Magister Mitras öffnete ihr die Tür. „Pünktlich. Gut.“, sagte er knapp, ehe er die Tür ganz öffnete und sie in den Raum dahinter winkte. Kira seufzte innerlich erleichtert. Den ersten Test schien sie bestanden zu haben. Den guten Geistern sei Dank für ihr ganz passables Zeitgefühl und die Uhr in ihrem Zimmer. Sie schaute sich neugierig um. Der Raum hatte die Form eines L mit einem sehr dicken kurzen Balken zu ihrer Linken. Die lange Seite bog bei der Tür, in der sie gerade stand, rechtwinklig ab, und hatte die Länge des gesamten Hauses. Sie drehte sich nach links und trat hinter Mitras in den etwas kleineren der beiden Laborbereiche. Hier standen an der Wand zwei Schreibtische. Einer, der weitaus größere der beiden, war überladen mit Papieren und Notizen, zwischen denen einige Mineralien und Steine lagen, ebenso wie Federkiele und Tinte. Der andere war leer bis auf einige Blätter Papier und Schreibmaterial. Mitras war ihrem Blick gefolgt und wies auf den leeren Tisch: „Wenn Sie sich ausreichend eingearbeitet haben, wird dies Ihr Labortisch sein. Fürs Erste dürfen Sie den Raum aber nur in meiner Gegenwart betreten.“ Kira nickte und schaute weiter. Neben den Schreibtischen stand eine Säule, auf der ein roter Stein mit glatten Flächen lag. Kira vermutete, dass es ein besonders großes Mineral war, das vermutlich so gewachsen war, wie es da lag, da es an seinem unteren Ende noch halb von gewöhnlichem Stein bedeckt war. Daneben stand ein hoher Schrank mit diversen kleinen Schubladen, die sauber beschriftet waren. Aus einigen schauten Büschel getrockneter Kräuter oder Flaschenhälse hervor. In der Ecke schräg gegenüber der Tür stand ein Steintisch, der auf der einen Hälfte eine Vertiefung wie eine Schale hatte. Der Boden war getäfelt und nach dem Tisch durch einen kleinen Teppich vom rechten, größeren Bereich des Raumes getrennt, der bis auf ein Fenster an der vorderen Wand hin zur Auffahrt vor dem Gebäude fensterlos war. Hier befanden sich neben einem auf den Boden gemalten Kreis, in dem eine abgedeckte Säule stand, diverse Gerätschaften, die golden und silbern glänzten, einige mit Kuppeln oder kugelförmigen Behältnissen aus Glas. Sie schaute Mitras fragend an, traute sich aber nicht, laut zu fragen. Da auf dem Boden stand vermutlich mehr Gold und Silber, als alle Menschen in Bispar jemals würden zusammentragen können. Sie kam sich in ihrem nachgemachtem Samtrock – echter Samt war zu teuer, selbst für Händler wie Kiras Eltern – ein bisschen schäbig gegen all diesen Reichtum vor. Mitras runzelte ein bisschen die Stirn. „Lektion Eins: Fragen Sie, wenn sie etwas wissen wollen. Sie sind zum Lernen hier, also müssen Sie Fragen stellen.“ Kira fühlte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg. „Ja, Magister. Wozu dienen diese Geräte?“ Er nickte, offenbar mit der Frage zufrieden. „Damit werden verschiedene magische Untersuchungen gemacht, etwa um magische Energie zu detektieren oder zu lenken. Sie sind äußerst empfindlich, also fassen Sie sie nicht an, ehe ich Sie nicht eingewiesen habe.“ Seine Schülerin nickte und hob die Hände, um anzuzeigen, dass sie nichts unerlaubt anfassen würde. „Nein, Magister. Ich werde nichts anfassen.“ Sie schaute sich nochmal um. So schnell würde sie vermutlich diesen Raum nicht mehr zu sehen bekommen. „Was ist das für ein Stein?“, fragte sie und deutete auf den roten Stein, der im linken Teil des Raumes auf der Säule stand. Mitras schmunzelte ein bisschen, Kira glaubte, Stolz in seinem Blick zu sehen. „Den dürfen sie einmal anfassen. Aber vorsichtig!“ Kira ging auf den Stein zu und hob die Hand. Ehe sie ihn berühren konnte, merkte sie bereits, dass eine starke, aber nicht unangenehme Wärme von ihm ausging. Vorsichtig fuhr sie in gebührendem Abstand mit der Hand über den Stein. „Er ist heiß.“, sagte sie erstaunt. „Richtig. Das ist eigentlich eine Spielerei, aber sehr praktisch. Ich hab ihn verzaubert, nun gibt er seine Essenz über einen langen Zeitraum als Wärme ab. Etwa einen Winter lang wird er so heizen und uns von der fürchterlichen Kohle im Haus bewahren. Danach zerfällt er.“ Kira dachte einen Moment nach. „In meinem Zimmer steht auch so einer, oder? Nur der ist weiß.“ „Richtig. Man kann beinahe jedes Mineral nehmen, das ohne Kupfer oder Eisen ist. Nur das Ritual zur Aktivierung ist leider ziemlich aufwendig.“ Kira betrachtete die goldenen Apparaturen zu ihrer Rechten und rezitierte nachdenklich den Spruch, den ihr Bruder Harras beigebracht hatte:
„Suchst du Zauber, such nicht Kupfer, nicht Eisen,
denn sie werden die falschen Wege dir weisen.
Suchst du aber Silber oder Gold,
so ist die Gunst der Magie dir hold.“
Mitras schaute sie prüfend von der Seite an. „Sehr gut. In der Tat spielt das Material, dass man nutzen will, eine große Rolle bei Verzauberungen und Ritualen. Woher kennen Sie den Spruch?“ „Unser Dorfpriester…“, murmelte Kira und schaute verlegen zur Seite. Sie hatte ja immer davon geträumt, ein magisches Talent zu haben, nicht heiraten zu müssen, sondern mehr von der Welt sehen zu dürfen, mehr lernen zu können. Deswegen hatte sie alles aufgesogen und auswendig gelernt, was Bruder Harras ihr über die magische Welt erzählt hatte, auch wenn er als Naturpriester natürlich eher den intuitiven Wegen der Magie zugewandt war. Aber vermutlich träumten alle kleinen Mädchen davon, mal große Magierinnen zu werden, oder? Sie hatte Glück gehabt, oder eben Pech, wenn man bedachte, was ihr „Talent“ schon angerichtet hatte, aber im Nachhinein betrachtet kamen ihr ihre Träumereien recht albern vor. Mitras schien sich nicht weiter darum zu kümmern, er ging stattdessen zur Tür des Labors und hielt sie ihr auffordernd auf.
Im Flur blieb er stehen, wartete, bis sie zu ihm herausgetreten war und deutete dann den Gang hinunter. „Zur linken haben wir hier drei Gästezimmer, das hinterste ist ja nun Ihres. Die Treppe rechts führt nach oben, dort sind Williams Zimmer. Rechts die erste Tür führt zu meinen Gemächern und die letzte Tür auf der rechten Seite ist die Bibliothekstür.“ „Darf ich die Bibliothek auch nutzen?“, fragte Kira gespannt. Eine Magierbibliothek, da gab es bestimmt viele tolle Bücher. Mitras dachte kurz nach und musterte sie dabei nachdenklich. „Ja, warum eigentlich nicht? Aber nehmen Sie keine Bücher heraus, alles muss ordentlich bleiben.“ Kira nickte. Der Magier wies mit der Hand die Treppe, an deren Ansatz sie standen, herunter. „Gehen Sie schon mal voraus, ich folge gleich.“ Er schloss die Tür zum Labor ab und folgte ihr dann die Treppe herunter in den großen Vorraum mit den gemusterten Fliesen. Am Ende der Treppe öffnete er die Tür zu seiner Linken und winkte sie in einen großen Salon. Er wirkte auf Kira beinahe länger als das Labor oben, was aber vermutlich daran lag, dass die hintere, von der Straße abgewandte Wand fehlte und durch einige Säulen ersetzt war. Dahinter begann ein heller Wintergarten. Die der Tür gegenüberliegende Wand war fensterlos und mit denselben elektrischen Kerzen ausgestattet, die auch im Flur hingen. Zwischen ihnen hing ein großes Gemälde von einer Berglandschaft. In der Mitte des Raumes stand eine lange, leicht ovale Tafel, an der etwa 10 Personen sitzen konnten. Im restlichen Raum gab es verteilt einige Sessel und Tische, die zu kleinen Sitzgruppen zusammengestellt waren, und auch wieder Säulen mit verschiedenen Heizsteinen. Mitras führte sie durch den Raum in den Wintergarten. Seine rechte Wand war gemauert, durch die verglaste Front sah Kira auch, dass sich diese Wand in den verschneiten Garten dahinter fortsetzte. Die Glasfront bog sich als Halbrund in den Garten hinein und schloss an der Ecke wieder an die Hauswand an. Der Raum beinhaltete 4 Beete, zwei etwas breitere an den Seiten, ein schmales, dass sich an der gesamten Front hinzog und ein sichelmondförmiges in der Mitte des Raumes, in dessen Rundung eine Bank angebracht war. Davor stand ein kleiner, metallener Tisch und ein bequemer Sessel. Die Beete waren bis auf das, dass an der Wand des Hauses links lag, offenbar den Jahreszeiten gewidmet: An der langen Front sah Kira zarte Pastelltöne und Frühlingsblumen, rechts von ihr hingegen leuchteten Astern und Büsche mit buntem Laub zwischen hohen, auffälligen Gräsern. In der Mitte hingegen gab es sattes Grün und leuchtend bunte Blüten von verschiedenen Orchideen sowie einen großen Oleander, der aber anscheinend gerade nicht blühte. Das Beet an der Hauswand hingegen schien den trockenen Gebieten Gäas gewidmet zu sein: Zwischen kunstvoll drapierten Steinen und Mineralien wuchsen diverse Kakteen und ein kleiner Olivenbaum. Vielleicht auch eine besondere Anspielung an die Hochlandgegenden, die den Kern Albions bildeten, aber oft nur an den Anstiegen der Gebirgsketten ausreichend mit Wasser versorgt waren. Nur eine üppige Bougainvillia setze in dem Beet einen farblichen Akzent. Kira trat vorsichtig auf sie zu und betrachtete die bunten, pinken Blätter aus der Nähe. „Eine lebende Bougainvillia. So etwas habe ich bisher nur in Büchern gesehen. Sie sind schwierig zu bekommen, oder?“ Mitras zuckte mit den Schultern. „Ich habe sie geschenkt bekommen.“ Kira beugte sich noch etwas näher an den Busch heran. „Wie winzig die echten Blüten sind.“, sagte sie und stupste einen der kleinen weißen Kelche an. Mitras räusperte sich. Er stand bereits wieder im Durchgang zum Salon. „Wollen wir?“ „Oh, äh, ja, klar.“ Rasch folgte Kira ihm, aber nicht ohne den Blick nochmal über den Raum streifen zu lassen. „Darf ich hierher zurückkommen?“ „Meinetwegen.“ Er öffnete eine Tür, die gleich neben den Säulen zurück ins Haus führte. Dahinter lag eine große Küche, in der ein mittelgroßer Mann mit schwarzen Locken gerade Gemüse in einen Topf gab. Er drehte sich kurz zu ihnen um, lies aber dabei den Topf nicht aus den Augen. „Kira, das ist mein Koch William. William, das ist meine neue Schülerin Kira Silva.“ Über das Gesicht des Mannes ging ein freundliches Strahlen. „Hallo, willkommen in meinem Reich! Hier gibt es alles, was der Magen begehrt!“ Er machte eine ausladende Handbewegung mit der freien Hand. „Ha! Wir haben jede Feinheit, die die edle Dame begehrt.“, sagte er mit der Stimme eines Markthändlers, der seine Waren anpries. „Hallo.“, sagte Kira verschüchtert. Die Küche war bis auf den Herd eine recht normale Küche, mit verschiedenen Schränken und Arbeitsplatten. Im hinteren Teil des Raumes gab es einen Treppenabgang nach unten, was man an einem Geländer erkennen konnte, an dem diverse Handtücher hingen, und eine Tür in den Nebenraum. Der Herd allerdings war seltsam: statt auf Flammen stand der Topf, in dem es eindeutig brutzelte, auf einer runden Platte aus Metall. Mitras nickte William zu und schaute dann zu Kira. „Es gibt Frühstück und Abendessen. Wenn Sie tagsüber etwas essen wollen, können Sie sich hier oder in der Speisekammer“, er deutete auf den Abgang, „bedienen, aber sprechen Sie sich nach Möglichkeit mit William ab. Nicht, dass plötzlich etwas für eine seiner köstlichen Pasteten fehlt.“ Wieder nickte Kira mechanisch. Sie hatte das Gefühl, eine ewig lange Wanderung gemacht zu haben – was ja eigentlich auch stimmte. Mitras beachtete sie gar nicht weiter und ging schon durch eine Tür zur Linken, die neben der Treppe in den Vorraum des Hauses mündete. „Da geht es zum Keller.“ sagte er mit einer Handbewegung zu einer Tür unter dem Treppenaufgang. Mit einer zweiten Bewegung wies er auf zwei schmalere Türen an der Wand gegenüber: „Und dort sind Toiletten, für Männer und Frauen getrennt.“ Er ging an der Wand, aus der sie gerade getreten waren, entlang in einen Flur, der wohl parallel zum Flur über ihnen lag. Auch hier gab es einen rostroten Teppich und die grauen, leicht strukturierten Tapeten. Auch hier hingen einige Herbst- und Winterbilder an der Wand zu ihrer Rechten. Die linke Wand war mit einem sehr großen Gemälde einer Seeschlacht verziert, mit schweren, eisernen Kriegsschiffen und glühenden Feuern als Kontrast. Das Bild überraschte Kira, es war viel gewaltvoller als alles, was sie bisher im Haus gesehen hatte, außerdem passte das Motiv nicht so recht zu dem friedlichen, sonnendurchschienen Wald, der in Tupftechnik auf dem Bild an der rechten Wand hing. Es muss ein Vermögen gekostet haben, dachte Kira, so groß. Was für eine Schlacht es wohl darstellte? Sie suchte nach Abzeichen und Wappen, die einen Hinweis geben konnten, aber es war draußen bereits völlig dunkel und das Licht der elektrischen Kerzen erhellte den Flur nicht genug. Mitras, der ohne sich umzusehen voraus gegangen war, öffnete nach einigen Metern die einzige Tür links im Flur und schaute sie auffordernd an, ehe er den Raum dahinter betrat. Kira folgte ihm, blieb dann aber verblüfft in der Türöffnung stehen. Vor ihr öffnete sich ein großes Bad. In der Mitte war ein großes, jetzt leeres Becken, umgeben von einer schmalen Bank, auf der eine Seifenschale und ein Schwamm lagen. An der rechten Seite gab es einige Vorhänge, die nun zurückgezogen waren, und normalerweise wohl einen Bereich mit einem kleinen Waschzuber und eine Umkleide verdeckten. An der linken Seite gab es ebensolche Türen wie im Vorraum, vermutlich waren die Toiletten von beiden Seiten betretbar. An der Wand ihr gegenüber war ein Fenster hinter zugezogenen Vorhängen und zwischen ihnen der größte Spiegel, den Kira je gesehen hatte – polierte Metallspiegel mit eingeschlossen, und dieser war sogar aus Glas. Verblüfft betrachtete Kira sich eine Weile selber, der Rock schwang um ihre Beine und die Haare lösten sich schon langsam wieder aus der Spange. „Sie können jederzeit hier baden, sagen Sie einfach Abigail Bescheid.“, sagte Mitras, was sie zusammenzucken lies. „Ja, aber… werde ich dann nicht Sie stören?“, fragte sie. Er schüttelte den Kopf. „Abigail weiß schon, wann ich das Bad nutzen will, und wird es Ihnen sagen.“ Er kam auf sie zu, und Kira wich in den Flur zurück, so dass er die Tür hinter ihnen schließen konnte. „Am Ende des Ganges ist nur eine Abstellkammer, fragen sie Abigail, wenn sie etwas daraus brauchen. Und hier, “ er öffnete dabei die Tür gegenüber vom Bad, „ist unser Esszimmer.“
Die beiden betraten ein kleines, gemütliches Zimmer, in dem neben einer Kommode an der rechten Wand ein Esstisch für sechs Personen stand, der nun gerade von William und Abigail gedeckt wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite öffneten eine Glastür und ein großes Fenster einen Blick auf den verschneiten, aber nun im Dunklen liegenden Garten. An der linken Wand waren wieder Kerzenlampen angebracht, und zwischen ihnen das Bild einer kleinen Familie in einem sommerlichen Garten, die Mutter saß mit einer kleinen Tochter auf einer Schaukel im Vordergrund, vom Betrachter abgewandt, und im Hintergrund spielte der Vater mit einem Kind, vermutlich seinem Sohn, wenn man dem Kitsch ganz folgen würde. Obwohl es eindeutig eine sehr klischeehafte Szene war, verbreitete das Bild eine Art heitere Gelassenheit, die in den ganzen Raum ausstrahlte. Kira fiel trotz ihrer Müdigkeit auf, dass die Hortensien aus dem Bild sich auf der gegenüberliegenden Kommode wiederfanden, als gemalte Zirate auf den Schubladen und als angedeutete Formen in den Griffen. Nichts in diesem Haus, dachte sie, ist zufällig. Alles ist durchgeplant, aber es ist nicht kalt, sondern wunderschön. Mitras trat an den Tisch, zog einen Stuhl zurück und forderte sie mit einer Geste auf, sich zu setzen, eine Aufforderung, der Kira nur zu gerne nachkam. William brachte gerade aus der Tür an der Seite neben der Kommode, die vermutlich zur Küche führte, eine letzte Schüssel, Abigail saß bereits auf dem Stuhl schräg gegenüber von Kira.
In diesem Moment ging die Tür zum Garten auf und brachte einen eisigen Hauch frische Luft mit sich. Durch die Tür trat ein etwas rundlicher Mann, der etwas kleiner als William, aber größer als Abigail war. Er trug feste Schuhe, die er nun ausklopfte und in eine dafür bereitstehende, viereckige Schale neben der Tür stellte, eine Arbeitshose und eine Arbeitsjacke. „Hmmm, das riecht aber nach Festtag hier!“, rief er, während er die Jacke auszog und an einen Kleiderhaken neben der Kommode hing. Er ging zu Abigail, beugte sich über sie und küsste sie flüchtig auf den Mund, ehe er sich zu Mitras, der sich links neben Kira gesetzt hatte, umdrehte und eine kleine Verbeugung andeutete. Mitras schunzelte ein wenig. „Kira, darf ich dir Tobey vorstellen? Er kümmert sich um alles, was am Haus und Garten getan werden muss, und wie du vielleicht schon vermutest, auch darum, dass unsere gute Abigail nie unzufrieden wird.“ Abigail grinste breit. Tobey verbeugte sich etwas tiefer vor Kira als er es bei Mitras getan hatte. „Ahhh, also ist unser Überraschungsgast endlich angekommen. Vielen Dank, junge Dame, dass ihr hier seid, so gutes Essen gibt es nicht alle Tage.“ Dabei klopfte er an eine der Schüsseln, in denen wohl ein Gulasch war, und zwinkerte ihr vielsagend zu. Trotz ihrer Müdigkeit und Scheu musste Kira kichern. Tobey hatte irgendwie etwas von Bruder Harras, so erdig und witzig. Sie spürte, dass sie ihn mochte. „Ich freue mich sehr, hier sein zu dürfen.“, sagte sie, und lächelte ihn und Abigail an, die ihr Lächeln erwiderten. „Na, dann soll es auch nicht kalt werden, das gute Essen.“, eröffnete William, und begann, sich und Mitras die Teller zu füllen. An der gegenüberliegenden Seite füllte Abigail erst Tobey, dann sich auf und reichte die Kelle an Kira. „Nimm dir, was du magst und wie viel du magst, ja? Nicht, dass du uns hier irgendwann vom Fleisch fällst, so zart, wie du bist.“ Kira nahm den Löffel und lief ein kleines bisschen rot an. So dünn bin ich gar nicht, dachte sie. Allerdings hatte sie tatsächlich schon wieder Hunger, die Sandwiches von vorhin schienen nur kaum die erste Not gestillt zu haben. Also füllte sie sich auf und staunte, was es alles gab: Da war das Gulasch, mit großen Stücken Fleisch darin, Kartoffeln mit Petersilie, Rotkohl mit Äpfeln, kleine Stücke von Blätterteig, gefüllt mit einer Art von Pastete – Kira bewunderte besonders die Lilien, die oben in den Teig gestochen waren und durch die man die Füllung sehen konnte – und Birnen mit Kompott. In einem Korb waren dicke Scheiben Weißbrot und einige, etwas dünnere Scheiben eines Graubrotes mit einer zerklüfteten Kruste. Eine Weile war um den Tisch herum nichts zu hören als das geschäftige Klappern von Geschirr, das Kauen und seliges Seufzen von Tobey, als er sich schließlich in seinem Stuhl zurücklehnte und sich über den nun noch etwas runderen Bauch strich. „William, du bist wirklich ein Gott in der Küche.“ William, der links neben Mitras saß, schmunzelte und erwiderte: „Na, stets zu Diensten, Tobey, stets zu Diensten.“ Alle am Tisch lächelten, als sei das etwas, was die beiden jeden Abend zueinander sagten, eine Art Familienritual. Kira beugte sich etwas tiefer über ihren Teller, um die Tränen zu verbergen, die sich ein wenig in ihre Augenwinkel geschlichen hatten. Sie würde ihre Familie lange nicht mehr wiedersehen. Und auch wenn ihre Eltern sie ja nun schneller loswerden wollten als die Reste aus dem Abtritt, sie vermisste ihre Brüder, insbesondere den ältesten, ein wenig. Adrian war nicht da gewesen, als dieser ganze Unfall passiert war. Was er wohl sagen würde, wenn er es erzählt bekam? Ob er auch glauben würde, was der Johann allen erzählt hatte, dass sie ihn einfach angegriffen habe? Ihr ältester Bruder hatte eigentlich immer für sie eingestanden, und Kira verehrte ihn zutiefst. Sie schaute vorsichtig hoch. Abigail hatte ebenfalls aufgehört zu essen und beugte sich gerade zu Tobey, um seinen Teller einzusammeln. Dieser nutze die Gelegenheit, sie auf den Hinterkopf zu küssen und über ihren Rücken zu streichen. Kira fühlte sich hin- und hergerissen zwischen Neugierde und Verblüffung. Sie hatte noch nie gesehen, dass Erwachsene ihre Zuneigung derart öffentlich zur Schau stellten. Sie schaute zu Mitras, doch der war völlig in sein Essen vertieft und schien sich an dem Verhalten seiner Bediensteten kein bisschen zu stören. Stattdessen angelte er sich eine weitere Kartoffel aus der Schüssel und wischte damit ziemlich elegant den Rest der Gulaschsoße auf. Wie eine Familie, dachte Kira, nicht wie ein Herr mit Angestellten. Vielleicht eine neue Familie für mich? Es fühlte sich fast wie ein Keim von Hoffnung an, aber sie traute sich nicht, es ganz zu hoffen. Meistens führt Hoffnung eh nur dazu, das man enttäuscht wird. Alles in diesem Haus war seltsam, wundervoll, magisch und so gut… bestimmt würde sie morgen im Heuschuber von Bruder Harras aufwachen und feststellen, dass alles nur ein Traum gewesen war.
„Wo kommst du denn eigentlich her?“ Kira schreckte aus ihren Gedanken auf und schaute Abigail an, die sich ein Glas Wein eingeschenkt hatte und sie erwartungsvoll anschaute. „Äh… aus Bispar.“ „Bispar?“ Abigail runzelte die Stirn. „Nie gehört…“ „Da hast du nichts verpasst.“, murmelte Kira leise, doch wohl nicht leise genug, denn sie hörte, wie Mitras neben ihr ein kleines, amüsiertes Schnauben von sich gab. „Es liegt bei Lührenburg.“, sagte sie lauter. „Ah, Richtung Küste. Hast du das Meer schonmal gesehen?“, setze Abigail das Gespräch fort. „Ja, einmal.“ Kira schwieg und legte das Besteck sorgfältig auf dem Teller ab, Messer und Gabel nebeneinander, so wie man es macht, wenn man nicht mehr essen mag. Adrian hatte sie einmal dort mit hingenommen. Man musste ihr ansehen, dass die Erinnerung sie gerade nicht besonders glücklich machte, denn Abigail überging ihre einsilbige Antwort und fragte gleich weiter: „Also ist das ein kleines Dorf, ja, Bispar? Und deine Eltern, was machen die?“ „Sie handeln, meistens mit Lebensmitteln oder was man sonst so braucht und auch mit dem Schmuck aus Granit, der in der Gegend gemacht wird, oder sowas….“ Kira zog die Muschelkette, die sie immer trug, aus ihrem Ausschnitt und zeigte sie Abigail und Tobey, die sich beide interessiert nach vorne beugten. „Oh, wie hübsch!“, kommentierte Abigail begeistert. „Das habe ich auch hier schonmal in einem Laden gesehen. Die Muscheln werden von Hand zu solchen Scheiben geschliffen, oder?“ Kira zuckte mit den Schultern. „Ich glaube schon, ich hab nie einen Handwerker dabei gesehen, immer nur, wenn sie fertig waren…“ Sie spürte, wie müde sie war, so sehr müde. Diese andere Welt, dieses Bispar, der Unfall, die Tage in ihrem Zimmer, das wirkte so weit weg nach diesem Tag und den ganzen Eindrücken. Mühsam unterdrückte sie ein Gähnen. „Ich glaube, unser Gast kann dir später noch genug vom platten, so wahnsinnig interessanten Landleben erzählen.“, sagte Mitras und wandte sích mit einem kleinen Lächeln an Kira. „Jetzt sollten Sie besser schlafen gehen.“ Kira nickte. Nun, da sie endlich ganz satt war, stieg die Müdigkeit immer schneller in ihr auf. Sie stand auf, nahm ihren Teller und sammelte ihr Besteck ein. „Lass stehen, Kindchen.“ Abigail griff über den Tisch nach ihrem Arm und drückte ihn leicht wieder herunter. „William und Tobey machen das gleich. Ich bringe dich jetzt erst mal nach oben. Mitras hat Recht, du schläfst uns ja sonst noch halb auf der Treppe ein.“ Kira lies den Teller los. „Aber…“ „Kein Aber.“ Mitras blickte sie an, und Kira hatte fast das Gefühl, ihr Herz würde ihr wieder in die Hose rutschen wie bei ihrer ersten Begegnung, so streng war sein Blick. Abigail stand auf, ging um den Tisch, rückte ihren Stuhl ab und führte sie aus dem Raum, was Kira ohne weiteren Protest über sich ergehen ließ. Erst in der Tür hatte sie sich so weit wieder gesammelt, dass sie ein „Gute Nacht!“ über die Schulter rufen konnte, was von drinnen von den Männern freundlich erwidert wurde. Kira hörte nur Mitras Stimme und stellte erleichtert fest, dass er nicht böse zu sein schien. So schnell das Gefühl der Dominanz und Verärgerung gekommen war, so schnell war es auch wieder aus seiner Haltung und Stimme verschwunden, und Kira seufzte erleichtert, während Abigail sie durch den Flur zur Treppe führte. Oben in ihrem Zimmer angekommen ließ sie sich aufs Bett fallen. „Du musst dich ausziehen, Kindchen, sonst schläfst du schlecht.“, sagte Abigail, als sie den Raum verließ. Kira nickte mit geschlossenen Augen, kämpfte sich dann aber nochmal hoch und begann, sich auszuziehen. Trotz des Winters heizte der Stein am Schreibtisch den Raum gut. Einen Schlafanzug brauche ich wohl nicht, dachte sie, also warf sie ihre Kleidung einfach auf den Boden und kroch rasch unter die dicke, flauschige Decke, die auf ihrem Bett lag. Und ehe sie noch über irgendetwas nachdenken konnte, schlief sie bereits.
„Na, was hältst du von der Kleinen? Wirst du sie ausbilden können?“, fragte William, während er den Tisch abräumte. „Sie ist kein totaler Reinfall,“ gab Mitras zu. „Als es hieß, dass meine erste Schülerin ein Mädchen vom Land sein würde, dachte ich, dass mir jemand – vermutlich Thadeus – ein faules Landei unterschieben wollte, um meinen Ruf zu schädigen und vielleicht war das sogar die Absicht. Aber ihre Prüfung hat ein exzellentes Talent aufgezeigt und sie weiß deutlich mehr, als man ihr zutraut. Und ein Mädchen ist sie ja nun auch nicht mehr. Aber sie ist auch sehr unsicher und lässt sich von schönen Blumen gleich ablenken, sie ist also immer noch wie ein naives Kind.“ „Ha, ein gefundenes Fressen also wohl für die ‚feine Gesellschaft‘. Das Pack wird sie in Stücke reißen, wenn du nicht auf sie aufpasst. So verschüchtert wie sie jetzt noch ist, werden sie wohl wie die Haie über eine blutende Robbe herfallen.“, sagte William mahnend. „Ja, das könnte in der Tat ein Problem werden, nichts bei ihr zu Haus kann sie auf Uldum und den Sumpf aus Intrigen, Lügen und Verrat hier vorbereiten.“ „Ha! Jetzt tu nicht so, als wenn du dieses Spiel nicht selber spielen würdest. Wir beide wissen doch wohl, dass du deinen Reichtum nicht nur deiner Fähigkeit als Magier verdankst.“, warf William ihm zwinkernd an den Kopf. Er war ihm stets treu geblieben, auch als Mitras sich plötzlich mitten in der Gesellschaft wieder fand, über welche die beiden sich früher immer lustig gemacht hatten. Sein alter Kindheitsfreund hatte ihn stets unterstützt, sehr zum Missfallen seiner Eltern. Ein Sohn aus gutem Hause der Hauptstadt mit einem Bengel aus dem fahrenden Volk. Was dachte sich der Junge nur! Aber Mitras dachte nie auch nur daran, sich von William abzuwenden. Und letztendlich war aus dem schlaksigen Burschen mit zu vielen Locken und zu vielen Flausen im Kopf ein überragender Koch geworden. Es war nur logisch, ihn anzustellen, nur ahnte keiner, dass William noch ganz andere Talente hatte, als den perfekten Rehrücken zuzubereiten. Ohne ihn wäre Mitras niemals in den Besitz des Buches gekommen, dem er all das hier verdankte. Und seinem Freund genügte es weiter kochen zu können und sich immer weiter zu verbessern. Mitras empfing nur selten Gäste, aber alle schwärmten im nachhinein vom Essen, das serviert wurde.
Abigail kam wieder herein, nachdem sie die Schülerin zu Bett gebracht hatte. „Tobey ist bereits drüben, Abby.“, informierte Mitras sie. „Ich werde nun noch ein Bad nehmen, aber das bekomme ich auch alleine hin. Oh, und ich habe eine Bitte an dich. Die Kleine weiß sich zu kleiden, aber das, was sie hat, genügt für die Hauptstadt nicht. Ich möchte, dass du sie morgen mit in die Stadt nimmst und dafür sorgst, dass sie etwas standesgemäßes zum Anziehen bekommt. Sie braucht eine Magierrobe für zeremonielle Anlässe, ein paar Freizeit Garnituren und ein paar Kleider für offizielle Anlässe. Du weißt besser als ich, was sie brauchen wird, sei nicht sparsam.“ „Aber natürlich nicht! Oh, sie wird gar nicht wissen, wie ihr geschieht!“, gluckste die Haushälterin fröhlich. Sie war bei der Aussicht, Kira mit Geschenken zu überhäufen, sichtlich amüsiert. Tobey und sie waren nahezu mittellos gewesen und kurz davor auf der Straße zu landen, als er die beiden als seine Diener aufgenommen hatte und dafür waren sie ihm ebenso wie für die gute Behandlung unendlich dankbar. Ihre nun deutlich bessere Lage verdankten sie aber tatsächlich William. Er war es, der sie ausgewählt und beobachtet hatte. Sie waren gute Menschen mit einer großen Menge Pech, aber ehrlich und anständig und vor allem loyal. Mitras wusste, dass er sich auf die beiden nun genauso verlassen konnte, wie auf William auch. Abigail war ursprünglich eine begabte Schneiderin und Ausstatterin und hatte ein gutes Gespür für Mode. Doch dann geriet sie ins Visier einer Adligen, der es missfallen hatte, dass eine ihrer nichtadeligen Gäste ein schöneres Kleid als sie selbst trug. Und da sie der Dame nichts anhaben konnte, war sie doch bei der Händlerfamilie, deren Tochter Ziel ihres Neides war, hoch verschuldet, zielte sie stattdessen auf die Schneiderin ab. Und in kürzester Zeit war Abigail komplett ruiniert, was Ihrer Leidenschaft für schöne Kleidung jedoch, den Geistern sei Dank, keinen Abbruch getan hatte. Sie hatte ihn nun schon oft stilsicher beraten und er wusste Kira bei ihr in besten Händen. Jedenfalls musste er sich keine Sorgen machen, dass sie aufgrund von schlechter Kleidung negativ auffiel. Auch in Sachen Etikette war Abigail sehr bewandert und er wusste, dass sie dafür sorgen würde, dass die junge Frau alles nötige wissen würde, bevor sie sich den „Haien“ stellen musste.
„Ich wünsche dann eine gute Nacht.“ , sagte sie und verließ das Haus. „Gut, William, wie gesagt, ich nehme noch ein Bad, ehe ich mit der Meditation beginne. Heute Nacht werde ich mich um den Generator kümmern müssen, für mich also ein etwas kräftigeres Frühstück, bitte. Ich denke mal, dass ich unseren neusten Zuwachs um Neun hier antreffen werde. Abby soll sie nicht vorher wecken, die nächsten Wochen werden anstrengend genug für sie.“ „Du wirst sie doch wohl hoffentlich nicht genauso schinden wie dieser elendige Thadeus dich, oder?“ Williams Blick wirkte schon fast vorwurfsvoll. „Thadeus ist ein elendiger Menschenschinder, der sich am Leid anderer ergötzt. Also nein, so hart werde ich es ihr nicht machen. Ich werde es ihr aber auch nicht leicht machen, dafür hängt auch zu viel für mich davon ab. Und noch ist unklar, ob sie wirklich charakterlich geeignet ist. Sie hat als erste magische Handlung einem Kameraden die Hände so verdreht, dass ein zweitägiges Ritual nötig war, um ihn halbwegs wieder arbeitsfähig zu machen. Ich will, dass sie wegen meiner Ausbildung zu einer Magierin wird und nicht trotz ihr. Es soll sich ruhig rumsprechen, dass ich ein besserer Lehrmeister bin, als Thadeus es war.“ „Na, wenn du meinst. Im Moment wirkt sie doch wohl sehr eingeschüchtert und überhaupt nicht grausam. Pass also auf, dass du sie nicht zu hart ran nimmst.“ „Ja, William-Papi, ich werde mich bemühen.“ Mitras zwinkerte ihm amüsiert und genervt zugleich zu. „Aber jetzt wartet die Wanne auf mich.“
Mitras stand auf und ging nach oben in sein Zimmer, um sich noch ein paar Sachen zu holen. Er griff sich eine einfache weiche Stoffhose, ein paar Pantoffeln und seinen Morgenmantel. Das würde für den Rückweg nach dem Bad reichen. Als er sich zur Tür herum drehte, blieb sein Blick am Spiegel seines Waschtisches hängen. Dieser war verzaubert und zeigte ihm – und nur ihm – einen Blick aus den anderen Spiegeln des Hauses. Neugierig geworden murmelte er die Formel, um den Spiegel zu aktivieren und zeichnete die entsprechende Rune für Kiras Zimmer auf die Stelle am Rahmen, die dafür vorgesehen war.
Diese Form der Hausüberwachung war sehr ins Geld gegangen, da nur Spiegel mit einem Silberrücken dafür in Frage kamen. Diese noch neuen und teuren Spiegel gaben ein viel besseres Bild, als die mit alten Techniken hergestellten, die zum Beispiel Zinn verwendeten. Zinn blockte zwar die magische Energie nicht so wie Kupfer ab, aber es war deutlich schwerer zu verzaubern als Silber und für einen derart aufwendigen Zauber ungeeignet.
Nun blickte er in ihr Zimmer, wie er es schon bei vielen seiner Gäste zuvor getan hatte. Er wusste auch gar nicht so genau, wieso er das eigentlich tat, aber als der Spiegel in sein Blickfeld geraten war, überkam ihn eine unstillbare Neugier. Vielleicht war es auch ein wenig die Gewöhnung an die paranoide Überwachung, mit der er sich in der letzten Zeit schon erfolgreich gegen einige spionierende Gäste gewehrt hatte. Auch wenn der Raum dunkel war, zeigte der Spiegel ihn immer, als wäre er taghell erleuchtet. Und so konnte er einen guten Blick auf sie werfen, wie sie in ihre Decke eingewickelt in ihrem Bett lag. Sie musste sofort schlafen gegangen sein, nachdem Abigail sie hoch gebracht hatte, denn so lange war das noch nicht her. Er nahm sich die Zeit, sie nun einmal ausführlich zu betrachten. Ihr Gesicht war ihm zugewandt. Mitras beobachtete es eine Weile, so gut es aus der Entfernung des Spiegels ging, und stellte fest, dass es angenehm symmetrisch war. Kleine Strähnen ihres Haares ringelten sich verschmitzt bis an ihren leicht geöffneten Mund. Er hatte fast das Gefühl, das rote Schimmern selbst aus dieser Distanz sehen zu können. Ihr Körper war komplett unter der Decke verschwunden. Er merkte, dass ihn dies störte, auch wenn er nicht sagen konnte, warum. Sie war doch eigentlich viel zu jung für ihn, fünfzehn Jahre Unterschied, aber wie er ihr so ins Gesicht sah, merkte er, dass sie doch etwas Faszinierendes an sich hatte.
Er riss sich vom Spiegel los und deaktivierte ihn. Was war nur in ihn gefahren! Auch wenn sie schon deutlich eine Frau war, so war sie immer noch seine Schülerin. Sie würde ihn sicherlich auch nicht attraktiv finden. Er durfte sich nicht zu sehr ablenken lassen, nur weil ein Teil von ihm fand, dass sie doch ein sehr schönes Gesicht habe. Er nahm seine Wechselsachen wieder auf, ging schnell runter ins Bad, entkleidete sich, ließ warmes Wasser in das Becken ein und gab ein Schaumbad hinzu. Dann wandte er sich dem Eimer mit der Schöpfkelle zu und kippte ihn sich gleich ganz über den Kopf. Das kalte Wasser half ihm, wieder zu klaren Gedanken zu kommen.
Er ließ sich in die Wanne gleiten und spürte die Wärme in seine Glieder steigen. Seit Wochen nun trat er auf der Stelle. Die ganze Prozedur der Verzauberung ging komplett spurlos an dem Material vorbei. Er konnte die Zylinder praktisch beliebig oft wiederverwenden. An ihm selbst ging das Ganze aber überhaupt nicht spurlos vorbei. So viel Magie zu kanalisieren war ziemlich anstrengend, vom Schlafmangel ganz zu schweigen. Dem üppigen Frühstück würde bald ein kräftiges Mittagessen folgen müssen. Dann konnte er sich wieder seinen Studien widmen und weiter versuchen, die Wirkung des Zaubers zu verlängern oder Wege finden wie das Elektrum mehr Magie aufnehmen konnte. Tagsüber traute er sich nicht, das Laden vorzunehmen – zu lang dauerte die Meditation, bei der er ungestört sein musste und zu groß war seine Sorge, jemand könnte hinter die Geheimnisse des Generators gelangen.
Er experimentierte immer wieder mit unterschiedlichen Zylindergrößen herum, aber das jetzige Format schien das beste Potential zu bieten. Blieb also nur der Zauber. Zwei Tage ließ sich die Bewegung halten, danach wurde sie instabil und der Zylinder begann sich in andere Richtungen als die gewünschte zu bewegen, was den ganzen Generator zerstören konnte. Nun studierte er gängige Werke der Telekinese, um einen Langzeitzauber zu erfinden.
Er ging noch eine Weile seinen Gedanken nach. Kira hatte ihn effektiv einen halben Tag gekostet. Aber die nächsten Wochen würde sie sehr viel Zeit im Selbststudium verbringen. Immerhin musste er ihr das Lesen nicht auch noch erst beibringen. Die Frage war, wie es um ihre mathematischen Kenntnisse stand. Im schlimmsten Fall musste er ihr einen Mathematiklehrer besorgen. Das ewige neu Laden der Zylinder und jetzt noch eine Schülerin. So würde er nie voran kommen. Wenn die Straße wenigstens an eins der Kraftwerke angeschlossen wäre , dann könnte er seinen Generator stehen lassen und nur zu Versuchszwecken betreiben. Aber bisher war das komplette Viertel noch unerschlossen, er hatte nicht den geringsten Schimmer, wieso. Außerdem brachte der Stromverkauf wirklich ein stattliches Sümmchen zusammen, auch wenn das Einkommen vom Verkauf des Elektrums für alle seine Ausgaben durchaus gereicht hätte. Eigentlich müsste er mal einen zweiten Generator für den Schuppen bauen, überlegte er. Zumindest sobald das Problem mit der Zauberdauer gelöst wäre. Im Moment würde er nicht genug Kraft für beide aufbringen können.
Wie dem auch sei, er musste sich nun fertig machen. Er ließ das Wasser ablaufen, stieg aus der Wanne und trocknete sich ab. Als er sich angezogen hatte, ging er nach oben, wechselte wieder in seine normalen Sachen und begann in seinem Schlafzimmer den Meditationszirkel vorzubereiten.
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