Ganz nach Protokoll – 27. Lunar 242

Am Schengstag scheuchte Abigail Kira schon früh herum, um sie zu baden und ihr die Haare zu bürsten. Kira war nervös, aber wie beim Besuch von Nathanael war die Haushälterin noch deutlich nervöser als sie selbst. Nach ein paar Stunden kam Kira sich wie ein gestriegeltes Pferd vor, herausgeputzt zur Vorführung. Sie sah allerdings wirklich gut aus, sogar ihre Locken hatte Abigail kunstvoll hochgesteckt. Dazu trug sie einen grünen Rock mit vielen gerafften Falten und ein seidenes Oberteil mit Korsett, auf dem auf grünem Stoff hauchdünn silbrige Blätter abgedruckt waren. Die Kette und die Ohrringe passten perfekt dazu, ebenso der hellgrüne Hut mit den weißen und silbrigen Bändern, den Abigail aus ihrem eigenen Kleiderschrank herbei zauberte. Selbst die Schuhe waren neu und passten mit einem leichten Grünton im weichen Leder zu den restlichen Sachen. Woher Abby sie hatte und warum sie Kira perfekt passten, verriet sie nicht, aber Kira vermutete, dass entweder sie selbst oder Mitras da entsprechend vorgesorgt hatten und fühlte sich wie eine Prinzessin. Als Abby fertig war, betrachtete sie Kira eine Weile und sagte dann zufrieden mehr zu sich selbst: „Ja, eine magische Adelige, aber nicht zu aufällig, richtig für einen Mittagsbrunch am Schengstag, und das Grün steht dir ganz ausgezeichnet und der Hut ist auch richtig für diese Saison.“ Kira lächelte sie an und bedankte sich mit einem Knicks, was Abby lächeln und begeistert klatschen ließ. „Ja! Du wirst uns keine Schande machen.“ Kira freute sich über das Lob, holte sich ihren Mantel und trat mit neuem Mut aus dem Haus, wo Mitras bereits bei einer Kutsche wartete. Er trug seine übliche schwarze Hose und dazu eine grünliche Weste mit aufwendigen silbernen Stickereien über einem weißen Hemd. Sein Mantel war ebenso wie ihrer am Kragen mit Pelz besetzt, nur dass er offenbar mehr Geld dafür ausgegeben hatte, denn der Pelz war hellweiß. Vielleicht ein weißer Fuchs? Kira kannte kaum Tiere, die einen so weißen Pelz hatten. Ob er die Grundfarbe seiner Weste passend zu ihrem Kleid ausgesucht hatte? Auf jeden Fall passten sie gut zusammen.

Mitras hatte sich gerade ein wenig mit dem Kutscher Julius unterhalten und diesen beiläufig über die Situation in der Stadt ausgefragt. Anscheinend wurde es auf der anderen Seite des Corvius im Hafenviertel immer unruhiger. Julius selbst, der meistens Adelige oder reiche Händler fuhr, wollte die Brücken seit einigen Tagen nicht mehr passieren, er gab zu, dass er schon entsprechende Aufträge abgelehnt hatte, und meinte, dass bereits einige seiner Kollegen dort drüben überfallen worden waren. Mitras konnte sich kaum vorstellen, dass die Wache so etwas zu ließ, aber ehe er sich noch weiter Gedanken darüber machen konnte, kam Kira aus dem Haus. Sie hatte den Mantel noch offen und er konnte das Kleid sehen, das sie trug. Abby hatte sich einmal mehr selbst übertroffen. Es passte perfekt zu Kira und betonte ihre natürliche Schönheit. Das Kleid und auch die Frisur ließen Kiras alten Mantel nur um so älter und unscheinbarer wirken. Es war kein schlechtes Stück, aber es passte nun wirklich nicht mehr zu ihrer Gaderobe, jedenfalls nicht zu solchen Anlässen. Auch wenn sie in dem Kleid die richtige Wirkung erzielen würde, konnte er sie mit diesem Mantel so nicht vorführen. Christobal würde sie sicher sehen, bevor die Dienerschaft ihr den Mantel abgenommen hätten, und er würde sicher Anstoß daran nehmen. William, der sich durchaus auch zu kleiden wusste, war als Jugendlicher grundsätzlich irgendwo herumgeklettert – so waren sie ja auch in di Pinzons Garten gelangt, allerdings zum Preis eines Hosenbeins von William. Der hatte sich die Kleidung der beiden genau angeschaut. Mitras war sich wohl bewusst, dass er seine Förderung durch den Herzog nicht nur, aber durchaus zu wesentlichen Teilen der Tatsache verdankte, dass er an diesem Tag bessere Kleidung als ein durchschnittlicher auf den Straßen spielender Junge getragen hatte. Di Pinzon war traditionell, und als traditioneller Adeliger achtete er auch auf Statussymbole. Mitras griff in seine Westentasche und zog eine silberne Uhr hervor, ein Geschenk von Christobal selbst zu seiner Magisterprüfung. Die Zeit reichte noch. „Hallo Kira, du siehst umwerfend aus. Allerdings müssen wir dir noch einen neuen Mantel besorgen. Für einen Spaziergang in der Stadt ist er mehr als gut genug, aber wir sind auf dem Weg zu einem Essen mit einem Herzog und Ehrenprofessor der Universität zu Uldum. Auch wenn er ein Freund von mir ist, so ist er doch ein sehr standesbewusster Mann.“ Kira, die zu Beginn bei seinem Lob zu strahlen begonnen hatte, sah ihn verunsichert an und zupfte am Kragen ihres Mantels. „Noch ein Geschenk?“, fragte sie verlegen. „Mehr eine Notwendigkeit. Vergiss nicht, es ist meine Aufgabe dich vorzubereiten und auszustatten. Und wenn ich dich dabei vielleicht ein bisschen besser ausstatte, als nötig, dann ist das nur deinen bisschen besseren Leistungen geschuldet.“ Kira lief rot an. „Danke.“ hauchte sie, und er hatte fast den Eindruck, sie würde ihn dabei anhimmeln, aber das bildete er sich vermutlich nur ein.

Eine Stunde später standen sie vor dem Anwesen Christobals. Kira trug nun einen Mantel aus feinster Wolle, verziert mit weißen Stickereien und einem ebenso weißen Pelz, wie er trug. Der Hermelin war selten – nur wenige Händler trauten sich über das Binnenmeer, um ihn zu horrenden Preisen von den Skir zu erwerben. Also hatte auch der Mantel einige Goldmünzen gekostet, und Kira war immer noch feuerrot im Gesicht, ein Zustand, den sie seit dem Zeitpunkt hatte, als Mitras seine Börse herausgeholt hatte. Er wandte sich zu ihr, nachdem Julius losgefahren war. „Kira? Versuch mal, etwas ruhig zu atmen, so wie bei den Meditationsübungen.“ Er musste zugeben, dass er ihre sprachlose Freude, gemischt mit Verlegenheit und Scheu, sehr niedlich und erfreulich fand, aber jetzt wäre es wohl besser, wenn sie sich etwas sammeln würde. Sie blickte ihn einen Moment an, dann nickte sie, straffte die Schultern und richtete sich mit dem Einatmen auf, wie sie es bei der Meditation gelernt hatte. Es dauerte einen Moment, aber ihre Gesichtsfarbe normalisierte sich und die Scheu verschwand aus ihrer Haltung. Nun war sie die umwerfende junge Magierin, die di Pinzon beeindrucken würde – genug, dass er ihr Unterricht geben würde, hoffte Mitras. Er musste aber zugeben – egal wie dieses Essen und das Gespräch danach ausgehen würde, er war jetzt schon wahnsinnig stolz auf sie und ihre Entwcklung im letzten Monat.

Er wandte sich zu dem großen Tor, das genau in diesem Moment aufschwang, als er darauf zutrat. Zwei Wächter standen seitlich hinter der Mauer, einer der beiden bediente die Winde, die das Tor öffnete, der zweite grüßte die beiden mit einer tiefen Verbeugung. Mitras nickte ihm zu. Sicher wurden sie bereits vom Haupthaus beobachtet, irgendein Bote würde losgelaufen sein, sobald Julius vor dem Tor gehalten hatte. Er reichte Kira seinen Arm und führte sie über den breiten Sandweg auf das prunkvolle Gebäude zu, dessen Kern Pinzons Großvater wohl einst als vorrübergehende Resizenz hatte errichten lassen, wenn ihn die gesellschaftlichen Verpflichtungen aus seinem Herzogtum in Sybergia nach Uldum gerufen hatten. Damals war das Bauland westlich des Avens noch nicht so begehrt gewesen, da der neue Palast noch nicht auf dem Hügel gewesen war und nur einige Händler und Handwerker hier bauten. Dementsprechend großzügig war die Anlage. Christobals Vater hatte das ursprüngliche Gebäude zu einem wahren Palast ausgebaut, was einen nicht kleinen Teil des Reichtums der Familie gefressen hatte. Einen Reichtum, der unter den alten Adelshäusern seinesgleichen suchte. Neben den Einnahmen aus ihrem fruchtbaren Lehen kontrollierten die di Pinzons eine der wichtigsten Handelrouten nach Norden und hatten auch schon zu Zeiten, als das Land jenseits des Flusses noch den Skir gehörte und das Rasenna Reich noch bestand, viel Handel dorthin betrieben. Auch heute noch unterhielt der Herzog noch wichtige Handelsbeziehungen in den Norden und konnte sich so sein auschweifendes Leben hier leicht finanzieren, wo andere Adlige hinter ihrer Fassade aus Pomp, ausschweifenden Festen und teuren Schmuck Berge von Schulden verbargen. Nach den Baumaßnahmen seines Vaters hatte Christobal sich selbst den Luxus gegönnt, einen Teil des Gartens nachträglich mit einem Ballhaus zu bebauen, und dennoch gab es noch einen kleinen Garten mit verschiedenen Obstbäumen und einer erlesenen Auswahl an Blumen. Es gab Gerüchte, dass Christobals Frau, die früh bei einem Überfall ums Leben kam, die Blumen geliebt hatte, und ihr zu Ehren pflegte der alte Herr sie immer noch selbst. Christobal sprach allerdings selten von seiner Frau oder seiner Familie – auch seine Schwester war bei diesem Überfall gestorben und sein ungeborenes Kind – also wusste Mitras nicht genau, ob das Gerücht stimmte oder nur eine ausgedachte Geschichte war, um das manchmal wohl etwas schrullige Verhalten des Herzogs zu erklären.

Mitras hatte einiges vom Umgang mit Geld von seinem Mentor übernommen, auch wenn er in der Außenwahrnehmung deutlich bescheidener geblieben war. Aber di Pinzon protze nicht nur, er war auch äußerst wohltätig. Mehrere Knabenschulen, Suppenküchen, Hospizen und andere soziale Einrichtungen hatte er gegründet. Er sagte immer, dass es die Pflicht des Adels sei die Armen und Schwachen zu beschützen, nur das die Bedrohungen heute andere seien als in den fernen Tagen, als das erste Reich gegründet worden war. Er war also im Großen und Ganzen ein gütiger und großherziger Mann, nur seine Verbohrtheit über die Rolle der Frau in der Gesellschaft hatte zu regelmäßigen, teils hitzigen Diskussionen zwischen ihnen geführt. Zum Glück hatten sie sich darüber nicht zerstritten, wie es bei Christobal und Felicia di Ferrus, Sebastians Mutter, der Fall war. Mitras stimmte es immer wieder traurig, dass die beiden, die sich doch in so vielen Ansichten ähnlich waren, sich so wenig leiden konnten. Er wusste aber auch, dass Christobal sehr verbohrt war und auch Felicia einen gewaltigen Dickschädel hatte. 

Mitras bot ihr nun den Arm dar, damit sie sich bei ihm unterhaken konnte. Sie zögerte nur kurz und hakte ihren Arm dann in der korrekten Weise ein, was er mit einem kurzen Lächeln und einem Nicken quittierte und ging dann los auf den Haupteingang des Hauses zu. Das Gebäude ragte aus einem steileren Hang heraus, was dazu führte, dass die dreigeschößige Vorderfront mehr als 16 Meter in die Höhe ragte, währen das gut 20 Meter weiter hinten liegende Ende des Gebäudes nur noch zwei Geschoße oberhalb der Erde hatte. In zwei doppelten Bögen führten Treppen zu einer kleinen Terrasse vor der Tür. Genau in der Sekunde als Mitras und Kira die letzte Stufe hinter sich ließen schwang die Tür auf und ein Diener in der Lifre des Herzogtums stand seitlich versetzt und verbeugte sich vor ihnen. „Guten Tag Herr di Venaris, Mylady. Herzog di Pinzon erwartet sie bereits.“ Vermutlich gab es im ganzen Reich kein förmlicheres, ja schon versnobtes Wesen wie Christobals obersten Buttler David Mordomo. „Guten Tag David. Dürfte ich Sie wohl darum bitten unsere Mäntel zu nehmen?“ „Jawohl, mein Herr. Ich werde sie Ihnen umgehend abnehmen.“ Er wandte sich zunächst zur Tür und schloss diese, ehe er sich zu Kira umwandte, „Gestatten, Mylady?“ Kira, schon wieder leicht errötend, drehte ihm galant den Rücken zu und ließ den Mantel ein wenig runter rutschen, nur so weit, dass er ihn ihr ohne weiteres abnehmen konnte. „Ja, bitte.“ Mitras war erstaunt über die Akkuratheit ihrer Gesten und wie sie korrekt auf den Diener reagierte. Sie musste den Niggel wesentlich intensiver durchgearbeitet haben, als er dachte. Das würde nun sehr viel wert sein, da Christobal bereits in seiner üblichen Spähecke auf der Galerie im ersten Stock stand. Er war dort gut verborgen und konnte gleichzeitig seine Gäste beobachten und sich ein Bild von ihnen machen. Nur weil Mitras wusste, worauf er achten musste, konnte er feststellen, dass sie bereits beobachtet wurden.

Kira spürte, wie ihr Herz immer noch zu schnell schlug. Mit Mitras einzukaufen war, obwohl sie die ersten Geschäfte in Uldum ja schon mit Abigail und Sebastian erlebt hatte, eine wirklich zugleich wunderschöne und erschreckende Erfahrung. Er war zielstrebig zu einem Laden in der Altstadt gegangen, der in einer kleinen Gasse verborgen lag. Dort hatte es verschiedene Mäntel gegeben, doch der Verkäufer hatte Mitras nur gesehen, sich tief verbeugt und die beiden anschließend direkt in ein Hinterzimmer geführt, als seien sie Mitglieder in einem Geheimbund. Nachdem er erfahren hatte, für wen ein Mantel gesucht wurde, hatte er sie kurz allein gelassen und war anschließend mit drei Mänteln zurückgekehrt, einer edler als der andere. Kira hatte noch nie so edle Pelzmäntel gesehen. Mitras hatte sie alle drei anprobieren lassen und sie gefragt, welcher ihr gefiele. Sie wusste nicht, was der Mantel gekostet hatte, für den sie sich letztendlich zögerlich entschieden hatte, aber er war unglaublich. Außen bestand er aus einer feinen, eng gewobenen Wolle, doch innen lag ein weiches, helles Fell von einem Tier, das sie nicht kannte – und sie hatte sich die ganzen Beschreibungen, die der Händler heruntergerasselt hatte, auch nicht merken können – und am Kragen und an der Kapuze hatte er einen ebenso weißen Pelzbesatz wie Mitras Mantel. Hermelin hieß das, soweit hatte sie zuhören können, und sie hatte auch schonmal davon gehört, ihr Vater hatte einmal damit geprahlt, so ein Fell erstanden und zu einem sehr guten Gewinn weiter verkauft zu haben. Als Mitras den Händler letztendlich bezahlte, hatte er gar nicht erst zu Silber gegriffen. Kira hatte sehr wohl gesehen, dass es mehrere – auf jeden Fall mehr als drei – Goldmünzen gewesen sein mussten, die er dem Händler gab, und seitdem wusste sie nicht, ob sie ihm um den Hals fallen oder sich schuldig fühlen sollte, weil er ihretwegen so viel Geld ausgeben musste. Mitras hatte sie angelächelt, als sie wieder zur Kutsche gegangen waren, und gesagt, dass sie „sehr hübsch“ aussähe, und das hatte wirklich nicht geholfen, ihren Puls zu beruhigen. Erst die Atemübungen, die er ihr angeordnet hatte, und ihre jahrelange Übung darin, den Anschein von Normalität zu wahren, hatten bewirkt, dass sie nicht mehr so rot im Gesicht war und wahrnehmen konnte, zu was für einem beeindruckenden Anwesen sie gefahren waren. Vom riesigen Tor über den wundervoll angelegten Garten mit Rosenstöcken und verschiedenen Arten von Büschen, die selbst im Schneematsch gut aussahen, bis hin zum großen, hoch aufragenden Gebäude sagte alles hier, dass der Besitzer sowohl reich als auch mächtig war – aber auch geschmackvoll, wie sie feststellte.

Sie dankte sich selbst, den Niggel weiter durchgearbeitet zu haben und mit Sebastian vor einer Weile schon im Café das korrekte Empfangen geübt zu haben, als ihr der Butler den schönen Mantel abnahm. Mitras blickte nervös zur Galerie hin, die oberhalb des großen Raumes verlief. Hatte er nicht gesagt, Christobal di Pinzon sei sein Mentor gewesen? Offenbar hatten die beiden kein so entspanntes Verhältnis, wie Mitras es mit dem Herzog di Blanca pflegte, denn soweit Kira Mitras schon kannte – so nervös hatte sie ihn noch nicht gesehen. Sie schaute sich neugierig um. Die Empfangshalle war deutlich größer als die bei Mitras, und an ihrem Ende gab es in der Mitte eine riesige Treppe, die hinauf zur Galerie führte. An den Wänden waren verschiedene Gemälde und elektrische Leuchter, an der Decke hing ein riesiger Kronleuchter, der das Licht in glitzrigen Kristallspittern auffing und den Raum so ein wenig funkeln ließ. Der Boden war mit einem bläulichen, dicken Teppich bedeckt.

„Mitras di Venaris, ich freue mich, dich wieder begrüßen zu dürfen!“ Erstaunt blickte Kira zur Treppe, auf der nun plötzlich ein mittelgroßer Mann mit weißen Haaren und einem sorgfältig geschnittenen weißen Bart stand. Sie konnte sein Alter schwer schätzen, seine Haare sprachen für älter als 60, aber seine Hände, seine Haut und seine Bewegungen wirkten jünger. Kira überlegte kurz, ob er auch diesen Verjüngungszauber genutzt hatte, der Mitras hatte jünger und frischer aussehen lassen. Mitras verbeugte sich, nicht besonders tief, aber deutlich respektvoll und Kira beeilte sich, ebenfalls eine Verbeugung zu machen – sie achtete darauf, dass sie dabei angemessen knickste, wie es sich für eine junge Dame von niedrigem Adel gehörte, und verbeugte sich auch tiefer als Mitras. Immerhin war er ein Graf, und sie hatte ja eigentlich gar keinen Titel. Sie beobachtete, wie Mitras ihrem Gastgeber die Hand schüttelte, und revidierte ihre Einschätzung über die Vertrautheit des Verhältnisses. Obwohl beide sich sehr genau an das Protokoll hielten, war Wärme und Zuneigung aus ihren Bewegungen und Berührungen zu lesen. Nach einigen kurzen Sätzen drehte sich Mitras halb zu ihr, zog sie ein Stück näher und sagte: „Christobal, ich stelle dir Kira Silva vor, meine Discipula. Kira, dies ist Professor Herzog Christobal di Pinzon, mein Mentor.“ Kira knickste erneut und grüßte den Herzog: „Es ist mir eine Ehre, in eurem Haus zu Gast sein zu dürfen, geschätzter Herzog di Pinzon.“ Der Herzog zog mit einer Mischung aus Erstaunen und Anerkennung eine Augenbraue hoch, während er schmunzelnd mit der formell korrekten, aber merkbar auch ehrlich gemeinten Floskel antwortete: „Die Ehre ist ganz meinerseits.“ Dann wandte er sich an Mitras: „Ich sehe, meine Erziehung hat Früchte getragen, dass du auch ein Kind vom Dorfe gut schulen konntest. Gut gemacht, mein Junge!“ Dabei klopfte er ihm leicht auf die Schulter, nickte Kira nocheinmal zu und wandte sich ab, um die beiden ins Haus hinein zu führen. Kira blickte Mitras an, dieser lachte, während er di Pinzon folgte: „Nein, nein, Christobal, bei mir ist, wie du ja so schön sagtest, Hopfen und Malz verloren. Für ihre guten Manieren ist die junge Dame selbst verantwortlich. Kira ist eine außergewöhnlich talentierte und fleißige Schülerin.“ Kira spürte, wie sie schon wieder rot wurde. Di Pinzon blieb stehen und drehte sich erst zu Mitras, dann zu ihr um. Er betrachtete sie einen Moment, dann blickte er wieder zu Mitras. „So, so.“, sagte er. „Also ausnahmweise mal eine fleißige Frau?“ „Ja, ja. Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn. Wobei ich für diesen Fund Thadeus dankbar sein muss.“ Der Herzog lachte und drehte sich wieder zum Gehen. „Siehst du, Thadeus ist nicht der Böse, als den du ihn immer darstellen willst. Er leitet die Schule mit Verstand.“ Kira folgte den beiden und überlegte wieder einmal, dass Christobal damit durchaus Recht haben konnte. Mitras gegrummelte Antwort hatte sie nicht verstanden, aber sie hatte den älteren Mann erneut zum Lachen gebracht. Abgesehen vom etwas steifen Verhalten fand sie den Herzog symphatisch. Er wirkte ein wenig großväterlich auf sie und erinnerte sie auch entfernt an ihre Großmutter in Flate – obwohl di Pinzon wesentlich netter wirkte.

Das Essen verlief ruhig. Mitras und Christobal tauschten alte und neue Geschichten aus, der Herzog fragte Kira freundlich, aber oberflächlich nach ihrem Leben aus und der Braten war ganz ausgezeichnet. Ein interessanter Zufall war, dass auch Christobals Großmutter aus Flate kam, aber der Herzog war noch nie in Flate gewesen und so vertieften sie diesen Gesprächspunkt nicht weiter. Kira schlug sich gut. Sie antwortete flüssig und passend auf Christobals Fragen und Kommentare, machte kaum Fehler beim Besteck – nur ihren Löffel legte sie falsch ab – und war dabei auch noch hübsch anzusehen. Mitras war sehr zufrieden und fand, dass sich die Investion in den Mantel allein dadurch schon gelohnt hatte. Sie verdiente ihn auf jeden Fall. Nach dem Essen winkte Christobal eine der vielen Bediensteten heran, die die ganze Zeit um sie herum schwirrten. „Nina, sei so gut, wir gehen in den Salon. Vielleicht kannst du Lady Silva etwas Gesellschaft leisten, ihr könnt in das Musikzimmer gehen.“ Die junge Angestellte knickste höflich und wandte sich dann zu Kira. „Mylady, würden Sie mit mir gehen? Wenn Sie mögen, kann ich Ihnen etwas vorspielen, während die Herren ihren Absacker zu sich nehmen?“ Kira schaute kurz zu Mitras, der ihr zunickte. Er hatte damit gerechnet, dass Christobal auf die klassische geschlechtergetrennte Zeit nach dem Essen bestehen würde und hatte sich schon gefragt, wie Kira diese Zeit allein verbringen sollte. Aber er hatte seinen Mentor mal wieder unterschätzt. Natürlich hatte er Vorkehrungen getroffen. Kira verabschiedete sich mit einem höflichen Knicks, nachdem sie sich – ganz dem Protokoll folgend – für das Essen bedankt hatte, und folgte der jungen Frau. Auch di Pinzon stand auf und gemeinsam gingen sie in den nahegelegenen Salon, indem schon auf einem kleinen Tisch der typische Kräuterschnaps bereit stand, den die Herren nach dem Essen zu sich nahmen. Mitras ließ sich in einen der Sessel gleiten, nahm das kleine Glas und prostete Christobal zu. „Auf den besten Lehrer in allen gesellschaftlichen Belangen des Adels und der Mathematik!“ Der Herzog lachte, hob ebenfalls sein Glas und trank. „So, so. Was soll ich für dich tun, dass du mir so schmeichelst?“  Mitras lehnte sich zurück. „Ich kann es nicht leugnen, ich möchte tatsächlich zwei Dinge von dir. Du hast gesehen, Kira ist eine gute Discipula, fleißig und lernwillig, mit guten Manieren. Das ist allerdings eine Information, die ich zunächst nicht weit verbreiten möchte. Auch wenn du es nicht glauben magst, ich glaube nicht, dass Thadeus sie mir aus Freundlichkeit zugewiesen hat. Ihre magische Entdeckung war problematisch, er vermutete wohl eher einen anderen Charakter und wollte mir damit Schwierigkeiten machen. Ich bitte dich also, dein Wissen über sie mit niemandem zu teilen.“ Christobal schwieg einen langen Moment, dann setzte er sich in den Sessel ihm gegenüber und nickte. „Thadeus mag bürgerliche Magier nicht, dass weiß ich selbst. Und dir eine Frau zu geben, ist auch nicht gerade ein Zeichen von Hochachtung. Du willst ihn am Ende des Jahres überraschen?“ „Ja, das würde ich gerne.“, bestätigte Mitras, obwohl „überraschen“ nicht ganz das Wort gewesen wäre, dass er gewählt hätte. „Blamieren“ traf es wohl eher. „Danke für dein Vertrauen.“, sagte di Pinzon. „Ich werde dein Geheimnis bewahren. Und das zweite?“ Mitras kratzte sich ein wenig verlegen am Kopf. „Ja, das ist das etwas schwierigere. Kira hat eine sehr gute Grundausbildung in fast allen Bereichen, sie liest flüssig und lernt schnell. Sie hat auch ein, für ihre Herkunft, sehr hohes Allgemeinwissen. Aber in Mathematik ist sie leider gar nicht gut ausgebildet worden. Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht…“ Er schaute Christobal erwartungsvoll an. Diese schaute zunächst verblüfft, dann verärgert. „Eine Frau unterrichten? Mitras, du weißt, dass ich das noch nie getan habe!“ Mitras nickte. Er hatte so eine Reaktion befürchtet und war daher vorbereitet. „Christobal, ja, das weiß ich. Aber sei ehrlich, wenn eine Frau es wert wäre, von einem Meister wie dir unterrichtet zu werden, dann eine wie sie: Fleißig, lernwillig, klug und magisch.“ Christobal schwieg einen Moment. „Ein Meister bin ich, ja?“ „Natürlich. Du hast mich ausgebildet, und du hast mir beigebracht, stets nur das Beste zu wollen und das Beste zu nehmen. Ich brauche einen Mathematiklehrer für sie, und ich halte mich an deinen Rat – ich möchte den Besten, und das bist du.“ Wieder schwieg Christobal einen langen Moment, doch Mitras konnte deutlich sehen, dass seine Mundwinkel zu einem leichten Schmunzeln zuckten. Schließlich seufzte er und sagte mit einem Lächeln: „Ich habe dich auf jeden Fall gut darin ausgebildet, die richtigen Wörter zu finden, um jemanden zu überzeugen. In Ordnung. Sie kann zu einer Probestunde kommen, am nächsten Miras. Aber nur, weil ich nicht gegen meine eigenen Prinzipien verstoßen will und du Recht damit hast, dass ich der Beste bin. Wenn sie mich im Unterricht überzeugt, dass sie etwas lernen kann von der schönen Mathematik, obwohl sie eine Frau ist, kann ich sie an jedem Miras unterrichten, aber wir werden Stillschweigen darüber bewahren. Die anderen Mitglieder des Psi-Clubs würden mich glatt auslachen, wenn sie wüssten, dass ich eine Frau unterrichte.“  Der Psi-Club war eine der elitären Clubs, die sich im Umfeld der Universität gebildet hatte, und soweit Mitras wusste, ließ er nur männliche Mitglieder zu. Er seufzte erleichtert und reichte seinem Mentor die Hand. „Abgemacht. Die Geheimhaltung ist sicherlich für uns beide passend. Ich denke nicht, dass sie dich enttäuschen wird.“ Christobal schüttelte seine Hand. „So überzeugt? Vielleicht solltest du sie heiraten, wenn du ihr so zugetan bist.“ Mitras spürte, wie eine Mischung aus Belustigung und Genervtheit in ihm aufstieg. Warum schlugen ihm alle vor, sie zu heiraten? Sie war doch noch so jung, und außerdem hatte er den Plan, irgendwann zu heiraten, aufgegeben, als Claudia ihm damals so deutlich gesagt hatte, dass er als Ehemann und Partner für keine Frau mit Geist und Ehre zu gebrauchen sei. Er seufzte. „Ich werde sie bestimmt nicht heiraten, sie ist meine Discipula.“ Christobal schmunzelte, nun wieder der vergnügte ältere Mann, als der er die meiste Zeit wirkte. „Das wäre ja nun kein Hinderungsgrund, denk an di Filnos, der hat sogar seine 15jährige Discipula noch in ihrem ersten Jahr geheiratet und nun bekommt sie schon das dritte Kind.“ „Ja! Aber einen Schulabschluss hat sie nicht bekommen. Er hätte sich durchaus etwas Zeit lassen können.“, fuhr Mitras auf. „Wir sagen stets, dass alle magischen Menschen ausgebildet werden sollen, aber wenn dann eine schwanger wird, ist es mit der Ausbildung nicht mehr weit her.“ Di Pinzon machte eine wegwerfende Handbewegung, die Mitras zu gut kannte. „Sie wurde ja ausgebildet, sie wird keinen Schaden anrichten. Frauen brauchen keine Kampfmagie, da kennst du meine Meinung ja, eine gute Frau ist eine gute Ehefrau, und die hat di Filnos in seiner Discipula sicher gefunden. Aber schon gut, ich weiß, dass dich solche Wahrheiten aufregen, lassen wir das Thema. Deine Discipula bekommt ja nun vielleicht Unterricht, da kannst du dich ja nicht beschweren.“ Mitras schluckte mit dem letzten Rest des Schnapses aus dem Glas seinen Ärger mit herunter. Christobal hatte in einem Recht: Da er Mitras Anfrage positiv beantwortet hatte, konnte Mitras sich nicht beschweren, und am Besten war es, dieses Thema einfach zu meiden, um den Herzog nicht zu verärgern.

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