​Im Schatten der Heimat 30. Lunet (Mafuristag)

Am nächsten Morgen wachte Kira erst auf, als es bereits hell war. Ihr Kopf fühlte sich völlig zerschlagen an und ein wohlbekannter dumpfer Schmerz zog sich durch ihren Unterleib. Sie zog sich mühsam aus dem Bett, um sich aus dem Schrank einige Hygieneartikel zu nehmen, die sie aus Bispar noch mitgebracht hatte. Warum musste das so weh tun, eine Frau zu sein? Und warum tat es die letzten beiden Male so verdammt mehr weh? Mit matschigem Kopf kuschelte sie sich wieder in die Decken und entdeckte dabei, dass auf dem Schreibtisch ein Tablett stand. Kurz überlegte sie, hinüberzugehen und zu schauen, was William ihr da wohl gemacht hatte, doch dann schoß ein heftiger Schmerz durch ihren Rücken und sie beschloß, doch lieber im Bett zu bleiben und die warme Decke auf dem Bauch zu behalten. Sie hatte ja eh frei. Eine freie Magierin… und trotz der Schmerzen im Kopf und im Unterleib lächelte sie zufrieden. Sie versuchte, sich den Niggel vom Nachtisch zu angeln, kam aber nicht ran und lies es letztendlich sein. Eine Weile döste sie einfach vor sich hin und lauschte den Geräuschen im Haus – Schritte, Stimmen… dann war sie wieder eingeschlafen.

Der Tag verging mit Dösen und Lesen. Irgendwann gegen Mittag stellte sie fest, dass das Essen nicht einfach nur von William oder Abby kommen konnte, denn es lag ein Warmhaltezauber auf dem Tee. Sie trank ihn vorsichtig und freute sich über die fürsorgliche Geste. Gegen Abend zog sie sich etwas an und ging zum gemeinsamen Abendessen nach unten, doch Mitras war nicht da, also konnte sie ihm nicht danken, und auf Herumscherzen mit William hatte sie keine Lust, also zog sie sich bald wieder ins Bett zurück. Schade, dass man die Heizsteine sich nicht direkt auf den Bauch legen konnte. Sie las eine Weile und beschloß letztendlich, diesen Tag einfach abzuhaken und früh schlafen zu gehen. Morgen würde es vermutlich schon besser sein, das war das letzte Mal ja auch so gewesen – wobei sie da angesichts der Tatsache, dass man sie wegen eines gewaltsamen Magieausbruches gerade in ihr Zimmer gesperrt hatte, auch wirklich andere Sorgen als eine ungewöhnlich stark schmerzende Regelblutung gehabt hatte.

Am Nachmittag des Mafuristags war Mitras gerade in der Bibliothek am recherchieren, als Abby hereinkam und Besuch ankündigte. Stefania war gekommen, ohne sich groß anzukündigen, wie es so ihre Art war. Mitras bat Abigail William Bescheid zu geben und bat ebenfalls um eine Kanne Tee. Dann ging er nach unten, um seine „große Ersatzschwester“ zu begrüßen. Sie wartete noch im Flur, als er gerade die Treppe herunter kam. „Guten Tag Stefania, ich hatte eigentlich erst später mit dir gerechnet und war noch am arbeiten. Du erwischst mich ein bisschen unvorbereitet.“ Mitras wusste, dass er bei ihr kein Blatt vor den Mund zu nehmen brauchte, sie mochte es lieber direkt und ehrlich. „Ich war eh gerade in der Gegend und es passte so ganz gut. Ich hoffe, ich störe nicht all zu sehr?“ Mitras lachte, „Nein, du störst nicht, aber ich habe dich hier warten lassen, obwohl ich dich hergebeten habe. Komm, lass uns im Salon platz nehmen.“ Er öffnete ihr die Tür und führte sie in den Wintergarten und bot ihr einen Platz in der Sitzgruppe dort an und setze sich dazu. „William wird sicher auch gleich kommen. Aber bis dahin möchte ich noch einmal genau ausführen, worum es geht. Dieser Johann scheint nur die Spitze des Eisbergs zu sein. Kira hat panische Angst davor, wieder nach Bispar zurück zu müssen. Ich muss wissen, was der Grund dafür ist.“ „Ja, das verstehe ich. In dieser Phase ihrer Ausbildung könnte ein verborgenes Trauma richtig gefährlich werden und ich denke, dass du solch ein Wissen auch nicht missbrauchen würdest. Also gut, ich brauche einen persönlichen Gegenstand und es wird ein paar Tage dauern, bis sie ihn wieder haben kann.“ Ehe Mitras etwas erwidern konnte, kam Abby um die Ecke. „William lässt sich entschuldigen, anscheinend musste er noch einmal schnell für ein paar Besorgungen los. Sieht ihm gar nicht ähnlich, etwas für ein geplantes Essen zu vergessen.“ Sie stellte den Tee und ein Paar Tassen vor ihnen ab. „Abby, kannst du bitte noch ein Kännchen für Kira fertig machen? Stell es einfach in der Küche ab, ich bringe es ihr gleich selbst hoch.“ Sie zog eine Augenbraue verwundert hoch, sagte dann aber nur: „Ist gut.“ Abigail ließ sie wieder allein, nachdem sie beiden eine Tasse eingeschenkt hatte. Stefania blickte ihn von der Seite an. „Hast du was mit meinem Bruder angestellt?“ „Ich bin unschuldig und habe keine Ahnung was mit ihm los ist. Ich finde sein Verhalten auch mehr als seltsam.“ sagte er und zuckte mit den Schultern. „Aber wenn du möchtest, frage ich ihn bei nächster Gelegenheit einmal, warum er seine Schwester plötzlich meidet.“  „Wenn er selbst mit dir noch nicht darüber gesprochen hat, wird er irgendwas richtig dummes angestellt haben. Also lass es dabei beruhen, ich quetsche ihn schon noch selber aus. Aber nicht heute.“ „Gut, wenn du entschuldigst, ich sehe kurz nach Kira und sehe ob sie mir etwas borgt. Ihr geht es heute nicht so gut, sonst hätte ich euch auch einander vorgestellt.“ „Schon gut, ich kann mir vorstellen was sie gerade durchmacht, wenigstens ist sie bei euch in guten Händen. Ich warte hier.“

Mitras hatte den Tee aus der Küche geholt und war nach oben gegangen. Er klopfte bei Kira an, „Ja?“ antwortete sie nach einem kurzen Moment. Er trat ein und ihn zu sehen, jagte ihr anscheinend einen kleinen Schrecken ein. Anscheinend hatte sie mit Abby gerechnet und zog nun rasch die Decke hoch. Es war nicht so, dass sie nackt war, aber sie trug, soweit er es so schnell sehen konnte, noch ihr Nachtzeug. „Alles in Ordnung, Kira?“ Abby hatte gesagt, dass sie sich auch körperlich gerade nicht gut fühlte. So wie sie sich in die Kissen drückte, war das wohl auch die Wahrheit gewesen. Mitras wunderte sich, wie sie es bei der Wärme im Zimmer unter zwei Decken aushielt. „Ja schon, mir geht es nur nicht so gut. Aber es ist nichts ernstes und ist sicher in ein bis zwei Tagen wieder weg.“ sagte sie beschwichtigend.  Er schaute sie skeptisch an, aber die Ringe unter ihren Augen waren verschwunden und sie sah auch nicht mehr so bleich aus. Nur ihre Haare wirkten schon wieder heller. Oder täuschte das Licht? „Ich hatte ja gesagt, du brauchst ein paar Tage Ruhe. Nimm dir also ruhig noch mehr Zeit und wenn es schlimmer wird, sag Bescheid, dann hole ich einen Arzt.“ Kira schüttelte den Kopf und lief rot an. „Nein, nein, das wird nicht nötig sein.“ Mitras nickte und stellte den Tee auf den Tisch. „In Ordnung. Ich wollte dich um einen Gefallen bitten. Kann ich mir die Muschelkette ausleihen, die du mitgebracht hast? Ich würde sie gern einmal untersuchen.“ Kira blickte ihn verblüfft an, zuckte dann aber mit den Schultern, öffnete die Kette und gab sie ihm. „Die ist aber nichts besonderes.“ Mitras nahm die Kette und linste auf die Bücher, die auf ihrem Nachttisch lagen. „Niggel, aha, da hast du also deine Kenntnisse über Etikette her.“ Kira lief rot an. „Äh, ja.“ Mitras lächelte sie an. Vielleicht doch ein Eichhörnchen, dachte er bei sich amüsiert – hat rote Haare und lässt sich gut ablenken. Er verabschiedete sich und ging nach unten, um Stefania die Kette zu geben.

Stefania betrachtete die Kette neugierig, als er sie brachte. Sie legte sie auf den Tisch, murmelte einige Worte auf Inuk und strich ein paar Mal mit der Hand über sie, dann nickte sie zufrieden. „Das wird gehen. Und jetzt…“, sie wandte sich Mitras zu, der entspannt in seinem Sessel den Tee getrunken hatte: „… jetzt reden wir mal über dich.“ Mitras blickte sie erstaunt an und zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. „Du siehst deutlich jünger als, als ich dich in Erinnerung habe. Was ist geschehen?“ Mitras lachte. Das war es also. In einer gezielt eitlen Bewegung strich er sich eine Haarsträhne von der Stirn und lächelte sie an. „Ist es dir also aufgefallen? Ja, das habe ich Kira zu verdanken. Sie trägt Unmengen an Magie in sich und kann zudem die Magie in einem wahrhaftig irrsinnigen Tempo kanalisieren. Sie hat mir Magie übertragen, um mir beim Laden des Generators zu helfen. Und naja, was soll ich sagen? Ich wollte es vorher testen. Und sie hat mich plötzlich mit so viel Magie geflutet, und irgendwie kam mir dieser Zauber in den Sinn…“ Er verstummte. Es war seltsam, sich mit ihr, die er immer als eine Art ältere Schwester mit großer Reiselust gesehen hatte, über Magie zu unterhalten. Wie funktionierte Magie bei den Inuk überhaupt? „Dieser Zauber? Ist das etwas aus der Verwandlungsmagie?“ Stefania war merkbar interessiert. Mit einem Ruck überwand Mitras sein Zögern. „Möchtest du ihn lernen?“ Vielleicht würde er dabei auch einiges interessantes über die Magie der Inuk lernen, wenn er ihr dabei zusah. Sie dachte einen Moment nach, schüttelte dann aber den Kopf. „Wenn es Verwandlungsmagie ist, wird es vermutlich eh nicht klappen. Ich kann besser mit … nichtmateriellen Energien umgehen. Also ein Lüftchen kann ich vielleicht noch bewegen, aber meine Fältchen hier würden sich vermutlich nur verziehen.“ „Wie hast du Magie gelernt?“ Stefania schmunzelte. „Weniger mathematisch als du!“ Dann wurde sie ernst. „Kleiner Bruder, ich verstehe, dass du neugierig bist. Aber ich kann dir nicht zu viel darüber sagen. Anders als ihr halten wir unser Wissen in mündlichen Überlieferungen fest – und das auch, um es zu schützen. Bücher lassen sich nachlesen.“ Mitras nickte. Es gab viele Gründe, warum die Inuk in Albion öfter misstrauisch beäugt wurden – ihr Wissen im Bereich der Hellsichtmagie war defintiv einer davon. Sie betrachtete ihn nachdenklich. „Allerdings, was ich machen könnte… ich könnte dich sehen lassen, was ich sehe, wenn ich die Kette untersuche.“ Interessiert blickte Mitras sie an. „Das wäre wirklich spannend. Was brauchst du dafür?“ Stefania blickte sich um. „Zuallerst ein vernünftiges Essen. Dann Ruhe. Und ich nehme an, du hast irgendwo einen vernünftigen Zirkel? Ihr Buchmagier habt doch alle sowas…“ Mitras nickte. „Selbstverständlich. Heißt das, du würdest zum Essen bleiben und es dann gleich heute versuchen?“ Stefania dachte kurz nach und nickte dann. „Ich schicke eben eine Botschaft an Titus, dann kann ich auch bleiben. Dann ist es zumindest erledigt.“ „Gut, dann machen wir es so.“

Nachdem sie auch den zweiten Tag mehr oder weniger im Bett verbrachte, hatte Kira endlich das Gefühl, sich nicht mehr bei jeder Bewegung vor Schmerz krümmen zu müssen, also hörte sie mit dem Lesen auf, zog sich an und ging nach unten. Abby saß auf der Treppe und drehte sich freundlich lächelnd zu ihr um, als sie die Galerie entlang kam. „Na, Kindchen, besser heute?“ Kira nickte. Aus dem Salon klangen Stimmen. „Haben wir Besuch?“ Abby nickte: „Ja, Stefania ist da. Das ist Williams Schwester. Ich warte hier nur, ob Mitras oder sie etwas brauchen. Soll ich dich ankündigen?“ Verlegen stand Kira einen Moment auf der Treppe und sah an sich herunter. Sie trug ein blau-grünes Kleid, dass Abby ihr vor einigen Tagen fertig gestellt hatte. Es war schlicht, aber durch den edlen Stoff durchaus repräsentabel. Sie fasste sich kurz an den Hals und vermisste die Muschelkette. Ganz ohne Schmuck war es seltsam, sich den Gästen des Hauses zu präsentieren, stellte sie fest. Im Niggel, den sie den ganzen Morgen gelesen hatte, war ausführlich beschrieben, dass der erste Eindruck wichtig war, und dass angemessene Kleidung und Schmuck von der Dame von Adel erwartet wurden. Auch wenn es nur Williams Schwester war, sie sollte darauf achten, wie sie sich präsentierte. Ihr fielen die Ohrringe ein. „Nicht jetzt. Ich werde mich ein bisschen gästetauglicher machen und komme dann wieder.“ Abby zuckte mit den Schultern, widersprach aber nicht, also ging Kira zurück in ihr Zimmer, legte die Ohrringe an und kämpfte dann eine ganze Weile mit ihren Haaren, um sie zu einem vernünftigen Zopf zu flechten. Sie hatte schon immer Locken gehabt, aber in der letzten Zeit waren sie ja besonders schwierig zu bändigen. Irgendwie wirkten sie wirklich heller… sie grübelte. Natürlich kam der Braunton ihrer Haare auch von dem Walnussextrakt, mit dem sie sie gefärbt hatte, um nicht so aufzufallen, und auf den sie nun verzichten wollte. Aber selbst, wenn sie einen Ansatz gehabt hatte, hatte er nicht so deutlich rötlich gewirkt, wie die Spitzen ihrer Haare jetzt. Es sah fast aus, als würden sie von unten her heller und röter werden. Ob das an der Magie lag? Wenn das so weiter ging, würde sie bald wirklich ganz wie eine Skir aussehen… Eine Weile kämpfte sie doch wieder mit dem Gedanken, dann gelang es ihr, sich damit anzufreunden. Dann war sie eben eine Skirhexe. Eine freie Magierin konnte aussehen, wie sie wollte. Sie lächelte sich selbst im Spiegel an, atmete etwas Magie ein, sagte den Spruch auf und ließ probehalber ihre Bürste ein kleines Stück schweben und spürte, wie der Stolz durch sie hindurch floß. Sie konnte wirklich zaubern! Vorsichtig setzte sie die Bürste wieder ab. Ein Buch fiel vom Schreibtisch und ließ sie erschrocken zusammen zucken. Wie war das passiert? Sie sah sich um, doch der Rest des Raumes sah aus wie vorher. Vermutlich hatte es zu nah an der Kante gelegen. Sie beendete ihre Frisurbemühungen, hob es wieder auf und ging dann nach unten.

Mitras saß mit einer etwas älteren Frau im Esszimmer. Als Kira herein kam, unterbrachen sie ihr Gespräch und Mitras lächelte sie so freundlich an, dass Kira das Gefühl hatte, ihr Herz würde kurz stolpern. „Ah, da haben wir ja unsere Retterin meiner Jugend!“ Kira lief rot an. Warum hatte sie Mitras Jugend gerettet? Mitras stand auf, zog sie ganz in den Raum hinein und macht eine schwungvolle Handbewegung zwischen ihr und der Frau: „Darf ich dir vorstellen, Kira Silva, meine überaus begabte Schülerin, von der wir eben sprachen. Kira, das ist Stefania Brown, die ältere Schwester von William.“ Kira knickste höflich. Einen ausgelassenen und entspannten Mitras zu erleben, war immer noch verwirrend. Er wirkte viel mehr wie Frederike, stellte sie fest. Die ältere Frau vor ihr hatte ebenso wie William etwas bräunlichere Haut als Kira oder Mitras selber und lange, schwarze Haare. Sie trug einen langen, grünlichen Rock, der sich der neusten Mode folgend ein wenig bauschte, und ein Oberteil mit verschiedenen bunten Stickereien. Kira bewunderte die großen, goldenen Ohrringe, die sie trug. In den Ringen waren kleine Vögel aus Metal. Sie lächelte Kira freundlich an und reichte ihr über den Tisch hinweg die Hand. „Freut mich, dich kennen zu lernen.“ Kira nickte. Was sollte sie sagen? Du oder Sie? Immerhin war Stefania so alt, wahrscheinlich hätte sie auch ihre Mutter sein können… William erlöste sie aus der Verlegenheit. Er brachte aus der Küche einen großen Topf herein. „Bitte sehr, Tomatensuppe, wie mein Schwesterchen es liebt!“ Stefania klaschte in die Hände, um ihre Begeisterung zu zeigen, und gemeinsam mit Abby half sie William, allen aufzufüllen. Stefania saß auf Tobeys Platz, der wohl heute unterwegs war, wie Abby entschuldigend anmerkte. Die Tomatensuppe war tatsächlich sehr lecker, doch Kira merkte auch, dass sie das warme Essen schon wieder müde machte. Die Tage ohne Essen und Schlaf machten sich doch immer noch bemerkbar. Daher verabschiedete sie sich bald nach dem Essen und überließ sich bald wieder den weichen Daunen ihres Bettes, um für die neuen Zauberherausforderungen der nächsten Tage fit zu sein. Denselben Fehler würde sie nicht zweimal machen!

Beim Abendessen waren wieder alle entspannt. Auch William verhielt sich wieder normal. Mitras hatte ihn sich in einem passenden Moment zur Seite gezogen und dieser hatte ihm zu seiner Erleichterung verraten, warum er so verschlossen war – offenbar ging es um eine Liebelei mit einer Freundin seiner Schwester. Mitras hatte ihm klar gemacht, dass sein Verhalten Stefania eher aufmerksam machen würde. Dieser hatte Besserung gelobt und nun auch umgesetzt, wofür Mitras versprochen hatte, sein Geheimnis zu bewahren. Kurz nachdem Kira sich verabschiedet hatte, folgte Abby, die sich in ihr Haus zurückzog. „William, wir müssen dich nun leider auch allein lassen. Stefania möchte mir noch eine Kostprobe ihrer Fähigkeiten geben. Falls was ist, wir sind oben im Labor.“ „Und falls was ist, was nicht das Abbrennen des Hauses ist, behalt es für dich.“, ergänzte Stefania. William nickte und verbeugte sich gehorsam. „Ja, ich weiß schon, der nichtadelige Pöbel soll das Ritual nicht stören.“ Stefania versuchte, nach ihm zu hauen, er wich allerdings geschickt aus. Mitras lächelte. Ja, so kannte er die Geschwister. Ebenso wie in seiner Familie neckten sich die beiden gerne.

Mitras ging voran, öffnete ihr die Tür zum Labor und leitete sie in den hinteren Teil des Raumes zum Zirkel. „Entspricht er deinen Vorstellungen?“ Er blickte sie fragend an, nicht wissend, was sie nun eigentlich brauchen würde. „Doch, der ist gut. Die Kissen können weg, die stören nur, aber ansonsten reicht das schon.“ Mitras räumte die Kissen, die noch immer von Kiras Zauberversuch hier lagen, zur Seite und stellte auch die Geräte weg. „Sie hat eine schöne Aura, deine Kira. Und ungewöhnliche Haare. Skirvorfahren?“ Mitras zuckte mit den Schultern. „Das habe ich auch gedacht, aber sie weiß von keinen.“ Einen Moment lang schwieg die weitgereiste Magierin, dann lächelte sie geheimnisvoll und sagte: „Nunja, es würde vielleicht ihr Potential erklären. Aber was die Geister noch nicht aufdecken wollen, ruht, bis es aufgedeckt werden soll.“ Mitras blickte sie fragend an, doch Stefania setzte sich im Schneidersitz in die Mitte des Kreises und ignorierte seinen Blick. „Für den ersten Teil brauche ich Ruhe, am besten du gehst ein paar Schritte weg. Dann, wenn ich mit der Sondierung fertig bin, werde ich dich heranwinken. Wenn ich in der Phase spreche, kann ich den Kontakt zu den entfernten Bildern verlieren. Der Zauber orientiert sich am Gegenstand, an den Bindungen, die er hat oder hatte. Er ist sehr instabil, denn, was wir sehen und hören, stammt nicht nur von einem anderen Ort, sondern höchstwahrscheinlich auch von einer anderen Zeit. Hör mir jetzt also genau zu. Du wirst dich dort, mir gegenüber aber außerhalb des Kreises hinsetzen. Wenn ich dir meine Hände entgegenstrecke wirst du meine Unterarme greifen und dich auf mich konzentrieren. Danach kannst du alles mir überlassen, du darfst dich nur nicht gegen meinen Einfluss wehren, sonst komme ich nicht durch. Das übermitteln funktioniert nur, wenn dein Geist dafür offen ist. Hast du alles verstanden?“ „Ja. Abstand halten, ruhig bleiben. Bei Aufforderung herankommen, ohne den Kreis zu betreten. Auf Aufforderung deine Arme greifen, nicht die Hände und für alles offen sein.“ „Gut. Letzteres gilt nicht nur für die Kontaktaufnahme, sondern für den gesamten Prozess. Egal was ich dir zeige, du musst offen bleiben. Sobald du dich davon abwendest, verliere ich alles, was wir dann noch nicht zusammen gesehen haben. Das ist das Risiko bei diesem Zauber. Ich werde mich nun in eine Trance versetzen und bin erst wieder ansprechbar, wenn wir fertig sind.“ „Ist gut. Sollte ich doch zurückschrecken..?“ „Keine Sorge mir geschieht dabei nichts, nur das erlangte Wissen ist dann weg. Es ist schwer in Worte zu fassen. Es ist Magie, die sich nicht in eure Formeln fügen will, die sich nicht mit euren Mitteln beschreiben lässt.“ „Gut, ich glaube, ich habe verstanden.“ Mitras entfernte sich vom Kreis und setzte sich an seinen Schreibtisch, abwartend und neugierig was nun kommen würde. Die Magie der Inuk war komplett unbekannt und außer ihm gab es in den letzten Jahrhunderten, wahrscheinlich sogar seit der Gründung der Schulen, nur eine Handvoll Magier, die ihr beigewohnt hatten. Er verstand im vollen Maße das Vertrauen, dass Stefania ihm hier gerade entgegenbrachte und er hoffte, dass er sich dessen als würdig erweisen würde.

Zuerst begann sie in einem unverständlichen Singsang vor sich hin zu murmeln, die Kette dabei fest in beiden Händen haltend. Dann kamen immer schwungvollerere Gesten hinzu, bei denen sie abwechselnd immer eine Hand von der Kette nahm und in immer komplizierteren Bewegungen durch die Luft fuhr. Bei der Beobachtung verlor er jegliches Zeitgefühl, aber er bemerkte, dass sich die Magie im  Raum um ihn langsam leerte. Als sie wieder ruhig wurde und ihm mit einer knappen Bewegung heranwinkte, konnte er nicht sagen ob zehn Minuten, eine Stunde oder die halbe Nacht vergangen war. Er setzte sich im Schneidersitz vor sie, streng darauf achtend, den Kreis nicht zu berühren und streckte die Arme aus. Er ergriff ihre Unterarme, woraufhin sie die seinen schon fast krampfend umschloß. Für einen kurzen Moment lag eine ungeheure Kraft in ihren Fingern, dann wurde ihr Griff sanfter. Er entspannte sich und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf sie und versuchte alles andere auszublenden. Er öffnete seinen Geist und spürte wie sie ihre Fühler nach ihm ausstreckte. Ihr Verstand berührte den seinen und er tauchte in eine Flut von Bildern ein, die erst völlig zusammenhangslos auf ihn einstürzten. Dann schwamm er plötzlich in einem Meer aus Nebel. Zuerst schemenhaft, dann immer detaillierter sah er eine Person vor sich. Ein junger Mann, etwas jünger als er. Kurze, hellbraune Haare, ein Schimmer von rot im Bart. Grüne Augen. Kiras Augen. Das musste Adrian sein, ihr Bruder, von dem sie erzählt hatte. Der Nebel lichtete sich weiter. Adrian stand in einem Flur und umarmte eine Frau, hochgewachsen, etwa Stefanias Alter, mit tiefschwarzen Haaren. „Hallo Mutter!“ „Schön, dass du wieder da bist!“ Sie zog ihn durch eine Tür am Ende des Flures, und Mitras spürte, wie er mitgezogen wurde, gebunden wohl an Adrian. Sein Blick auf den Raum war beschränkt, als sei er ein Stückchen oberhalb von Adrians Kopf festgebunden. Er konnte stets nur dorthin blicken, wo auch der junge Mann hinsah. Dieser blickte sich nun allerdings suchend im Raum um, in dem ein älterer Mann mit weißen Haaren und ähnlich grünen Augen und ein etwa 19 oder 20 Jahre alter Bursche mit mittellangem, schwarzen Haar und tiefschwarzen Augen standen. Vater und zweiter Bruder, dachte Mitras sich, und wurde durch die ausgetauschten Begrüßungen bestätigt. „Wo ist Kira?“ Die Mutter verzog das Gesicht. Der jüngere Bruder lachte, ein gemeines Lachen. „Hast du es noch nicht gehört? Sie hat Johann di Lohnas einen Arm verdreht, deine Lieblingsschwester ist nämlich doch eine richtige Hexe!“ Adrian machte eine überraschte Bewegung. „Was?“ „Sie hat magisches Talent.“ Der Vater versuchte offenbar, die Beschreibung zu beschwichtigen. „Talent?“ Die Stimme der Mutter gellte in Mitras Kopf nach. „Das nennst du Talent? Ich hab ein Hexenbiest gefüttert all die Jahre! Das hat sie alles nur von deiner Mutter! Wenn du mir früher gesagt hättest, was du da für Blut in dir trägst, hätte ich sie gleich töten können, ehe ihre Haare auch nur ein Stück an Schande über unsere Familie gebracht haben! Ein Mädchen wollte ich sowieso nie!“ Mitras spürte, wie die Wut in ihm aufstieg. Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen, um den Zauber nicht zu brechen. Der jüngere Bruder setzte der Triade der Mutter noch eine Spitze auf, als er höhnisch ergänzte: „Deine Lieblingsschwester ist auch gar nicht so Liebling, wie du immer dachtest! Sie hat wohl einen zuviel getrunken und ist dann rasend auf Johann losgegangen, als er ihr aufhelfen wollte. Wenn nicht ein Magier aus Uldum gekommen wäre, hätte er jetzt wahrscheinlich gar keinen Arm mehr.“ „Richtig!“, fiel die Mutter wieder ein, immer noch gegen den Vater gerichtet. „Das hast du davon, dass du ihr diese ganzen Extravaganzen hast durch gehen lassen. Das ganze Dorf redet über uns – nein, ganz Burnias!“ Adrian hob eine Hand. „Mutter, stopp. Nicht ganz Burnias, sonst hätte ich auf dem Weg hierher schon davon gehört. Was habt ihr mit ihr gemacht? Geht es ihr gut?“ Die Mutter schnaubte. Der Vater, der bisher Adrian nicht angeblickt hatte, sondern zur Seite gedreht gestanden hatte, schaute ihn nun an und nickte: „Jaja, es geht ihr bestimmt gut. Bruder Harras hat die Magierschule informiert, und sie ist jetzt in Uldum, geht zur Schule. Hatte sie doch immer gewollt.“ Der jüngere Bruder zischte. „Tsss. Ist schon unfair, warum sie auch noch dafür belohnt wird. Ich sag doch immer, Gewalt ist eben doch eine Lösung.“ Adrian wandte sich zu ihm um und herrschte ihn an: „Torge, hör auf damit. Sie ist allein in einer riesigen Stadt, bei fremden Leuten, wer weiß, wie es ihr geht. Ich glaube kaum, dass man das Belohnung nennen kann. Schlag dir deine fürchterlichen Gedanken aus dem Kopf von Gewalt als Lösung. Gewalt erzeugt immer Gegengewalt.“ Immerhin waren anscheinend nicht alle in dieser Familie völlig daneben, dachte Mitras. „Wo ist Bruder Harras jetzt?“ „Vermutlich zuhause, aber Adrian, du kannst ihn doch jetzt nicht stören. Es ist schon spät! Iss mit uns. Wir haben dich so lange nicht gesehen. Wie war die Reise? Warst du erfolgreich? Hast du viel verdient?“ Die Stimme der Mutter war plötzlich sanfter, während sie ihren Sohn zum Esstisch bugstierte. Der Nebel nahm wieder zu, und plötzlich fand Mitras sich wieder auf dem Boden seines Labors wieder, mit einer Mischung aus Wut und Übelkeit im Magen.

Stefania hatte ihn losgelassen, er konnte nicht sagen, ob das schon vor Ende der Vision war oder erst danach. Ihre Hände lagen ruhig auf der Kette und sie schien noch in Trance zu sein. Plötzlich ging ein Beben durch sie und sie begann, heftig zu schluchzen. Sie sackte nach vorne und er konnte sie gerade noch auffangen. „Diese Monster, das eigene Kind, die Schwester so zu verstoßen!“ „Ja, Stefania, ich weiß.“ Er wartete, bis sie sich wieder gefangen hatte, und versuchte das Erlebte zu verarbeiten. Sich zur Ruhe zwingend ging er alles noch einmal durch, streng darauf bedacht nichts zu übersehen. Das erste, was ihm in den Sinn kam, war ein Name, di Lohnas. Damit konnte man arbeiten. Dann fiel ihm noch etwas anderes ein: „Das hat sie alles nur von deiner Mutter!“ Die grünen Augen stammten vom Vater. Ob das magische Talent und die roten Haare von seiner Mutter kamen? Kira kannte ihre Großmutter nicht. Er hatte es vermutet, aber nun war es Gewissheit. Ihre Großmutter musste von den Skir abstammen. Und wenn die großen Skirhexen nur halb so mächtig waren, wie die Geschichten aus dem letzten Krieg andeuteten, dann erklärte das sehr gut Kiras Kräfte. Stefania stand auf und schüttelte sich. „Brüderchen, lass dir eins sagen: Ich werde dir auf keinen Fall etwas berechnen für diesen Zauber. Und wann immer du wieder meine Hilfe brauchst, um ihr zu helfen, du kannst auf mich zählen. Du bist Familie, also ist sie jetzt auch Familie.“ Mitras neigte dankbar den Kopf. „Danke, große Schwester. Und danke für dein Vertrauen, mich das hier sehen zu lassen. Es war eine interessante Erfahrung, auch wenn der Inhalt der Vision alles andere als schön war.“ Er schwieg einen Moment. Mitras kannte Kira nun gerade mal fünf Wochen, doch sah er sie schon als Freundin. Als Familie. Ja, das fühlte sich richtig an. Er würde sie ausbilden, schützen – und auch für Gerechtigkeit sorgen, sobald es ging und mit Johann würde er beginnen. Er würde alles tun, was er konnte, um ihr ein besseres Leben zu bieten. Das hatte sein kleines, überaus mächtiges Eichhörnchen – oder doch Skirhexe? – auf jeden Fall verdient.

Er verschiedete Stefania, nachdem sie noch eine Weile über William und insgesamt die Familie gesprochen hatten. Nachdenklich ging Mitras danach den Flur entlang. In seinem Zimmer schaute er einen Moment lang den Spiegel an, dann aktivierte er die Runen und betrachtete Kira, die halb von der Decke bedeckt friedlich schlief. Eine lange Weile saß er einfach nur da und beobachtete sie, ihren friedlichen Atem, wie sich ihre Brust hob und senkte, und er spürte, wie es ihn beruhigte zu wissen, dass sie jetzt in Sicherheit war und dass es ihr gut ging.

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