimmer nicht warm.“ Kira zögerte, eigentlich interessierte sie die Vergangenheit ihrer neuen Mitbewohner sehr. Aber William hatte sich schon wieder seinem Teig zugewandt, also ging sie ins Esszimmer und frühstückte. Was Magister Mitras wohl für ein Junge gewesen war? Pferdeäpfel klang irgendwie wild, gar nicht so beherrscht und beherrschend, wie er ihr jetzt vorkam. Es klang fast wie sie selber… Sie grinste bei den Erinnerungen an die zahllosen Streiche, die sie den anderen Dorfbewohnern gespielt hatte, ohne dass diese je wussten, wer es gewesen war. So wie sie den Sturm hatte kommen sehen, konnte sie oft an guten Tagen auch dafür sorgen, dass andere sie gar nicht so gut sahen, indem sie sich dunkle Kleidung aus dem Schrank ihres jüngeren Bruders holte und sich hinter Sträuchern, Bäumen oder Ecken verbarg. Und dann hatte der Schlachter, ein grober Mann, der Kira oft genug anfauchte, schonmal plötzlich einige Pferdeäpfel auf dem Kutschensitz gehabt, gerade, als er wieder mal besonders gut aussehen wollte, um eine Durchreisende zu beeindrucken… oder Bauer Bohnsack, der nie rausgefunden hatte, wer ihm die weißen Puderbomben auf den schwarzen Anzug geworfen hatte und warum… Kira kicherte. Sie hatte gewusst, warum: Immerhin hatte er zuvor Bruder Harras als Nichtsnutz bezeichnet. Ja, das war lustig gewesen. Und verdient dazu. Sie fragte sich bis heute, wie sie aus der Entfernung vom Dach des Hauses ihrer Eltern aus eigentlich genau ihn und nicht seine neben ihm laufende Frau getroffen hatte, aber der Effekt war auf jeden Fall hervorragend. Wie der geschimpft hatte! Gut gelaunt beendete Kira ihr Frühstück und ging nach oben. Mathematik würde sie ja auch nachher machen können, erstmal stand ihr zweites Lieblingsgebiet, Flora und Fauna, an. Sie angelte sich ein neues Heft für Notizen, schlug das erste Kapitel auf und begann zu lesen.

Sowohl Pflanzen als auch Tiere Albions unterschieden sich in verschiedene Gattungen und Arten. Einige Arten wiederum entwickelten, ähnlich wie bei den Menschen, Unterarten, die mit der Magie von Gäa auf unterschiedliche Art interagierten. Sie konnten sie aufnehmen und speichern, beeinflussen oder sogar für bewusste Zauber nutzen. Kira studierte kurz das Inhaltsverzeichnis und entschied sich dann, für den heutigen Abend einen Vortrag zu den Pflanzen vorzubereiten, die magische Energie speichern konnten und somit gerade in der Alchemie von Interesse waren. Das würde Magister Mitras vermutlich auch interessieren, und sie wusste bisher sehr wenig darüber.

Als sie nach etwas mehr als einer Stunde gerade dabei war, eine Übersicht über die verschiedenen Speicherungsvarianten anzulegen, hörte sie plötzlich, wie es draußen heftig rumpelte. Neugierig stand sie auf und öffnete ihre Tür. Auf dem Flur war niemand. Doch dann wurde die Tür von Mitras Schlafgemach aufgestoßen, und Mitras eilte ohne sich umzusehen die Galerie entlang. Er trug eine Hose, war aber barfuß, und sein Hemd steckte er im Laufen in den Hosenbund. Kira folgte ihm. Was war los? Mitras hastete die Treppe herunter und dann in den Keller. Nun war Kira ernsthaft neugierig, auch wenn sie diese Neugierde zumeist nur in schwierige Situationen brachte. Was war im Keller, das so eine Eile auslösen konnte? Sie zögerte kurz. Sie war erst kurz hier, sie sollte nicht spionieren. Doch die Neugierde siegte auch dieses Mal, und so folgte sie ihm vorsichtig. Im Keller war es dunkel, so dass sie eine Weile warten musste, ehe sich ihre Augen daran gewöhnt hatten. Dann stellte sie fest, dass sie quasi vor einer Mauer stand. Oder, genauer gesagt, die Mauer stand vor ihr, nämlich am Ende der Treppe. Über das Holzgeländer hinweg konnte Kira sehen, dass rechts von ihr ein kleiner, ziemlicher leerer Raum lag, von dem wieder ein Flur abging, wie er auch in den beiden oberen Geschossen lag. Die Mauer vor ihr war, wie sich bei näherer Betrachtung ergab, eigentlich wohl eine Tür, die gerade offen stand. Eine Geheimtür, schoß es ihr durch den Kopf, und sie blieb zögernd auf der Treppe stehen. Sie sollte nicht hier sein. Egal, rief die Stimme in ihrem Kopf. Du solltest auch keine Farbbomben werfen, und das hast du trotzdem gemacht, und auch zu Recht. Sie holte Luft. In Ordnung, dann aber ganz vorsichtig, sagte sie zu sich selber, und begann tief und ruhig durch die Nase zu atmen, wie sie es als Kind so oft getan hatte, wenn sie unentdeckt bleiben wollte. Dann drückte sie sich vorsichtig an der Tür vorbei und lugte in den Raum dahinter. Er glich ein wenig dem Labor oben, nur dass die Mauern hier nicht verputzt waren. Rechts von ihr stand ein einfaches Regal voller Schubladen mit metallenen Teilen und Werkzeugen. Vor ihr war eine Art Ritualkreis in den Boden gemeißelt und weiter links stand ein Schreibtisch an der Wand. Es war der gleiche Tisch, der auch oben im Labor ihrem Magister als Arbeitsplatz diente. An der Wand daneben war ein weiteres großes Regal. Dieses war voller Schubladen, sie konnte in dem schummrigen Licht erkennen, dass aus einigen Büschel von Kräutern herauslugten. Ganz langsam schob sie ihren Kopf weiter in den Raum hinein und lugte vorsichtig um die Ecke. Sie konnte Mitras nach wie vor nirgends entdecken, sah nun aber, dass der Raum noch eine Nebenkammer hatte, die mit einem schweren Netz abgetrennt war. Der Bereich schien besser erleuchtet, zumindest glitzerte das Licht durch den Vorhang, und Kira sah eine Bewegung dahinter. Rasch zog sie den Kopf zurück, auch wenn Mitras sie sicher nicht hatte sehen können. Ihr Herz klopfte. „Verdammt! Was bei allen Geistern der Erde…!“  schallte es aus dem Raum, was sie heftig zusammenzucken ließ. Dann hörte sie etwas rumpeln und klirren. Ob dort etwas kaputt gegangen war? Stand dort der Generator? Vorsichtig schaute Kira noch einmal in den Raum. Das Licht war ja noch an, also war der Strom noch da. Vielleicht ein anderes Experiment? Aber warum gab es hier ein zweites Labor? Ein geheimes? Was für Praktiken studierte ihr Magister hier? Kira spürte, wie ihr Schauer den Rücken herunter liefen. Mitras war so nett und warmherzig zu ihr gewesen. War das nur Schauspiel? Selbst in Bispar gab es ständig Kämpfe darum, wer als nächstes dieses elendige Kaff regieren durfte, wie musste das erst in der Hauptstadt sein? War Mitras an geheimen Komplotten beteiligt, die er magisch unterstützte? Sie hörte ihn etwas murmeln. Vorsichtig ging sie rückwärts aus der Tür hinaus. Bloß nicht erwischen lassen. Bloß nicht erwischen lassen. Sie hielt den Atem beinahe an, während sie vorsichtig die Treppe wieder nach oben schlich. An der Kellertür schaute sie sich ebenso vorsichtig um, doch weder Abigail noch William waren zu sehen. Ob sie überhaupt eingeweiht waren? Ob all die Freundlichkeit nur dazu diente, sie einzulullen? Kira floh geradezu die Treppe hinauf und schloß sogar ihre Zimmertür hinter sich ab, ehe sie sich mit einem Seufzer auf den Schreibtischstuhl plumpsen ließ. Was sollte sie jetzt nur tun?

Die nächste Stunde verbrachte sie grübelnd. Alles, was sie bisher im Haus erlebt hatte, war freundlich gewesen. Sie erinnerte sich, wie liebevoll Abby gewesen, wie offen und angenehm das Abendessen war. Sie erinnerte sich an das entspannte Lachen. Sie dachte an die Geschenke und Mitras ruhige, fast liebevolle Art. Sie dachte an seine bedrohliche Präsenz am Anfang. Hatte er Angst um seine Geheimnisse gehabt? Hatte er sie deswegen nicht da haben wollen? Würde der Erzmagier sie irgendwann beordern und ihr eröffnen, dass er sie trotz ihres geringen Talentes nur deswegen zugelassen hatte, damit sie Mitras beobachten konnte? Sie kannte soetwas, in Bispar pflegte man sich stets selbst zum Essen „einzuladen“, wenn man etwas wissen wollte. Aber Mitras war ihr Mentor, also war sie ihm Loyalität schuldig. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken, dem Erzmagier, der sie so abfällig betrachtet hatte, irgendetwas zu schulden, ihm irgendetwas zutragen zu müssen, was Mitras, Abby oder William schaden könnte. Oder Tobey, ergänzte sie noch. Auch wenn sie ihn selten sah, mochte sie ihn dennoch. Langsam ordnete sich ihre Panik. Ich mag alle hier, realisierte sie. Es ist viel besser als zuhause, wo ich ständig befürchtete, im nächsten Moment von Mama oder einer der anderen Dorfweiber angekeift zu werden, oder von Papa wieder den Stock zu spüren zu bekommen, weil ich wieder etwas anders gemacht habe, als er es wollte. Kira atmete tief aus. Es war besser als zuhause, wiederholte sie sich, und erinnerte sich an Abby, die ihr gestern abend erst so warmherzig und wundervoll erschienen war. Jemand wie Abby wird nicht einem schlechten Herrn dienen, sie widerspricht ihm ja sogar, sagte sie sich. Was auch immer Mitras verbarg, es würde nichts allzu böses sein. Sie dachte an Williams Kommentar zum Werfen von Pferdeäpfeln und wie nah sie sich den beiden gefühlt hatte. „Und selbst wenn, ich gehöre jetzt zum Haus, und ich will lieber hier leben als in der Marsch!“, flüsterte sie fast grimmig in sich hinein. Entschlossen zog sie das Notizheft zu sich heran und begann, ihre Übersicht zu den Speicherformen und Pflanzenmagie zu vervollständigen. Da sie beinahe fertig gewesen war, dauerte das nicht allzu lange. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es erst ein Uhr war. Ein bisschen Kekse backen passt noch, entschied sie. Mathematik kann ich später auch machen, und dann schaue ich nochmal in den Niggel. Auch wenn Mitras vielleicht nicht böse ist, ich sollte mich ihm gegenüber standesgemäß verhalten und nicht zu sehr vereinnahmen lassen. Zum Haus zu gehören, heißt ja nicht, dass man alles mitmachen muss, beschloss sie ihre Gedanken so selbstbewusst wie möglich.

William war nicht in der Küche, aber Kira fand ihn im Esszimmer, wo er gerade einige Brote aß. „Na, auch Hunger?“ Kira schüttelte den Kopf. Das Frühstück war noch nicht so lange her, und der Schreck von vorhin hatte sich zwar gelegt, aber richtig Appetit hatte sie auch noch nicht. „Nein, ich wollte fragen, wann du denn Kekse machen willst.“ „Ha, eigentlich gleich, du kommst genau richtig. Der Teig ist noch in der Kühltruhe, du kannst ihn aber schon rausholen und ausrollen, wenn du magst. Mehl und Werkzeug habe ich schon auf die Arbeitsfläche gelegt.“ Kira nickte. „Wo ist denn die Kühltruhe?“ „Du gehst in der Küche nach unten in den Keller, dann ist gleich links an der Wand die Truhe.“ Tatsächlich war es einfach, die große Box zu finden, die mit einem Kältezauber belegt war. Kira öffnete die Tür und fand den Teigklumpen in Wachspapier eingewickelt. Sie holte ihn heraus, schloss die Truhe wieder sorgfältig und ging nach oben. Eine Weile kämpfte sie schon mit dem noch harten Teig, als William hereinkam. Er sagte etwas zu jemandem, der hinter ihm im Essraum stand, aber Kira, die gerade versuchte, eine gleichmäßige Dicke der Teigschicht zu produzieren, achtete nicht darauf. William räumte das Geschirr weg und betrachtete dann das Ergegnis ihrer Mühe. „Ha, das ist wohl nicht das erste Mal, hmm? Sehr gut. Wenn du als Magierin nicht taugst, kann ich dich ja auch Kochgehilfin anstellen.“ Kira wusste nicht, ob sie darüber lachen wollte, also sagte sie einfach gar nichts. William holte Keksausstecher aus einer Schublade und sie stachen und rollten eine Weile friedlich schweigend gemeinsam Kekse aus, die William dann in den Ofen schob. Schon nach einer halben Stunde begann die ganze Küche verführerisch zu duften. William zeigte ihr, wie sie die fertigen Kekse mit Zuckerguß verzieren konnte, den er aus Wasser und fein gemahlenem Zucker fertigte. Kira spürte, wie sie sich weiter entspannte. Vielleicht hat William gar nicht so unrecht, beschloß sie. Wenn ich wirklich zu schlecht als Magierin bin, kann ich Köchin oder doch Gärtnerin werden. Ich könnte sogar hier ausgebildet werden, wenn Mitras es erlaubt. Eigentlich sind beides auch ganz schöne Arbeiten. Und William ist auch nett. Sie nahm einen der Kekse und probierte ihn. Er schmeckte gut, und sie dachte: „Ich glaube wirklich nicht, dass Mitras etwas böses im Keller versteckt. Köche von bösen Menschen können doch unmöglich so gute Kekse backen.“ Rasch stahl sie sich noch einen vom Blech, was William mit einem strafenden Blick und einem Zwinkern quittierte.

Erschöpft ließ Mitras sich in den Stuhl an seinem Arbeitstisch sinken. Der Zauber war gewandert. Anstatt, dass er an der Stelle blieb, an der er angeheftet wurde, war er regelrecht durch das Material geflossen. Das deckte sich mit der Eigenschaft, dass magische Energie innerhalb des Elektrumkörpers nicht still stand. Alle Zauber, die er bisher gewirkt hatte, legten sich um den gesamten Zylinder und drangen nicht in das Material ein. Der Rammbockzauber aber legte sich wie eine zupackende Hand um einen Punkt des Materials und drang auch in das Material ein. Er war wie eine Kugel, die teilweise im Zylinder lag, geformt. Das war ein völlig neues Problem, das er so gar nicht erwartet hatte. Ein weiteres Rätsel des Elektrums. Er fertigte schnell einige Notizen an. Es war dringend notwendig, dass er diese neue Erkenntnis niederschrieb und weiter erforschte. Er musste schnellstmöglich eine Abhandlung über diese Entdeckung verfassen und sie der Generalität zukommen lassen, damit sie gewarnt waren und sich auf diesen neuen Umstand einstellen konnten. Andererseits, dachte er, vielleicht ließ sich dieses Verhalten auch noch anders nutzen. Aber beides musste warten. Er war komplett erschöpft und beschloss bis 17 Uhr zu schlafen. Auf dem Weg nach oben ging er noch kurz in die Küche, um mit William über den Fehlschlag zu reden. Dort war er jedoch nicht. Die Türen zum Keller und zum Esszimmer standen beide offen. Schon halb auf dem Weg zum Keller, sah er ihn im Esszimmer sitzen, wie er gerade sein Brot zuende aß. „Ha, ich scheine heute sehr anziehend auf euch Magier zu wirken, gerade, wenn ich wohl mal Pause mache.“ rief William ihm zu. Mitras gesellte sich zu ihm: „Wieso, war Kira auch gerade hier, sich ein Mittagessen abholen?“ fragte er. „Ja und nein. Deine Schülerin ist jetzt erstmal meine Schülerin. Ich hatte sie heute Morgen gefragt, ob sie mir beim Kekse machen helfen will. Sie hat ja auch mal eine Pause nötig. Jedenfalls ist sie gerade im Keller und holt den Teig. Und was ist mit dir? Möchtest du noch ein Mittagessen?“, fragte er und war schon aufgesprungen und halb in die Küche gelaufen. Erschöpft streckte Mitras den Rücken durch und antwortete: „Nein, ich will mich gleich wieder hinlegen. Ich war bis eben im Keller. Das Experiment mit dem neuen Zauber ist katastrophal fehlgeschlagen. Der eine Testgenerator ist hin und ich werde ihn ersetzen müssen. Schlimmer noch, das Elektrum reagiert schlecht auf Zauber, die nur auf einen Teil des Materials wirken. Ich muss die Ergebnisse sehr bald auswerten und eine Abhandlung dazu anfertigen und insbesondere die Generalität warnen. Ich werde heute Abend vor Kiras Stunde noch eine Nachricht aufsetzen und auch eine an meine Schwester. Ich fürchte, ich muss den Ausflug morgen absagen. Wir müssen uns jedenfalls auf dem Weg heute Abend noch einen vertrauensvollen Boten suchen, bevor wir zu Titus gehen.“ Mitras war ernsthaft niedergeschlagen und frustriert. Das dem Fehlschlag nun auch noch das Treffen mit seiner Schwester zum Opfer fiel, störte ihn am meisten. Er hatte sie schon zu lange nicht mehr gesehen und sich schon sehr auf den morgigen Tag gefreut. „Ha, der Ausflug wird dann wohl nichts, aber du kannst sie ja trotzdem zum Abendessen einladen oder etwa nicht?“, entgegnete William. „Ja, da hast du wohl recht. Ich setze die Schreiben nachher auf, aber jetzt muss ich dringstens noch ein paar Stunden Schlaf nachholen.“ Mitras verließ das Esszimmer, ging in seine Gemächer und legte sich wieder schlafen. Frustriert wälzte er sich noch eine Weile hin und her, da ihm die Sorgen um die Zukunft seines Projekts nicht los ließen.

Als aller Teig verarbeitet war und etwa die Hälfte der Kekse auch verziert war, fiel ihr Mathematik wieder ein. Sie schaute sich suchend um und entdeckte eine Uhr über der Küchentür. Eigentlich war es ein weißer, verzierter Teller mit blauen Zahlen, an dem die Zeiger einer Uhr angebracht waren, und sie musste einen Moment lang überlegen, ehe sie realisierte, dass es schon kurz vor fünf war. „Du meine Güte! Schon fast fünf! Ich muss noch Mathe machen!“ „Na, dann wohl hopp! Du kannst die Pinsel da einfach liegen lassen, ich mache sie später sauber!“, sagte William. Rasch wusch sie sich die Hände und eilte nach oben.

Da die Zeit etwas knapp war, blätterte sie rasch zu den Übungsaufgaben des ersten Kapitels. „Einfache Exempel“ Na, super. Das Wort „einfach“ sollte in Mathebüchern verboten sein, fand sie. „Ein Tuch Gewand hält 24 Ellen, kostet 2 Silber. Wie kommen 14 Ellen?“ Kira schaute die Aufgabe an. Sie erinnerte sich, das in der Volksschule im Dorf schon gehabt zu haben, und natürlich hatte auch ihre Mutter ihr immer wieder eingebläut, dass sie das kaufmännische Rechnen sicher beherschen müsste. Sie zeichnete ein Kreuz in ihr Notizbuch. 24 zu 2. Und 14 zum Unbekannten. Was musste man nochmal rechnen? 24 durch 2 und dann mal 14? Sie rechnete. 168 Silber. Sie schaute irritiert auf ihr Blatt. Das war doch weniger Stoff, warum sollte es so viel mehr kosten? Aber man kann ja nicht 24 durch 14 mal zwei rechnen…oder zwei durch 24, das geht noch weniger. Das „einfach“ da oben war definitiv falsch! Sie schaute sich die nächste Aufgabe an. „Item 6 Ellen per 2 Silber 4 Schilling, wie kommen 28 Ellen?“ Hmm, da muss man die Silber erstmal in Schilling umrechnen, also 204 Schilling. Und dann? 6 durch 204 oder 204 durch 6? Musste das Geld nicht immer oben links in die Ecke? Sie schrieb 204 in die obere Ecke des Kreuzes, 6 nach unten und 28 nach rechts oben. Also 204 durch 6 mal 28. Sie rechnete schriftlich 204 durch 6. 34. Hmhm. Und 34 mal 28. Bahh. Ich hasse Mathematik, beschloß sie innerlich. Deswegen wollte ich doch auch nicht Händlerin werden. 952. Also 9 Silber und 52 Schilling. Das macht mehr Sinn, überlegte sie. Siehste, geht doch. Sie schob das Mathematikbuch und das Heft beiseite und schaute auf die Uhr. Noch 20 Minuten, das würde eh nicht für noch eine Aufgabe reichen. Rasch griff sie sich den Niggel und schlug das Kapitel „Magier unter sich“ auf. Sie war jetzt Discipula. Mitras war Magister. Wie hatte sie ihn offiziell zu begrüßen und zu titulieren? Interessiert las sie, dass es sogar eine vertraute Anrede, nämlich Sensei, gab, die man nutzte, wenn man ein gutes Verhältnis zum Mentor hatte. Naja, davon waren sie ja gerade noch ziemlich weit entfernt. Der Begriff stammte wohl aus dem Westen und war von den Angshire mitgebracht worden. Derzeit waren aber wohl eher „Magister“ oder „Meister“ angebracht, aber das letztere war unüblicher und bezog sich mehr auf die Lehre. Dass Mitras sie mit dem Vornamen anredete, erfuhr sie, war eigentlich unüblich. Man pflegte „Discipula“ oder „Schülerin Kira“ zu sagen. Nunja, Mitras redete aber alle im Haus zwanglos an. Sie betrachtete die Anleitungen, wie man durch den Knicks bei der Begrüßung den Grad der Vertrautheit und Ehrerbietung abbilden konnte und entschied sich, eine etwas distanzierte, aber sehr ehrenvolle Variante auszuprobieren. Schwungvoll klappte sie das Buch zu, übte den Knicks einmal vor dem Spiegel, nahm dann ihre Unterlagen und ging zum Labor.

Mitras öffnete auf ihr Klopfen hin. Er sah irgendwie zerknautscht aus, fand Kira. Sie knickste wie geübt. „Magister Mitras, ich melde mich wie besprochen zum Gespräch.“ Mitras zog ein wenig die Augenbraue hoch, reagierte aber nicht auf ihre höfliche Begrüßung, sondern öffnete einfach die Tür und bat sie so wortlos herein. Etwas verschüchtert betrat Kira das Labor und setzte sich auf ihren Stuhl. Sie hatte nicht so viele Notizen wie gestern vorbereitet, aber über Pflanzen konnte sie ja auch so reden. Mitras setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber und betrachtete sie. „Äh, ja, also ich hab heute was zur Flora gelesen, und zwar Pflanzen, die magische Energien speichern können. Das ist Kapitel 3 in „Flora und Fauna Albions“. Ich habe einiges über die verschiedenen Arten von Pflanzen schon bei Bruder Harras gelernt, aber über Magiespeicherung wusste ich noch nicht so viel. Ich dachte mir, das ist vielleicht auch für die Alchemie interessant?“ Sie schaute ihn an, doch sein Gesicht ließ keine Regung erkennen, also fuhr sie fort und stellte ihre Übersicht vor, erklärte dabei auch, wie man die unterschiedlichen Arten bestimmen konnte und welche grundlegenden Möglichkeiten zur Bestimmung von Pflanzenarten es gab. „Die Alchemie ist deutlich älter als die wissenschaftliche Erforschung der Magie, aber ja, ihre Beobachtung ist korrekt. Auch wenn viele alchemistische Erzeugnisse komplett nichtmagisch sind, so haben magische Pflanzen schon früh eine hohe Bedeutung erlangt, auch wenn erst in der modernen Forschung der Grund dafür erkannt wird. Die Alchemie beschränkt sich aber nicht nur auf Pflanzen, sondern auch auf Mineralien und Metalle. Beides wird in der heutigen Forschung in der systematischen Alchemie viel stärker erforscht als die Pflanzen unserer Welt. Sie bereiten allerdings auch deutlich größere Probleme.“, dozierte er etwas monoton im Anschluss an ihre Ausführungen und wirkte beim letzten Satz besonders zerknirscht. „Was haben Sie zur Mathematik vorbereitet?“ Kira seufzte, innerlich enttäuscht, dass er sich für die Pflanzenwelt so gar nicht zu interessieren schien, obwohl er doch gestern von dieser Perspektive recht angetan war. „Ähm, nicht so viel. Ich hab das erste Kapitel angefangen, und zwei Übungsaufgaben probiert, aber die erste ist irgendwie komisch…“ Sie reichte Mitras das Heft, der ihre Aufzeichnungen einen Moment lang studierte. „Ihre Kommentare haben ja schon erahnen lassen, dass Mathe Ihre Schwäche ist, aber das hier ist für eine Kaufmannstochter reichlich schlimm, finden Sie nicht? Sie raten ja bloß!“ Kira spürte, wie sie vor Scham rot anlief. „Ist das alles falsch?“, fragte sie leise. „Falsch? Naja, sie können immerhin Silber in Schilling umrechnen.“, spottete Mitras. „Aber sonst? Offenbar hatten Sie Unterricht zum Rechnen im Dreisatz in der Schule, sonst wüssten Sie nicht, dass man dieses Kreuz machen kann, obwohl es doch eher für die etwas schlichteren Charaktere gedacht ist, eine Rechnung so zu notieren. Aber hier ist alles vertauscht, und hier, in der zweiten Aufgabe, da rechnen Sie zwar das richtige, aber das ist wohl eher Zufall, weil die Notation auf jeden Fall Pferdemist ist.“ Er stach dabei mit dem Finger beinahe durch das Blatt, als er auf die Rechnung zeigte. „Sie haben Kekse gebacken, ja? Aber bestimmt nicht das erste Kapitel auch gelesen, sonst wüssten sie, dass man gleiche Einheiten auch auf die gleiche Ebene schreiben muss. Und das ist nur eine simple Kaufmannsrechnung, wie wollen Sie jemals komplexe magische Strukturen nachvollziehen können, wenn Ihnen so etwas simples wie oben und unten schon Probleme bereitet?“ Kira sackte in sich zusammen. Sie spürte, wie ihr die Tränen die Wangen herunter liefen. „Ich kann Mathe einfach nicht… in den Büchern ist das immer so kompliziert erklärt…“, versuchte sie sich zu retten. „Dafür müssten Sie die Bücher ja erstmal sorgfältig lesen, um das beurteilen zu können. Ich glaube, Sie wollen das eher nicht.“ Kira blickte ihn flehend an und schüttelte heftig den Kopf. „Nein, Magister, ich will schon. Aber ich wollte auch machen, was Sie gesagt haben, Pause machen und Pflanzen zur Alchemie anschauen und ich hab ja versucht, es richtig zu machen, aber es ist einfach wie ein Knoten in meinem Kopf!“, protestierte sie unter Tränen. Mitras schnaubte. „Das werden wir ja sehen. Morgen der Ausflug ist abgesagt. Sie können die Zeit ja nutzen, um über ihre Haltung zur Mathematik zu reflektieren. Miras prüfe ich es dann nochmal. Sie sind entlassen, Discipula.“ Er nutzte die offizielle Handbewegung, mit der man einen Angestellten oder Nichtadeligen wegschicken würde, erkannte Kira, und so nahm sie ihre Unterlagen und schlich aus dem Raum zurück in ihr Zimmer. Diese blöde Mathematik. Und Mitras war auch blöd. Erst sagte er, sie sei adelig, und dann behandelte er sie doch wie eine Nichtadelige. Sie warf sich aufs Bett und heulte in die Kissen. Tief in sich drin wusste sie, dass es ihr eigener Fehler war, sich vor Mathematik zu drücken, wie sie es auch schon im Fernunterricht getan hatte, aber jetzt gerade hasste sie einfach alles, was mit Magie und diesem doofen Magister zu tun hatte, und Mathematik ganz besonders.

Mitras saß noch eine Weile in seinem Zimmer und schaute auf die Briefe, die er vorhin verfasst hatte. Erst der zerstörte Generator, dann die Notwendigkeit, den Ausflug abzusagen, und nun kam Kira mit dieser derart schlechten Leistung in Mathematik. Der Tag konnte nicht mehr schlechter werden. Woher kannte sie überhaupt dieses höfische Gebaren? Ein bisschen stach ihn das schlechte Gewissen, dass er Kira zu sehr runter geputzt haben könnte, aber das Gefühl hallte nur still hinter seiner Enttäuschung wegen des Zaubers her. Außerdem waren die Rechnungen auch wirklich schlecht ausgeführt gewesen, und so fleißig wie gestern war sie ja wirklich nicht gewesen. Er konnte sich jetzt nicht weiter mit ihr befassen, zur Not würde er halt einen Mathematiklehrer einstellen müssen. Nun musste er zusehen, dass Titus ihn wegen seiner anderen Probleme auf Stand brachte. Der Magister Secus di Porrum wurde zusehends aufdringlicher. Und er war nicht der einzige, wenn auch der bisher hartnäckigste. Hätte Mitras einen funktionierenden, leicht zu bedienenden magischen Generator präsentieren können, dann hätte ihm dieser Durchbruch genügend Macht, Geld und Einfluss beschert, um sich all diese Neider endlich vom Hals zu halten. Aufzuzeigen, wie groß der zivile Nutzen des Elektrums war, wäre der schnellste Weg, die militärische Nutzung uninteressant werden zu lassen, glaubte er jedenfalls. 

Aber mit jedem Tag hatten die Magier der Generalität und ihre Vertragspartner mehr Zeit neue Wege des Blutvergießens zu finden. Mitras hatte nie gewollt, dass seine Entdeckung zum Motor eines neuen Krieges wurde, aber er wusste auch, dass er Mittel brauchte, um seine Forschung voran zu treiben und der Handel, den er mit dem Königshaus eingegangen war, stellte nun einmal die beste Möglichkeit dar, sowohl die nötigen Mittel zu erhalten als auch seine Unabhängigkeit zu sichern. Zweimal schon war bei ihm eingebrochen worden. Wahrscheinlich beide Male mit dem Ziel seine Unterlagen zur Erzeugung des Elektrums zu stehlen. Aber beide Male konnte er die Täter stellen und nun patroullierte eine königliche Wachmannschaft durch das Viertel. Offiziell, um den Adeligen allgemein mehr Schutz zu bieten, da die Kriminalität generell gestiegen war. Seit das Hafenviertel und die Slums dahinter immer schneller wuchsen, verschlimmerte sich die Lage, die Übergriffe reichten längst auch über die Flüsse hinüber und bis hinauf in die Viertel um die Akademien.

All dem hoffte Mitras mit seiner Erfindung entgegen wirken zu können. Aber nun gingen ihm die Ideen aus und er merkte, wie sehr ihn das frustrierte. Er griff nach der Glocke und rief mit ihr Abby herbei. „Abby, die Ereignisse des Tages haben mir den Appetit verdorben, ich werde nicht zum Essen kommen und jetzt eine Runde gehen. Ich brauche frische Luft, um den Kopf klar zu bekommen. Sag William bitte, dass ich mich mit ihm wegen unserer Verabredung heute Abend an der Ecke beim Emporium treffe, er weiß wo genau.“ „Ich werde es ihm ausrichten. Geht es dir denn soweit gut? William hatte schon erzählt, dass wieder etwas schief gelaufen ist.“ fragte sie ihn. „Von gut kann keine Rede sein. Erst scheitert der Versuch und nun muss ich auch für die Generalität eine Warnung ausgeben und dann hat sich auch noch herausgestellt, dass Kira nicht einmal einen einfachen Dreisatz hinbekommt. Das Mädchen ist gut darin sich Wissen anzueignen, aber nur mit Reden und Lesen können wird sie es an der Akademie nicht schaffen.“ Abby schaute ihn sorgenvoll an. „Ah, deswegen weint sie, ja?“ Bei dieser Aussage stach das schlechte Gewissen nun doch ein bisschen mehr, aber es half doch nichts, das, was sie ihm gezeigt hatte, reichte nicht aus. Thadeus hatte ihn in solchen Situationen noch viel stärker heruntergeputzt, manchmal sogar den Stock genutzt, und hatte es ihm nicht auch geholfen? Sicher, er hasste den alten Sack für seinen Umgang mit ihm, aber so hatte er sich nur umso mehr angestrengt und Leistungen erreicht, die er sonst vielleicht nicht erbracht hätte. Mitras schüttelte sich kurz, als er merkte, wie er den verhassten Magier nun plötzlich selbst verteidigte. Es gab sicher noch bessere Wege, um einen Schüler zu motivieren, und er musste aufpassen nicht genauso zu werden wie sein erster Lehrmeister. Aber das war kein Problem, mit dem er sich jetzt befassen konnte. Seine anderen Sorgen waren jetzt wichtiger. „Das mag sein. Schau ruhig nach ihr. Ich habe gerade wichtigere Probleme.“ antwortete er und ging an ihr vorbei zur Treppe. Tatsächlich klang aus Kiras Zimmer gedämpftes Schluchzen, was ihm erneut einen Stich versetzte. Mitras beschleunigte seine Schritte und floh hinaus in den kalten Winterabend.

An Kiras Tür klopfte es leicht. „Kindchen?“ Abby öffnete die Tür, ehe sie antworten konnte. „Ach, Kindchen…“ Abby setzte sich an die Bettkante und strich ihr über den Kopf, was Kira zu einem erneuten Ausbruch von Tränen veranlasste. „I…Ich…ich…k…k…kann das…e..ei…einfach nicht.“, presste sie hervor. „Was, die Mathematik oder Mitras ertragen?“, fragte Abigail mit einem leicht spitzen Unterton. Kira blickte sie einen Moment erstaunt an, und die Verblüffung vertrieb den Heulkrampf. „Mathe.“, sagte sie dann leise. „Ahja. Aber Mitras ertragen ist auch manchmal schwierig, besonders, wenn mal wieder irgendwas am Generator ist, so wie heute. Irgendeins seiner neusten Experimente ist schief gegangen. Nimms ihm nicht übel.“ Kira schwieg und schaute auf ihr Kopfkissen. Ein Experiment, um den Generator anzutreiben? Warum machte Mitras solche Experimente in einem geheimen Labor? Sie schniefte. „Aber… er hat ja auch Recht. Ich kann nicht mal einfache Kaufmannsrechnungen. Und statt mich da richtig ranzusetzen, habe ich Kekse gebacken…“ „Ja, und die schmecken sehr gut.“, bestätigte Abby. „Kira-Schätzchen, du bist kein doofes Mädchen. Und die gute alte Abby ist auch nicht ganz dumm. Morgen haben wir beide frei. Was hältst du davon, wenn wir uns drüben ins Haus setzen und ich dir ein bisschen erkläre?“ „Und was bekommst du dafür?“ Abigail lachte. „Nichts. Vielleicht einen weniger schimpfenden Magister und eine hübschere Lady? Tränen stehen dir nicht.“ Kira schüttelte den Kopf. „Du kannst doch nicht an deinem freien Tag für mich arbeiten, ohne dafür was zu bekommen. Ich… hmm… ich helfe dir dafür bei der Wäsche?“ Abby grinste. „Aber dann müssen wir aufpassen, dass Mitras das nicht bemerkt.“ Jetzt musste auch Kira lächeln. Der Gedanke, ein Geheimnis vor Mitras zu haben, gefiel ihr. „In Ordnung. Ich kann gut schleichen!“ „Fein.“ Abigail hievte sich vom Bett hoch und reichte ihr die Hand. „Und jetzt schleichen wir beide mal zum Abendessen.“ Kira zögerte. „Keine Sorge, der Kuchen ist rausgegangen. Die Mäuse können auf dem Tisch tanzen.“, passte Abby das Sprichwort an. Der Gedanke, Mitras könnte ein Kuchen sein, ließ Kira innerlich grinsen. Sie runzelte die Stirn. „Der Kuchen ist eine Flater Orangentorte, oder?“ Abby blickte sie neugierig an. „Warum? Was ist das für ein Kuchen?“ Kira verzog demonstrativ das Gesicht, während sie vom Bett aufstand. „Ein Kuchen mit Orangenschalen, sieht außen total gut aus, schmeckt aber irre bitter, wenn man nicht genug Zuckersahne drauftut.“ Abigail lachte schallend. „Oh, nein, ich glaube, da ist unser guter Magister mehr eine Ingwertorte… Manchmal scharf auf der Zunge, aber mit süßer Füllung.“ Kira schaute sie gedankenverloren an, dann ging sie zur Wasserschale, die sie am Morgen noch nicht geleert hatte, und wusch sich ihre verheulten Augen aus. „Ist Magister Mitras ein guter Mann?“ Abigail nickte. „Lass dich von seiner Schale nicht täuschen. Er hat ein Herz aus Gold.“ Kira schluckte und nickte dann. Die ältere Frau bestätigte eigentlich das, was sie vorhin schon selbst gedacht hatte, aber es reduzierte ihre Sorgen schon etwas, es nun nochmal zu hören. Wenn sie nur besser in Mathematik mitgemacht hätte…

Sie aßen gemeinsam zu Abend, von dem William sich rasch verabschiedete, weil er wohl mit Mitras verabredet war und ihm Briefe bringen sollte, die Abby ihm gab. Da weder er noch Mitras sie davon abhalten konnte, half Kira beim Abwasch, ging dann aber auch nach oben. Ihr Kopf tat weh, und sie fühlte sich leer und ausgelaugt. Einen Moment versuchte sie noch, im Niggel zu lesen, doch schon bald legte sie das Buch beseite, machte sich bettfertig und ging schlafen. Morgen würde sie mit Abby Mathematik angehen, und diesmal würde sie sich nicht herausreden, nahm sie sich vor. Dennoch dauerte es eine Weile, ehe sie in einen unruhigen Schlaf glitt. 

​Mitras ging zie​​​​​​llos durchs Viertel. Die Kälte, die ihm dabei ins Gesicht schlug, half ihm, wieder etwas ruhiger zu werden. Er ordnete seine Gedanken und ließ den Tag revue passieren. Der Fehlschlag war katastrophal, ja. Nicht weil er den Generator ersetzen musste, das war zwar ärgerlich, aber kein Beinbruch. Aber der Rammbock war sein letzter Strohhalm gewesen. Er hatte nun alle Ideen ausgeschöpft. Alle seine Recherchen waren entweder ins Leere gelaufen oder führten zu mehr oder minder spektakulären Fehlschlägen. Die Eigenschaften des Elektrums waren zu komplex, um klassische Telekinesezauber darauf zu wirken, zumindest nicht ohne dass irgendetwas Unvorhergesehenes dabei passierte. Allein das Ausbrechen des Zylinders heute Vormittag war schon außergewöhnlich. Zauber änderten nicht einfach ihre Richtung.

​Oder hatte er vielleicht von Beginn an etwas übersehen? Er hatte das Material anfänglich sehr genau studiert, dabei aber noch lang nicht so viele Daten wie jetzt gehabt. Sollte er vielleicht einen Schritt zurück gehen und anhand der neuen Ergebnisse noch einmal mit der elementaren Untersuchung des Elektrums weiter machen? Den einzigartigen Energiefl​​​​​​uss innerhalb des Materials hatte er ja auch nur durch Zufall entdeckt. Welche Geheimnisse könnten sonst noch in der Legierung stecken? Hatte er aus dem Transmutatis wirklich schon alles erfahren oder war seine Übersetzung des antiken Textes vielleicht auch fehlerhaft? Er konnte sich das zwar nicht vorstellen, da alte Schriften immerhin sein stärkstes nichtmagisches Feld waren, gleich neben der Mathematik, aber vielleicht verbargen sich noch Informationen im Subtext, die bei der Übersetzung verzerrt worden waren. Langsam dämmerte ihm, dass er die nächsten Wochen noch einmal sehr viel Zeit mit Grundlagenforschung würde verbringen müssen. Die Warnung konnte ihm Zeit verschaffen. Richtig formuliert konnte sie die Forschung der Generalität vielleicht verlangsamen und im besten Fall bekam er Einsicht in deren Forschung und konnte die Ergebnisse so für sich benutzen. Vielleicht sollte er den Brief an di Acciperitis schicken statt an di Scuti? Dann würde sich der General erst an seinen Forscher wenden müssen und sich absprechen, das könnte ihm etwas mehr Zeit verschaffen.

Seine Laune begann sich gerade wieder zu heben, als hinter ihm eine Stimme ertönte: „Mitras di Venaris, welch eine Überraschung, Ihnen hier zu begegnen.“ Mitras​​​​​ drehte sich zu der Stimme um und sein Gesicht verfinsterte sich. „Di Porrum, was wollt Ihr?“ Secus di Porrum und sein nichtmagischer Bruder Cepus standen vor ihm. Secus war ein sehr erfolgreicher Waffeningenieur und Händler. Als Magier taugte er allerdings nicht viel. Nur mit Thadeus Hilfe war es ihm gelungen, so munkelte man, in den Rang eines Magisters aufzusteigen und seit die Differenzen zwischen den beiden immer größer wurden, hatte Thadeus ihn immer weniger in Schutz genommen. Letztendlich wurde di Porrums Forschung nochmal eingehend durchleuchtet und man entdeckte, dass er etliche seiner vermeintlichen Erkenntnisse wohl eher von anderen kopiert hatte. Thadeus konnte man keine Fehler nachweisen, da er mit der Bewertung nicht direkt betraut war, aber einige Erzmagier wurden dafür gerügt, dass sie anscheinend zu schlampig geprüft hatten. Ein einmal anerkannter Titel konnte nicht mehr aberkannt werden, aber Secus wurde von allen Forschungen der Gilde ausgeschlossen, erhielt also auch keine Unterstützung mehr für eigene Projekte. Des Weiteren wurde ihm der Aufstieg in alle weiteren Ämter und insbesondere der Aufstieg zum Erzmagier auf Lebenszeit verwehrt. Aber trotz all dieser Rückschläge hatte er nach wie vor sein Waffenimperium. Wo anderen Magiern solche Maßnahmen die Existenz zerschossen hätte, landete er relativ weich. Nun versuchte er schon seit einem Jahr einen Anteil der Elektrumproduktion für sein Unternehmen zu bekommen, auch um durch die Entwicklungen, die damit potentiell möglich wären, wieder im Ansehen der Gilde zu steigen. Vermutlich aber auch, weil neue Waffen auch neue Möglichkeiten bedeuteten, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Waffenlieferant und eingeschränkter Magister zu sein, war in Friedenszeiten eben eine noch schlechtere Kombination.

Zuerst hatte er versucht, Mitras für sich einzunehmen und hatte ihn umschwärmt wie eine Motte das Licht. Doch Mitras erinnerte sich noch zu gut an die abfällige Behandlung, die ihm Jahre zuvor noch durch Secus zuteil geworden war, wann immer dieser ihn sah. Er gehörte schon damals zu Thadeus Traditionalisten und betrachtete es als Kränkung des geschätzten Meisters, dass dieser nun noch einen ‚Emporkömmling‘ ausbilden musste. Kaum waren seine ersten Versuche gescheitert, wurde er zunehmend aggressiver, bis er sich einmal zu viel öffentlich im Ton vergriff, was dazu führte, dass die Generalität ihn von einigen wichtigen Aufträgen ausschloß. Sicher hatte Nathanael auch damit zu tun. Er war nie weit weg, wenn einer von Mitras Feinden ein Rückschlag ereilte. „Aber bitte, warum so unfreundlich, werter di Venaris. Ich habe ein Angebot für Sie. Ich weiß, dass Ihr nicht alles Elektrum an die Generalität verkauft. Und ich bin mir sicher, dass Ihr durchaus auch noch mehr herstellen könntet, wenn Ihr nur wolltet. Mit der Sicherung des königlichen Patentes mögt Ihr zwar das Geheimnis um die Formel gesichert haben, aber im Gegensatz zu den Schafsköpfen in der Festung glaube ich nicht, dass die Grenzen bei der Produktion so groß sind. Also mein Angebot – und ich rate Ihnen, es anzunehmen – einhundert Goldmünzen je Kilogramm bei einer Lieferung von einhundert Kilogramm je halbes Jahr. Ich weiß, dass das doppelt so viel ist, wie die Generalität euch zahlt. Also seid nicht dumm und schlagt ein. Kommt doch am besten gleich mit um ähh.. alle Formalitäten zu begleichen.“ Das Angebot war viel zu großzügig, um zu Secus zu passen. Mitras sah, wie sich Cepus während der Ansprache seines Bruders unauffällig von rechts genähert hatte. In einem kurzen Moment schimmerte etwas an seinem Hals und Mitras wirkte, ohne dass die beiden es mitbekamen, einen Verstärkungszauber auf seine Augen. Cepus trug ein eisernes Kettenhemd und wahrscheinlich auch Arm- und Beinlinge aus Eisenringen. Das würde ihn zwar nicht vor einem magischen Feuerball oder einem Blitzschlag schützen, aber Verwandlungs- und Beeinflussungsmagie waren bei der Menge Eisen am Körper nahezu wirkungslos. Und sie wussten wahrscheinlich sehr genau, dass Mitras nur unter größerer Mühe Elementarmagie wirken konnte und erst recht nicht im Kampf. Reflexhaft griff er an seine Seite und wunderte sich schon fast, dass er sein Rapier tatsächlich dort vorfand. Er konnte sich nicht errinnern ihn angelegt zu haben, ärgerte sich aber, dass er zusätzlich zu seiner normalen Waffe nicht auch die Armbänder trug. Das Rapier war die ideale Waffe, um Kettenträger damit unschädlich zu machen, und er konnte damit auch hervorragend umgehen. Aber durch einen Gegner wie Cepus gebunden, konnte selbst ein Diletant wie Sepus ihm gefährlich werden, er musste ja nur einen Zauber von der Seite wirken. „Nun, di Venaris, ich warte. Mein Angebot ist ja wohl mehr als großzügig.“, rief dieser ihm nun zu, in dem Versuch, von seinem Bruder abzulenken. Mitras sah, dass dieser nun einen kleinen Dolch in der Rechten hielt. In dem Moment jedoch, als Mitras gerade zu seinem Rapier griff, erklang ein weiterer Ruf: „Was geht hier vor?“ Fünf Gardisten waren just in diesem Moment aus einer Seitenstraße ins Sichtfeld gebogen, angeführt von einer Mitras vertrauten Gestalt. „Ah, Leutnant Decius, schön, Sie zu sehen. Der werte Secus di Porrum hier hat mir gerade ein weiteres Angebot unterbreitet und wie immer bin ich gerade im Begriff es abzulehnen. Die beiden Herren wären sicher dankbar, wenn Ihr sie dann sicher nach Hause begleitet, ich für meinen Teil wohne ja nicht weit von hier und ich bin sicher, dass Sie und Ihre Männer hier bereits alle auffälligen Gestalten vertrieben haben und ich sicher nach Hause weiter gehen kann.“ sagte er an den Anführer der Truppe gewandt. Mitras war erleichtert, dass ausgerechnet Decius den Trupp anführte.

Er war es gewesen, der den zweiten Einbruch mit untersucht hatte. Sie hatten damals schon den Verdacht, dass di Porrum dahinter stecken könnte, aber der Leutnant konnte keine ausreichenden Beweise dafür aufbringen. Die Klingen, die bei dem Einbrecher gefunden wurden, waren neu und aus di Porrums Fertigung. Leider konnte Mitras sich nur mit einem einfachen, aber effizienten Zauber schnell genug zu Wehr setzen, was zur Folge hatte, dass das Herz des Eindringlings recht plötzlich seine Form änderte und damit auch den Dienst einstellte. In der Folge hatte Mitras immer wieder mit dem Wachmann zu tun und fand schnell heraus, dass er eine tiefe Abneigung gegen die di Porrums hegte. Mitras wusste zwar nicht warum, aber das machte Decius zu einem wertvollen Verbündeten.

„Sie haben recht Magister, es wäre wohl das Beste, wenn wir die Herren hier nach Hause begleiten. Meinen Sie nicht auch, Magister di Porrum?“, fragte er mit leicht sarkastischer Stimme. „Das wird sicher nicht nötig sein, Leutnant, wir können selbst auf uns acht geben, aber ich danke Ihnen für das Angebot.“, versuchte sich der magische der beiden Brüder heraus zu reden. „Entschuldigt Herr, aber ich fürchte, ich muss darauf bestehen. Seit vorige Woche ein Adeliger von einem betrunkenen Hafenarbeiter angegriffen worden ist, haben wir Weisung jedem Herren, der einer Eskorte bedarf, diese auch zu stellen. Und da heute am Schengstag die Tavernen voll sind, kann es durchaus zu weiteren Zwischenfällen kommen. Ihr werdet also nicht um unsere Gesellschaft herum kommen. Wir wollen ja auch nur euer Bestes, mein Herr.“ Mit diesen Worten nahmen die vier Soldaten die beiden sichtlich nicht begeisterten di Porrums in ihre Mitte, während sich Leutnant Decius noch einmal an Mitras wandte: „Magister di Venaris? Sie sollten jetzt aber auch nach Hause gehen. Ich weiß nicht genau wieso, aber die Stimmung ist in letzter Zeit ziemlich gereizt und dass unsere Generalität den Hafenarbeiter schon nach zwei Tagen aufgeknüpft hat, hat nicht gerade geholfen.“ Mitras nickte. „Danke für die Warnung, Leutnant, ich werde sie beherzigen und danke für euren Dienst an der Stadt, Männer.“ sagte er an die Soldaten gerichtet, wohl wissend, dass dieser Zuspruch ihre Meinung über ihn nur bessern konnte. „Sie sollten Ihn auch begleiten lassen, Leutnant. Sonst kommen Sie ja Ihren Pflichten nicht nach, das wird ein Nachspiel haben!“, drohte Cepus, der den Dolch beim Erscheinen der Wache schnell weggesteckt hatte. Decius ignorierte ihn, doch einer seiner Soldaten antwortete: „Sir, wenn es um Ihre Sicherheit geht, nehmen wir gerne ein Nachspiel auf uns.“ Cepus setzte zu einer Erwiderung an, doch Secus brachte ihn mit einem Stoß und einem Blick zum Schweigen. Mit einem Nicken verabschiedete sich Decius von Mitras und er und seine Männer eskortierten den finster dreinblickenden Secus und seinen Bruder in Richtung ihres Hauses auf der anderen Seite des Hügels, weit weg von hier. Mitras wartete, bis sie außer Sicht waren und wandte sich um. William wartete nun sicher schon und würde sich Sorgen machen. 

Kurze Zeit später erreichte er den Treffpunkt und fand einen sichtlich nervösen William vor. „Ha, hast dir ja ganz schön Zeit gelassen. Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt. „Ja, aber auch nur knapp. Ich bin in die di Porrum Brüder gelaufen, wäre beinahe hässlich geworden. Sie haben allen ernstes Anstalten gemacht, mich anzugreifen. Wäre Decius nicht genau in dem Augenblick um die Ecke gekommen, wäre die Lage wohl eskaliert.“ erwiderte Mitras. „Du machst Sachen. Keine zehn Minuten kann man dich allein lassen.“ schimpfte William. „Sicher, dass du nach der ganzen Aufregung noch los willst? Ich kann sonst auch alleine gehen und Titus eine Botschaft von dir überbringen und seine Ergebnisse mitbringen.“ „Nein, es geht schon, alles gut, William.“ antwortete Mitras und schlug sich dann mit der flachen Hand vor den Kopf. „Ach, verdammt die Botschaften! Ich muss doch noch das Schreiben an meine Schwester und die Warnungen an die Generalität versenden.“ „Keine Sorge, schon geschehen. Abby hat gesehen, dass sie noch auf deinem Tisch lagen, und als sie sagte, dass du schon los bist, dachte ich mir schon, dass du sie vergessen haben könntest. Ich habe auf dem Weg hier her einen Botenjungen angetroffen, der gerade auf dem Weg nach Hause war. Ich kenne ihn und weiß, dass er zuverlässig ist. Mach dir also keine Gedanken.“ beruhigte William ihn. Mitras wusste nicht, ob das jetzt gut oder schlecht war – der Brief war ja an di Scuti gegangen, und der Plan, ihn direkt an den General zu schicken… Ach, dieser Tag war einfach verhext. „Gut, dann lass uns aufbrechen, ich will diesen Tag endlich zu Ende bringen.“ Gemeinsam liefen sie durch das Handwerkerviertel zur Kaimauer, an der die kleine Fähre zum Hafenviertel anlegte.

Die Spelunke, in der sie sich mit Titus treffen wollten, hieß „zum tanzenden Einhorn“ und war nicht weit vom Fähranleger entfernt. Eigentlich war es eher eine Taverne, die auf die Kapitäne und deren Offiziere als Kundschaft abzielte, aber heute Abend waren auch sehr viele Hafenarbeiter hier. Mitras und William steuerten vom Eingang direkt auf die Nische zu, in der sie sich immer traffen, und fanden Titus dort schon wartend vor. Sie setzten sich und bestellten schnell zwei Bier. „Guten Abend, Herr di Venaris. William?“, grüßte Titus die beiden freundlich, aber so distanziert, wie er es in der Öffentlichkeit oft tat. „Grüße von Stefania. Sie lässt ausrichten, dass deine Eltern im Frühjahr wieder nach Uldum kommen werden, sie haben ihr wohl geschrieben.“ William grinste breit. Stefania war seine Schwester, die ebenso wie er in Uldum sesshaft geworden war, doch seine Eltern zogen immer noch übers Land, und so freute er sich, Botschaft von Ihnen zu bekommen. Mitras überlegte, ob sie und Titus nicht doch irgendwann würden heiraten wollen, wenn sie ihre Verbindung schon so offen zugaben, dass Titus Familiengrüße überbringen konnte. „Läuft alles gut bei Ihnen?“, erkundigte Mitras sich, den distanzierten Ton aufgreifend. Wären sie unter sich gewesen, hätte er Titus aufgrund der besonderen Beziehung, die beide zu Stefania hatten, auch duzen können, aber in der Gegenwart seiner Männer mochte Titus wohl die Ehrbezeugung, von einem Adeligen gesiezt zu werden. „Mal so, mal so, nech?“, antwortete dieser und lamentierte eine Weile über die schwierigen Bedingungen, Geschäfte zu machen, wenn alle verfügbaren Fachkräfte immer unzufriedener wegen der steigenden Lebensmittelkosten wurden. „Aber was unsere Geschäfte anbelangt, ich habe die Informationen, die Sie wollten.“ eröffnete Titus den geschäftlichen Teils des Gesprächs und schob eine kleine braune Mappe zu Mitras herüber. „Gut, danke. Ist irgend etwas Belastendes dabei heraus gekommen? Irgendetwas mit dem ich Secus zumindestens eine Weile in die Enge treiben kann?“ „Leider nein. Ich konnte Geschäftszahlen und einige zwielichtige Kontakte erbeuten und aufdecken, aber nichts, was sich effektiv gegen ihn einsetzen lässt. Der Mann ist sehr gut, wenn es um Schattenaktionen geht. Zu den zwei Einbrüchen lässt sich gar nichts finden, nicht einmal, wo die Männer jeweils herkamen. Die polizeilichen Ermittlungen sind komplett ins Leere gelaufen.“ berichtete Titus. Mitras holte einen kleinen Beutel voller Münzen hervor und schob ihn zu Titus herüber. „Ich danke Ihnen für Ihre Mühen, auch wenn mich die Ergebnisse alles andere als zufrieden stellen, aber ich bin sicher, Sie haben Ihr Bestes gegeben. Fahren Sie bitte weiter fort. Und noch etwas. Ich hätte gerne, dass Secus und Cepus beide einen Schatten bekommen. Ich bin heute zufällig in die beiden gelaufen und sie haben, für meinen Geschmack, viel zu schnell auf Aggressivität gesetzt und versucht mich offen unter Druck zu setzen. Für solche Fälle einen zufälligen Zeugen zu haben, wäre schon nicht schlecht.“ Titus nahm den Beutel an sich und wog ihn kurz mit der Hand ab. „Ich denke, das wird sich machen lassen. Möchten Sie auch noch einen Schatten für das Haus? Wird zwar nicht ganz einfach bei der Wohngegend, aber ich finde da schon eine Möglichkeit.“ Mitras dachte kurz nach und entgegnete: „Ja, das wäre wahrscheinlich nicht schlecht.“ Titus lächelte ihn kurz verschmitzt an. „Einige offene Augen haben mir schon erzählt, dass Ihr auch eine neue Schülerin habt, die bei euch wohnt.“ Mitras nickte bestätigend. „Kira Silva, ja. Sie kommt aus dem Flachland, bei Lührenburg, aus Bispar. Haben Sie Kontakte so weit in den Norden?“ Titus machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich habe überall Kontakte, wenn ich es will. Sind Sie besorgt, die Kleine könnte eine Spionin sein?“ Mitras wiegte den Kopf, doch William protestierte. „Titus, sieh doch nicht überall gleich dunkle Schatten! Kira ist niedlich und sicher kein Spion, sie ist ein ganz herzensgutes Mädel.“ „Da stimme ich William zu. Nein, ich hege keine tieferen Sorgen, dass sie mir zur Spionage untergeschoben wurde. Aber ein paar Bemerkungen, die sie hat fallen lassen, haben mich ein bisschen beunruhigt. Mich würde der Zustand ihres Elternhauses interessieren, Einkommen, Ruf und so weiter. Vielleicht auch andere Meinungen aus dem Dorf über die Familie und auch über das Mädchen.“ William blickte ihn nachdenklich an. Mitras fuhr fort: „Sie selber ist im Wesen harmlos, und, wie William sagt, vielleicht ganz niedlich, aber sie könnte möglicherweise unter Druck gesetzt werden. Thadeus versucht jetzt schon, sie scheitern zu lassen, indem er ihr nur ein Jahr Vorbereitungszeit gewährt hat. Wer weiß, was er sonst noch aus dem Ärmel zaubert, um mich über sie zu treffen. Je mehr ich vorher weiß, desto besser.“ Titus nickte. „Wird aber dauern. Reist sich nicht so schnell per Pferdekutsche.“ Mitras stimmte ihm zu. „Wo wir allerdings bei Informationen sind, die nicht so schnell passieren… Ich würde gern meine Suche nach alten Werken zur Telekinese etwas erweitern.“ Er griff in seinen Geldbeutel und holte einige zusätzliche Goldstücke heraus, die er Titus hinschob. „Setzen Sie das doch bitte als Bonus mit aus, falls mir jemand ein Buch zu Bewegungszaubern liefern kann, das unsere Stadtbibliothek nicht vorrätig hat. Es ist mir auch nicht mehr so wichtig, dass es unbedingt in Rasenna geschrieben ist, ich nehme auch andere Sprachen.“ Titus schaute ihn neugierig an und strich das Geld unauffällig vom Tisch. „Laufen die Forschungen nicht so gut?“ Mitras schaute ihn mit unbewegtem Gesicht an. „Wenn ich Ihnen über meine Forschungen Auskunft gebe, will ich aber was von dem Geld zurück.“ Titus lachte. „Versuch war’s wert, nech?“ Mit einem Kopfneigen zollte Mitras ihm Anerkennung. Sie tranken noch eine Weile an ihren Bieren und William fragte Titus zum Familienklatsch aus, der definitiv nicht eines Meisterspiones würdig, aber dennoch recht unterhaltsam war.

„Nun denn, es wird spät und der morgige Tag hält leider noch unerwartete Arbeit für mich parat.“ beendete Mitras das Gespräch und stand auf. „Oha, arbeiten am Silenz. Und ich dachte, ihr Magier habt euch die Titel extra dafür geben lassen, um an dem Tag nicht mehr arbeiten zu müssen.“ witzelte Titus herum. „Aber gut, bei dem ganzen Ärger, den Sie im Moment haben, kann ich das gut verstehen.“ fügte er deutlich ernster hinzu. „Ich wünsche euch beiden einen schönen Abend. Wenn ich wieder etwas habe, lasse ich es Sie wissen.“ Titus verbeugte sich knapp und setzte sich wieder. Mitras nickte ihm zu, wünschte ebenfalls einen schönen Abend und verließ die Nische wieder. Kaum war er ein paar Schritte Richtung Tür gegangen, versperrte ein sichtlich angetrunkener Hafenarbeiter ihm den Weg. „Na, wen hab’n wa denn hia. Erscht lassn se uns für nen Dreckslohn in ihrn Fabrikn schuften und nu saufn se uns auch noch den Fusel wech.“  Er hickste und hauchte Mitras ein Schwall übelriechender Luft ins Gesicht, der ihn einen Schritt zurückweichen ließ. Erst die di Porrums und nun das. Die gerade erst zurück gewonnene gute Laune verflüchtigte sich sofort. Innerlich vor aufsteigender Wut kochend, blieb er äußerlich komplett ruhig, während er Magie sammelte. Ein Kraftzauber, nicht zu stark. Nur so weit, dass er diesen Kerl für ein paar Wochen von der Straße prügeln konnte. Leise murmelnd begann er den Zauber zu weben, als sich Titus an ihm vorbeischob und William ihn wieder in den Eingang der Nische zurück zog. „Sag einmal, was denkst du, wer du bist, dass du einen meiner Freunde so anherrschst, Bursche!“, brüllte Titus den Hafenarbeiter an. Dieser holte zu einer Gegenanwort aus, wobei er wohl gedachte, die Faust mit zu nutzen. Einer seiner Kumpels hinter ihm rief allerdings: „Tarens! „Als der Angreifer durch den Suff hindurch wahrnahm, wen er da vor sich hatte, schien er schlagartig komplett nüchtern zu werden. „Herr Tarens, isch wusste ja nisch, dass der Schnö- äh der H…Herr Ihr Gascht is.“ stammelte er. „Schafft den Trunkenbold hier raus!“, rief Titus den anderen zu, „Und wenn er wieder nüchtern ist, macht ihm klar, dass er in meinem Bezirk keine Arbeit mehr finden wird, sollte so etwas noch einmal passieren.“ Schnell brachten die anderen ihn raus. Mitras ließ die Magie wieder abfließen und bedankte sich mit finsterer Miene bei Titus. „Danke, ich hätte vielleicht etwas dummes getan ohne Ihr Eingreifen.“ „Nicht der Rede wert, aber vielleicht wäre es besser, wenn wir uns in Zukunft an ruhigeren Orten oder zumindest nicht am Hafen treffen. Hier baut sich in letzter Zeit eine ziemlich unangenehme Spannung auf.“ erwiderte Titus. Mitras nickte. Es gab auch in den Zeitungen vermehrt Berichte über Unruhen in den Slums, und Decius hatte über die Geleitanweisung vorhin sicherlich auch nicht gelogen, er hatte nur Mitras davon ausgenommen. Mitras und William verabschiedeten sich entgültig von Titus, verließen das tanzende Einhorn und machten sich schnell auf den Weg zum Fähranleger. Sie hatten Glück und erwischten die Fähre, kurz bevor diese ablegen wollte. Damit war die Gefahr weiterer Übergriffe erstmal vorüber, hoffte Mitras. Auf der anderen Flussseite angekommen, kamen sie tatsächlich ohne weitere Zwischenfälle nach Hause. Mitras wollte nur noch ins Bett und diesen verfluchten Tag endlich hinter sich lassen. Er wünschte William eine gute Nacht und ging in seine Gemächer, wo er rasch in einen festen Schlaf sank.

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