Wie ein Baum – 30. Firn 242 (Mafuristag)

Kurz bevor sie zu Hause ankamen, wurde Mitras etwas bewusst. Er hatte damals gar nicht die Zeit gehabt eine neue Charge für die Schule zu fertigen. Tatsächlich hatte er das immer noch nicht geschafft, lediglich das Venarium war fertig. Aber die zwei Chargen für die Schule kamen aus der gleichen Fertigung. Wenn di Camino also recht hatte und sich die unterschiedlichen Muster auf den Herstellungsprozess zurückführen ließen, dann konnte er diesen Unterschied unmöglich selbst entdeckt haben. Der Zylinder im Labor, an dem Mitras die anderen Muster beobachtet hatte, war aber wiederum deutlich älter als das gelieferte Material – der Unterschied zwischen dem Lichtwurf dieses Zylinders und denen von di Camino könnte durchaus durch den Herstellungsprozess enstanden sein. Entweder hatte di Camino also andere Lichter bei seinen Zylindern gesehen oder er hatte den anderen Lichtwurf nur aus Mitras Notizen gekannt. Ersteres hätte aber bedeutet, dass die Theorie mit dem Herstellungsprozess falsch war. Di Camino war allerhand, aber er war auf jeden Fall ein hervorragender Forscher, er würde also nicht völlig haltlose Theorien aufstellen. Was bedeutete, dass er seine Erkenntnisse nicht nur von Mitras Unterlagen inspiriert waren, sondern darauf fußten. Das war es, was ihn die ganze Zeit unterbewusst beschäftigt hatte, da stammte also sein seltsamen Gefühl seit dem Vortrag her! Und er hatte ihm erst vor wenigen Tagen sogar das Venarium geschickt! Wut ballte sich in seinem Bauch und die gerade wieder gestiegene Stimmung brach ein, nur um schnell der Resignation zu weichen. Er hatte gerade nicht die Kraft und vor allem nicht die Zeit, das nun auszufechten. Man bräuchte mindestens eine Gedankensuche eines Magie-Juristen, um nachzuweisen, dass di Camino seine Unterlagen bekommen hatte, auf Zeugenaussagen konnte man da nicht bauen. Und allein was für ein Wirbel es geben würde, wenn er, der vermeintlich erfolglose Magister mit dem Einmal-Wurf, einen angesehenen Professor der Akademie anklagen würde. Selbst seine ehemaligen Klassenkameraden und Freunde sahen ihn ja so. Nein, es würde seinem Ruf, und damit auch Kira, mehr schaden, wenn er diesen kleinen Diebstahl nun thematisierte, so sehr es ihn auch ärgerte. Und mehr als Thadeus scharfen Blick auf ihre Haare hatte es nicht gebraucht, gerade, weil der junge Nirand sich so verplappert hatte, um ihm ein gehörig mulmiges Gefühl zu vermitteln. Er zog sie vorsichtig ein wenig näher zu sich, versunken in die dunklen Wolken aus Ärger und Sorge. Seinem Eichhörnchen durfte nichts geschehen.

Als sie zu Hause ankamen, ließ Mitras sie los. Sie blickte zu ihm hoch. Sein Griff war ein wenig fester geworden gegen Ende der Fahrt und sein Körper hatte sich angespannt. Seine Miene war düster. Er zahlte den Kutscher und stapfte wortlos ins Haus, wo er Abby den Mantel eher hinwarf und begann, die Treppe hinauf zu gehen. Kira war ihm ein wenig unsicher gefolgt. War er sauer auf sie? Nein, dazu passte der Kuss nicht. Wahrscheinlich war er sauer wegen des Schulleiters. Und irgendwas war ja auch mit dem Vortrag gewesen. Als er die Treppe hoch ging, realisierte sie, dass sie eigentlich jetzt laden müssten – noch war das Modell, das die ganze Gegend mit Strom versorgte, kein „Kirmesmodell“, wie er es wegen des Reflektorzaubers einmal spaßhaft genannt hatte. „Mitras?“, fragte sie zögerlich. Er blieb stehen und drehte sich noch halb in Gedanken versunken um, zögerte kurz und antwortete knapp: „Ja?“ „Müssen wir nicht laden?“ Genervt stöhnte er auf: „Ja, verdammt. Danke, Kira.“, und kam wieder herunter. Abby reichte ihm wortlos den Mantel wieder hin und er schlüpfte mit so viel Schwung in seine Schuhe, dass Kira ihre Einschätzung etwas korrigierte. Er war nicht angespannt, zumindest nicht nur, sondern offenbar auf irgendwas oder irgendwen fürchterlich sauer. Sie folgte ihm ins Generatorhaus. Das glückliche Gefühl aus der Kutsche hing noch in ihren Gedanken nach. Wenn sie ihn nur auch etwas glücklicher machen könnte. Sie überlegte. Wenn sie wütend oder traurig gewesen war, was durchaus oft vorkam, war sie meistens bei der nächstbesten Gelegenheit in den Wald gelaufen, zu ihrem Baum. Sie hatte dort unter den Wurzeln eine kleine Höhle gefunden, in die sie immer gut hineingepasst hatte, fast, als sei sie mit ihr gewachsen. Und alles, was ihr auf der Seele lag, hatte sie diesem Baum erzählt. Mitras bräuchte auch so einen Baum.

Der Gedanke ließ sie nicht mehr los, während sie begann, die Magie zu sich zu ziehen. Sie wollte sein Baum sein. Die Magie bildete ihre Wurzeln. Sie schloß die Augen, dachte an ihre Eiche und gab sich Mühe, ganz ruhig und leicht zu werden – diese Wirkung hatte das Kanalisieren ja sowieso auf sie. Das Rauschen von Blättern lag in ihren Ohren. Mitras würde ihre Emotionen spüren können, nicht wahr. Sie dachte an ihn. Ich liebe dich. Du kannst deine Sorgen mit mir teilen. Ich bin für dich da wie du für mich. Sanft griff sie seine Hände und begann den Transfer.

Mitras nahm die Magie wie immer auf und wapnete sich gegen die Emotionen. Gerade heute sollte es stürmisch werden, vermutete er und er wollte nicht zu tief in Kiras Gefühlen wühlen. Doch es kam anders. Statt der üblichen Welle kam ein warmer Hauch seeliger Ruhe, die seine tief niedergeschlagene Laune sofort anhob. Fast wäre ihm der Zauber entglitten, aber von der Magie eingehüllt, wurde plötzlich alles klar in seinem Geist und er gewann die Kontrolle wieder zurück. Es war, als wäre er gerade aus einer tiefen Meditation erwacht. Doch es ging noch weiter. Mit dem Anstieg magischer Energie in seinem Geist breitete sich nicht nur Ruhe aus, auch seine Gefühle glätteten sich. Er spürte Kiras Zuneigung zu ihm, wie auch schon die letzten Male, aber da war noch mehr. Er spürte nicht nur ihre Emotionen, er merkte wie seine eigene Stimmung aufgehellt wurde. Selbst der ewig wachsame Teil von ihm, der sofort mit Misstrauen, geprägt von seiner Ausbildung in der Abwehr von Geistesübergriffen, auf alle äußeren Einflüsse reagierte, wurde beschwichtigt. Rein rational wusste Mitras, dass Kira irgendwie einen Zauber in die sonst reine Magie eingeflochten hatte. Doch er konnte sich nicht vorstellen, wie ihr das gelungen sein konnte.

Als genug Magie geflossen war, führte er den Zauber aus und beendete schnell alle weiteren notwendigen Prozeduren, um dann neben Kira, die erschöpfter wirkte als sonst, regelrecht zusammen zu brechen. Er brauchte einen Moment, um sich wieder zu sammeln und merkte dann, wie gut es ihm eigentlich ging. Dank Kira war das Laden schon lange nicht mehr so beschwerlich wie früher, aber auch die Anspannung und der Zorn des Tages war verflogen. Er war ruhig, ausgeglichen, hatte schon fast gute Laune. Er wusste, was sie getan hatte, aber nicht wie. Er selbst kannte ja keine konkreten Zauber und selbst wenn, bei seinen schwachen Fähigkeiten im Bereich Hellsicht hätte er sie nicht wirken können. Und er wusste, dass diese Zauber auch nicht frei zugänglich waren und in seiner Sammlung befanden sich nur Grundlagenwerke. Aber Kira hatte auch nicht direkt einen Zauber gewirkt, das hätte er gemerkt. Ganz ruhig, vom Zauber von seiner üblichen Vorsicht befreit, fragte er: „Kira, wie hast du das gerade gemacht? Ist dir überhaupt bewusst, was du da getan hast?“  „Ich habe mir gewünscht, dass du dich besser fühlst. Ich denke, ich habe es der Magie mitgegeben, zumindest wollte ich es. Beim Laden kann ich doch Emotionen auf dich übertragen, das hast du ganz am Anfang schon gesagt.“ „Ja, unsere Emotionen können sich vermischen und wir spüren was im anderen vor geht, wenn es nicht durch geistige Übungen unterdrückt wird.“ Er verspürte plötzlich den Drang sie zu loben: „Und die letzten Male musste ich deutlich weniger abblocken, die Meditationsübungen tragen Früchte, du wirst besser. Aber das eben, dass war kein bewusstes Öffnen, also doch war es, aber nicht nur.“ Mitras merkte, wie er trotz der Bedeutung der nächsten Sätze immer noch ruhig war, der Einfluss der Magie wirkte immer noch nach, ließ ihm aber trotzdem völlige geistige Klarheit. „Kira, du hast einen Zauber in den Magiestrom eingewoben, und zwar einen mächtigen. Du hast meinen Geist manipuliert, mir die Niedergeschlagenheit und den Zorn über die heutigen Ereignisse genommen. Und nein, ich bin dir nicht böse, ich erkenne deine guten Absichten nur zu gut. Aber das war der bisher mächtigste Zauber, den du aus bloßer Intuition heraus gewirkt hast. Also danke für das, was du getan hast. Aber von solchen geschützten Gelegenheiten wie hier abgesehen, sei bitte absolut vorsichtig mit deinen Wünschen. Egal was sie beinhalten, sie könnten sehr wahrscheinlich wahr werden und unabhängig von der Wirkung zu viel Aufmerksamkeit auf dich lenken.“ Er war die ganze Zeit über ruhig und sachlich geblieben und hatte keine Spur von Vorwurf in der Stimme gehabt, höchstens Sorge. Dennoch sah Kira nun aus, als hätte er sie strafend geschlagen, ihm wurde auch sofort klar, wieso. Selbst auf seine Emphatie wirkte sich die Magie scheinbar aus, beinahe konnte er ihre Gedanken hören, obwohl der Transfer der Magie längst gestoppt war. „Ja, du hast es wieder getan, wie bei Johann. Aber Kira, das ist nicht schlimm. Es war kein spontaner Impuls, sondern dein Wunsch mir zu helfen. Ich verstehe nicht was dir da in die Wiege gelegt wurde, aber es ist kein Fluch, sondern eine Gabe. Eine Gabe die du mit Vorsicht nutzen solltest, aber eben auch eine, die du in Notfällen nutzen kannst. Bei den Geistern, ich hoffe sogar, dass du in Notfällen geistesgegenwärtig genug bist, es zu versuchen. Sei es um dich zu schützen oder jemand anderem zu helfen.“ Er konnte ihr förmlich ansehen, wie das Gesagte in ihren Verstand einsickerte und Früchte trug. „Du denkst jetzt also nicht, dass ich ein verfluchtes Hexenbalg bin, wie alle anderen sagen?“, fragte sie schüchtern wie schon lange nicht mehr. „Nein, also Hexe vielleicht. Hier in Albion gibt es solche Magie nicht, zumindest kenne ich niemanden, der aufgrund von Wünschen Magie wirkt. Aber verflucht definitiv nicht. Dir wurde eine Gabe mitgegeben, die du nun mindestens zum zweiten Mal eingesetzt hast. Und ich denke, dass du sie in beiden Fällen zu recht genutzt hast. Du hast dich geschützt und du wolltest helfen. An beiden Handlungen ist nichts verwerfliches. Also Danke für deine Hilfe. Kann ich als Gegenleistung irgendwas für dich tun?“ Bei seinen Worten entspannte sich Kira wieder. Sie schwieg einen Moment, während dessen er merkte, wie auch die Verbindung zwischen ihnen schwächer wurde, ebenso der Einfluss der Ruhe aus dem Zauber. Es blieb eher ein angenehmes, heiteres Gefühl zurück, aber er war nicht mehr ganz so entspannt, nicht mehr ganz so ohne Argwohn. Und so überraschte ihn ihre Frage doch sehr: „Erst eine Frage, warum hast du mich vorhin geküsst?“ Ihr Blick war starr auf den Boden gerichtet und ihre Wangen waren so rot, dass sie schon fast leuchteten. „Weil wir es beide gebrauchen konnten, weil du meine wichtigste Freundin bist, weil ich schon viel zu lange keine Frau mehr geküsst habe und merke, dass es mir fehlt.“ , platzte es aus ihm heraus und zögernd fügte er hinzu: „Und ich hoffe, es hat dir auch gefallen. Ich kann aber auch verstehen, wenn du mich bittest, dir nie wieder so nahe zu kommen. Du hilfst mir immer wieder und dann erinnere ich dich als Folge jetzt eben so schmerzhaft an dein Erbe.“ Langsam fing er an zu denken, dass ihr Zauber doch nicht nur gute Auswirkungen hatte, er machte ihn etwas zu ehrlich, so direkt hatte er eigentlich noch nie über das gesprochen, was ihn bewegte – vermutlich tat er ihr aber mit der Wahrheit weh, auch wenn es nicht seine Absicht war. „Zu meiner Verteidigung, das ist wohl Teil deines Zaubers, dass ich grad so direkt bin… Tut mir leid!“

Kira blickte erschrocken auf: „Natürlich hat es mir gefallen! Ähhm…“ Sie verstummte und wurde tatsächlich noch eine Spur röter. „Ich finde es auch gar nicht schlimm, dass du ehrlich bist. Es tut mir leid, dich manipuliert zu haben, das wollte ich nicht… Ich habe nur keine Ahnung, wie ich das wieder aufhebe.“ Er lächelte. „Keine Sorge, das hebt sich von alleine auf. Und vor allem hast du mir geholfen meine Laune zu heben, mit den Nebenwirkungen kann ich leben.“ Sie schwieg wieder einen langen Moment. „Warum hast du nicht geheiratet, wenn du doch eine Frau zu küssen vermisst?“ Jetzt fing sie an seine Gefühlslage auszunutzen, aber da konnte er drüber hinweg sehen, er wäre kein Deut besser, eher schlimmer. „Ich war bis vor drei Jahren mit einer anderen Zauberin liiert und wollte sie eigentlich auch heiraten. Aber meine Vertieftheit in die Arbeit muss sie wohl abgeschreckt haben, sie lehnte meinen Antrag ab und das führte letztendlich dazu, dass ich mich noch stärker in die Arbeit vergrub. Seitdem bin ich nicht mehr viel rausgekommen.“ Sie setzte sich auf. „Sie hieß Claudia, richtig?“ „Ja.“ „Vermisst du sie?“ „Letztendlich, nein.“ Sie saß neben ihm und schaute ihn an, ihre roten Haare umringelten ihr Gesicht wie ein Rahmen. Der Raum war nicht gut genug genug ausgeleuchtet und die Lampe stand direkt hinter ihr, so dass er ihre Augen oder ihre genaue Mimik nicht sehen konnte, aber dennoch fühlte er sich von ihr angezogen. „Ich vermisse möglicherweise Küssen und, nunja, auch Sexualität, aber das ist eher ein Bedürfnis des Körpers, nicht der Seele. Gute Freundinnen wie dich zu küssen stillt diesen Hunger genauso gut wie eine Partnerin das könnte.“ Sie schaute zur Seite auf den Boden, vom ihm weg. Hatte er sie damit verletzt? „Ich, ehm, ich wollte dich damit aber nicht bedrängen. Auch wenn dir der Kuss gefallen hat, ich, also ich würde nie etwas tun, was du nicht willst.“ Er kam sich fast wieder wie ein Teenager vor, wie er hier herumstammelte. Was war nur los mit ihm? Was hatte dieser Zauber noch alles für Wirkungen? Sie drehte sich zu ihm, beugte sich aus ihrem Schneidersitz vor, bis sie auf allen Vieren krabbeln konnte und kroch so auf ihn zu, was ihm schlagartig bewusst machte, dass sie einen wundervollen Körperbau hatte, auf den er gerade einen guten Blick bekam. Vor ihm stoppte sie allerdings nicht, sondern krabbelte weiter, als er zurückwich, was darin endete, dass er nach hinten umkippte und sie über ihm kniete. Sie schaute ihn einen Moment lang an, und ihr Blick lag irgendwo zwischen Scheu und Begierde. Er schloß die Augen, spürte seine eigene Erregung zu stark, die Erinnerung an seinen Traum vermischte sich mit dem Bild, dass sie eben geboten hatte. Nach einem Moment der Stille hörte er sie seufzen und wollte gerade die Augen wieder öffnen, als ihre Lippen sanft seine berührten. Überrascht erwiderte er den Kuss. Was ging in ihr vor? Diese Wechsel zwischen Verletzlichkeit und Näherkommen verstand er nicht. Seine Hände glitten über ihre Taille und es kostete ihn Mühe, sie nicht weiter gleiten zu lassen. Seine Hose spannte so sehr, dass er befürchtete, sie würde es bemerken, wenn sie sich nur ein ganz wenig bewegte. Begierde stritt sich mit dem Wunsch, sie nicht zu verletzen, und letzendlich war es die Tatsache, dass sie den Kuss beendete und sich neben ihn fallen ließ, die ihn davor bewahrte, der Begierde zu sehr nachzugeben. Oh, verdammt, er wollte dieses kleine wilde Eichhörnchen wirklich mehr, als er sich bei irgendeiner anderen Frau erinnern konnte. Diese Mischung aus Scheu und Begierde, diese Unerreichbarkeit und Nahbarkeit, diese Fremdheit, die sich doch so vertraut anfühlte – er wünschte sich wirklich, er könnte derjenige sein, mit dem sie mehr Erfahrungen machen wollte. Sie würde sicher noch Zeit brauchen, vom Küssen zu mehr zu wollen, besonders nach ihren Vorerfahrungen, aber dennoch… Wer auch immer dieses Glück in ein paar Jahren haben mochte, von ihr ins Bett gebeten zu werden, Mitras beneidete ihn jetzt schon.

Kira hatte das Gefühl, unglaublich müde zu sein. Dieser Tag jagte sie durch die Höhen und Tiefen der Emotionen als säße sie auf einem buckelnden Hengst. Die Freude, zum Convent zu dürfen, der Neid, dass Mitras die andere Frau geküsst hatte, das nette Gespräch mit seinen Freunden, der Schock über das, was der Schulleiter gesagt hatte, dann der Kuss im Wagen und anschließend die Reue über ihren Zauber. Und nun sagte er ihr, dass er keine Partnerin brauchte, nur eine, wie sollte man das nennen, eine Bettgespielin. Offenbar war die Verwandtschaft zu seiner so rasch von Heirat sprechenden Schwester nicht besonders merkbar. Auf der anderen Seite sorgte er sich, sie zu verletzten, und er hatte ja auch angedeutet, dass gerade ihre Küsse etwas waren, was er brauchte. Alles in ihr stritt zwischen Freude und Verzweiflung, und als sie ihn ansah, war da noch etwas anderes, der Wunsch, ihn zu küssen, in diesem Kuss zu versinken und alle die anderen Gedanken beiseite schieben zu können wie in der Kutsche. Sie wusste nicht recht, warum und wie, aber als sie ihn umwarf, fühlte es sich richtig an, als würde sie einem Sog nachgeben, aufhören, dagegen anzukämpfen. Sie sah ihn an, wie er mit geschlossenen Augen unter ihr lag, kämpfte einen Moment mit sich. Wenn sie ihn jetzt küsste, wäre sie dann nicht soetwas wie seine Gespielin? Wollte sie das sein? War es nicht genau das, was sie nie sein wollte – ein Mittel, mit dem ein Mann seine Gelüste befriedigen konnte? Sie spürte, wie er unter ihr zitterte, sich beherrschte, sah das Zucken in seiner Hand, mit der er sie fassen wollte, und es doch nicht tat. Nein, dieser Mann meinte, was er gesagt hatte, er würde nie etwas tun, was sie nicht wollte. Und gerade wollte sie diesen Kuss, um sich selbst besser zu fühlen. Sie seufzte und küsste ihn. Half eh nichts, gegen die eigenen Begierden anzukämpfen, insbesondere nun, da sie wusste, dass es ihn nicht störte.

Zufriedener ließ sie sich danach zur Seite gleiten. Sinnend lag sie neben ihm, spürte die Hitze seinen Körpers. War es dass, was eine selbstbewusste Frau ausmachte? Nicht die sexuelle Berührung abzulehnen, sondern sie gezielt und nach eigenen Wünschen auszuwählen? Nicht die eigene Herkunft, das eigene Aussehen zu leugnen, sondern sie zu ergründen, zu nutzen und zu verstehen – als eine Gabe? Sanft zog sie sich etwas Magie aus dem Boden, um der Müdigkeit entgegen zu wirken. „Du bedrängst mich nicht. Ich hatte eher Sorge, dass ich dich bedränge, wenn ich dich um einen Kuss bitte.“ Mitras schüttelte den Kopf. „Tust du nicht.“ Seine Stimme klang etwas rau. Die Magie half nicht wirklich, ihr Kopf fühlte sich unglaublich müde an. Sie rappelte sich auf. „Das ist gut. Und es tut mir wirklich leid, versehentlich ein wenig zu viel gezaubert zu haben. Gehen wir jetzt schlafen?“ Mitras richtete sich mit einen Stöhnen ebenfalls auf. „Ja, das ist vermutlich die beste Idee. Mach dir keine Vorwürfe. Alles ist gut zwischen uns, nicht wahr?“ Sie nickte ernst, spürte aber auch, wie es ihr leicht ums Herz wurde. „Ja, alles gut.“ Nächste Woche würde Sebastian ihr Tipps geben, wie sie Mitras verführen konnte. Und dann würde sie wissen, wie es war, selbstbestimmt auf einen Mann zuzugehen. Als sie eine kleine Weile später im Bett lag, stellte sie erstaunt fest, dass sie dieser Gedanke sogar mit Vorfreude erfüllte. Johann hatte sie nicht anfassen dürfen und sie hatte sich gewehrt. Mitras durfte sie anfassen und sie hatte sich den Kuss eben geholt. Sie bestimmte, was geschah, sie war mächtig genug dafür – und das war die Gabe, die ihr niemand, auch ein Schulleiter nicht, nehmen konnte. Etwas in ihr zog ein wenig, fühlte sich an, als würde eine Blockade sich lösen, Dinge an die richtige Stelle rücken. Doch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, schlief sie bereits.

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