Geschenktes Glück – 7. Lunet 242 (Uldumstag)

Kira wachte davon auf, dass es still war. Viel zu still. Sie blinzelte. Draußen war es bereits hell. Kein Vogel sang. Sie lauschte einen Moment verwirrt. Kein Vogel, kein Hundegebell, niemand, der durch die Gegend rief. Sie war nicht zuhause. Nicht zuhause! Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag und die Erinnerung an den gestrigen Tag stürmten noch einmal auf sie ein. Die Reise, der Erzmagier, die Prüfung, das Haus, Mitras, Abigail, William, Tobey… ihre Ausbildung. Ach, du meine Güte, ihre Ausbildung. Ruckartig setzte Kira sich auf. Wie spät war es? Sie blickte zur Uhr auf dem Schreibtisch. 8 Uhr 40! Oh, bei den guten Geistern! So spät! Sie sollte dringend aufstehen und mit den Studien anfangen. Magister Mitras hatte deutlich gesagt, dass er sie jeden Abend prüfen würde, also würde sie jeden Tag ausreichend Stoff vorbereiten müssen. Kira war mit Selbststudien und Prüfungen vertraut, sie hätte nach der Dorfschule auf das Gymnasium gehen können, doch Lührenburg war zu Fuß zu weit weg, und eine Droschke oder ein Pferd jeden Tag zu bezahlen, war ihrer Mutter zu teuer gewesen, also hatte sie den Stoff mit der Post geschickt bekommen und durfte jeden Tag zwei Stunden zu Bruder Harras gehen, um dort zu lernen. „Aber nur, weil Bruder Harras das sagt!“, klang ihr die Stimme ihrer Mutter im Kopf. Wenn es nach der gegangen wäre, hätte man Kira an den ersten vorbeireisenden Händler verheiratet und sie möglichst weit weg geschickt, natürlich nur gegen einen möglichst guten Brautpreis. Kira schüttelte sich bei der Erinnerung. Ja, wenn fremde Männer zu Besuch gewesen waren, das waren die einzigen Momente, in denen ihre Mutter mal was gutes über sie gesagt hatte. Und natürlich war dann ihre Schulbildung auch plötzlich was gutes gewesen. Sie war nicht die einzige in den umliegenden Dörfern, der Fernunterricht war überall auf dem Land üblich, und es war auch gar nicht so unüblich, dass man nicht den vollen Unterricht von 6 oder 8 Stunden am Tag besuchte. Viermal im Jahr war sie zu den Prüfungen gefahren, die sie meistens auch ganz gut bestanden hatte – Mathematik ausgenommen, sehr zum Ärger ihres Vaters, der sie als „Schande einer Händlerfamilie“ bezeichnet hatte. Aber Kopfrechnen war einfach langweilig. Und immer ging es um Geld. In Geometrie war sie nicht so schlecht gewesen. Also, naja. Zumindest war sie da nie durchgefallen.

Sie schwang sich aus dem Bett und tapste zur Toilette. Sie würde sich ein Frühstück holen und dann mit dem Buch zu Flora und Fauna beginnen. Und danach das Handbuch der Erstlingszauber. Sie spürte, wie sich Vorfreude darauf in ihr ausbreitete, nicht nur einen Tag, sondern viele Tage lang sorgfältig lesen, herausschreiben, lernen zu können. Sie holte sich mit dem Krug etwas Wasser, wusch sich flüchtig und öffnete dann den Schrank, um sich etwas zum Anziehen herauszusuchen. Unterwäsche war einfach, aber dann stand sie eine lange Weile vor dem Schrank und überlegte. Selbst die Kleidung von Abigail wirkte ein wenig edler als ihre normale Alltagskleidung. Sie seufzte. Der Erzmagier hatte ihr gesagt, dass sie ein Taschengeld von Mitras bekommen würde. Scheinbar würde sie es dazu einsetzen müssen, sich erstmal einige bessere Stoffe zu kaufen. Mit dem elektrischen Licht würde sie auch in den Abendstunden noch nähen können, und so würde sie bestimmt einige Kleider nähen können, die dem Haus mehr entsprachen. Schließlich entschied sie sich für ein schlichtes grünes Wollkleid mit einer weißen Unterbluse und einem weißen Unterrock. Das Essemble saß bequem und würde sie beim Lernen nicht durch unnötige steife Elemente stören. Sie flocht sich rasch die Haare zu einem dicken Zopf, das sparte das langwierige Bürsten, und zog sich die Haussschuhe an. Gerade, als sie so zur Tür ging, klopfte es. „Kindchen?“, klang Abigails Stimme durch die Tür. „Bist du schon wach?“ „Äh, ja.“ Kira öffnete die Tür. Abigail strahlte sie an. „Sogar schon angezogen!“ Kira wurde ein bisschen verlegen. „Ich habe verschlafen, oder?“ Abigail lachte. „Nein, gar nicht, ich sollte dich um 9 wecken, und du bist schon angezogen. Ein frühes Vögelchen bist du, oder?“ „Um neun?“, fragte Kira ungläubig. „Der Magister sagte, du dürftest heute ein wenig länger schlafen, weil dein Tag gestern ja sehr lang war. Normalerweise wecke ich dich um halb acht, William macht uns allen um acht Frühstück. Mitras isst nicht immer mit uns, aber du kannst dich gerne zu uns setzen, wenn du es magst. Alleine essen macht unglücklich!“ Dabei zwinkerte sie ihr freundlich zu. Kira versuchte ein freundliches Lächeln. Abigail war so nett zu ihr, netter als ihre Mutter jemals gewesen war. Es fühlte sich ein wenig komisch an, dass eine fremde Frau so warmherzig zu ihr war. Sie muss sich um mich kümmern, schoss es Kira durch den Kopf. Sie ist die Angestellte. Ob Mitras ihr Anweisungen gegeben hatte? Nein. Mitras war so viel kühler und distanzierter, er würde nicht anweisen, besonders freundlich und liebevoll zu ihr zu sein. Es musste einfach ihre Art sein. Die gute Seele des Hauses, dachte Kira, während sie gemeinsam die Treppe runter zur Küche gingen. An der Küchentür winkte Abigail ihr zu. „Ich hab schon gegessen und muss noch Wäsche waschen, aber du kannst dir ein Tablett dort abholen. Mitras muss auch noch essen, glaube ich.“ Achja, die Wäsche. „Äh, wo kann ich denn meine Wäsche waschen?“, fragte sie, vor der Küchentür stehend. „Sie waschen keine Wäsche!“, erklang aus der Kellertür rechts neben ihr streng Mitras Stimme. Kira qietschte erschrocken auf und fuhr herum. Im Kelleraufgang stand Mitras, in der selben Kleidung wie am Vortag. Er wirkte, als habe er kaum geschlafen, abgekämpft und müde. Gestern Abend schien er schon erschöpft, aber nun wirkte er, als wenn er tagelang nicht geschlafen hätte. Was tat er da unten bloß?

Die Erschöpfung tat allerdings der Strenge und der Missbilligung in seiner Stimme keinen Abbruch. „Magister! Verzeihung, aber…“ „Abigail wäscht Ihre Wäsche. Sie stellt Ihnen einen Korb hin, wie bei mir auch.“ Mitras trat auf sie zu, und Kira wich ein Stück zurück, bis sie gegen die Küchentür stieß. Er griff nach ihrem Kinn und hob es nach oben, so dass sie ihm in die Augen sehen musste. Seine Augen waren hellblau, fast wie Eis, und funkelten sie mit einer Mischung aus Erschöpfung und Wut an. „Sie sind eine junge Lady. Sie sind eine Magierin. Sie werden keine Wäsche waschen, Sie werden nicht putzen, Sie werden nicht dienen. Stehen Sie gerade und sprechen Sie mir nach.“ Er ließ sie los und trat einen Schritt von ihr weg. Kira blickte weiter in seine Augen, sie traute sich nicht, wegzuschauen. „Ich… ich… bin eine Lady?“, sagte sie zaghaft. „Sie sind eine Lady.“, bestätigte Mitras. „Und Sie werden sich auch so benehmen. Ihr Verhalten wird unser Haus repräsentieren. Und jetzt werden Sie Abigail eine Anordnung bezüglich Ihrer Wäsche geben.“ Scheu schaute Kira zur Seite, wo Abigail stand und offenbar schmunzelte, nun aber rasch ein ernstes Gesicht aufsetzte und sie erwartungsvoll anschaute. Kiras Gedanken rasten. Was für eine Anordnung? Die Hinweise zum Korb fielen ihr wieder ein. „Abigail, würdest du bitte einen Korb in mein Zimmer stellen und alle drei Tage meine Wäsche waschen?“, fragte sie und linste dabei zu Mitras. Seine Mundwinkel zuckten, als unterdrücke er ein Lächeln, doch er nickte. „Selbstverständlich, Kindchen.“ Jetzt grinste Mitras wirklich. „Du untergräbst meine Erziehung mit so einer Anrede, Abby!“, beschwerte er sich. „Remus wurde nicht an einem Tag erbaut!“, gab Abigail schlagfertig zurück, ehe sie sich umdrehte und im Flur verschwand. Mitras drehte sich wieder zu Kira um. „Wollen wir?“ Er deutete dabei auf die Tür hinter ihr. „Äh, ja, Magister.“ Sie drehte sich um und öffnete die Küchentür. Die Küche war leer, aber auf der Anrichte standen zwei Tabletts, das eine mit einer langen Rispe von Lavendel auf der abgedeckten Tasse. Mitras ging an ihr vorbei und nahm das Tablett ohne Lavendel. „Kommen Sie, wir können im Esszimmer zusammen frühstücken.“

Mit dem Tablett in der Hand ging er ins Esszimmer herüber. Kira beeilte sich, ihres zu nehmen und ihm zu folgen. Er hatte eigentlich geglaubt, dass sie schon eine gewisse Erfahrung mit Bediensteten haben müsste, waren ihre Eltern doch eigentlich erfolgreiche Händler. Aber anscheinend hatte er deren Stellung überschätzt. Seine eigenen Eltern waren wohlhabend genug, um sich immer Bedienstete leisten zu können. Er konnte sich jedenfalls nicht entsinnen, dass es jemals eine Zeit ohne Hausmädchen und Koch gegeben hatte. Lediglich der Garten fehlte ihnen.

Aber auch sonst machte er sich ein bisschen Sorgen um Kira. Sie war sehr zurückgezogen und wirkte schon sehr eingeschüchtert. Er musste wohl wirklich ein bisschen darauf acht geben, ihr nicht mit zu viel Härte zu begegnen, wie William gesagt hatte. Ob er wohl einen Hauslehrer für Umgangsformen einstellen sollte? Aber er verwarf den Gedanken. Er würde sie schon selbst formen und ihr das nötige Rückgrat vermitteln, um auch hier zu bestehen. Außerdem konnte man nie wissen, wen man sich da ins Haus holte. Einige seiner Feinde warteten sicher nur darauf so einen Fuß in die Tür zu bekommen. Auch wenn er deutlich weniger scheu gewesen war, so war auch er sehr introvertiert und hatte den Umgang mit der höheren Gesellschaft erst von seinem alten Mentor Christobal di Pinzon lernen müssen. So würde er das nun auch bei ihr machen. Und zur Not konnte er Christobal später um Hilfe bitten.

Er stellte sein Tablett ab, wartete, bis sie es ihm gleich getan hatte und setzte sich dann. „Bedenken Sie, durch Ihre neu erwachten Fähigkeiten sind Sie nun in einen neuen Stand aufgestiegen. Gewöhnen Sie sich daran, dass Dienerschaften und generell das ’normale Volk‘ Ihnen bald mit Knicks und Verbeugung entgegen treten wird. Wir Magier bilden einen eigenen Stand parallel zum Adel, also über allen anderen. Lassen Sie sich dies aber nicht zu Kopf steigen! Ich werde nicht tolerieren, dass sie anfangen Ihre Mitmenschen von oben herab zu behandeln. Zu Ihrer Ausbildung wird auch gehören, wie Sie sich wem gegenüber zu verhalten haben. Hier im Haus pflegen wir einen lockeren, familiären Umgang. Aber dennoch sind Sie jetzt eine Dame und sie die Bediensteten. Ihre Aufgabe ist das Lernen und später auch das Assistieren bei meinen Studien und letztendlich das Durchführen eigener Studien. Abigails, Williams und Tobeys Aufgabe ist es, uns dabei alle weltlichen Probleme vom Hals zu halten.“ „J… ja, Magister.“ stotterte sie, völlig überfahren von seiner Standeseinweisung.

Nach dieser ersten Ansprache nahm er erst einmal eine der belegten Brotscheiben auf und begann zu essen. Sie schaute eine Weile nur auf ihr Tablett, brauchte wohl noch einen Moment, um das Gesagte zu verdauen, begann dann aber auch zu essen. Just in diesem Moment kam William herein. „Ha, ihr beide habt euch schon bedient. Ich wusste nicht, was du so magst, also habe ich erstmal von allem ein bisschen gemacht. Leg einfach die Sachen, die du nicht magst auf den rechten Tellerrand und was du vom Rest nicht schaffst, kannst du dann auf der linken Seite ablegen, damit ich es dir für später einpacken kann. Wird ja doch ein ereignisreicher Tag.“ Der letzte Satz ging in ein fröhliches Lachen über und schon war er wieder in der Küche verschwunden. Sie schaute ihm leicht verdutzt hinterher und dann wieder auf ihren Teller, als überlege sie, was sie davon nicht mögen könne. Tatsächlich hatte sie bereits von dem meisten ein wenig probiert, alle Brote waren angeknabbert. Mitras legte das Brot, das er gerade aß wieder ab, blickte zu ihr und sagte: „Achja, mit dem Lernen können Sie Morgen anfangen, zumal ich Ihnen ja noch gar keinen Lehrplan zugeteilt habe.“ Geschweige denn, dass er bereits einen geschrieben hatte, aber da würde er sich später drum kümmern. „Zum Stand eines Magiers gehört auch eine standesgemäße Kleidung. Und Ihre Sachen weisen zwar eine gewisse Stilsicherheit auf, sind aber doch ziemlich gewöhnlich. Abigail war früher eine angesehene Schneiderin und hat schon so manches junges Adelsmädchen eingekleidet und genau das wird sie heute mit Ihnen machen. Sie beide werden gleich in die Innenstadt aufbrechen. Abigail wird Ihnen zum einen die Stadt zeigen und einige wichtige Örtlichkeiten erklären und zum anderen wird sie Ihnen alle Wünsche bezüglich Ihrer Kleidung erfüllen, solang diese nicht zu ausgefallen sind. Das meiste wird sie selbst anfertigen, richten Sie sich also schon einmal darauf ein, Ihre Studien die nächsten Tage regelmäßig für Anproben unterbrechen zu müssen.“ „A..a..aber ich habe doch gar kein Geld. Ich kann mir das alles noch gar nicht leisten.“ stammelte sie äußerst verlegen. Das wiederum irritierte ihn. Ihre Eltern hatten ihr doch sicher Mittel zur Verfügung gestellt, oder etwa nicht? Er musste sich doch noch einmal über sie informieren. Konnte es sein, dass ihr Geschäft so viel schlechter lief, als er erwartet hatte? Sicher, sie lebten in den neuen Nordprovinzen, aber dem Namen nach waren sie aus dem Reich hinzugezogen und keine Skir. Das sollte doch eigentlich heißen, dass die Familie Geld hatte. Aber sie hatte definitiv Skirzüge. Allein das Haar war eher kastanienrot als braun, vielleicht doch Skirverwandschaft? Das würde die finanzielle Lage erklären. Soweit er wusste, begegneten die Menschen aus den neuen Provinzen, die zum Großteil aus Berg stammten, was früher stark unter Skirpiraten gelitten hatte, den Nordmenschen mit Abscheu. Wenn ihre Mutter oder ihr Vater Skir waren, dann konnte das Geschäft nicht gut laufen. Hieß es dort nicht ‚Kauf nicht bei Skir, wer weiß, wem sie es gestohlen haben!‘ Er würde jedenfalls sein Informantennetzwerk darauf ansetzen müssen. In der Hauptstadt war solcher Rassismus zwar eigentlich kein Problem, aber es war nie verkehrt sich abzusichern. Es würde einige Tage oder Wochen dauern, bis sie die nötigen Informationen hatten, also musste er fürs erste darauf achten, dass er sich nicht im Ton vergriff. Er wollte seine Schüler nicht unnötig beschämen. „Da machen Sie sich mal keine Sorgen drum. Ich werde Ihnen eine volle Garderobe bezahlen und nein, das werde ich nicht von Ihrem Taschengeld abziehen. Betrachten Sie es als Investition in meinen guten Ruf. Ihr Taschengeld dient einzig und allein der Zerstreuung und Erholung. Ich erwarte, dass Sie fleißig lernen und gute Ergebnisse abliefern, nicht, dass Sie zum Eremiten verkommen. Alles was zum Leben notwendig ist, wird von mir gestellt, inklusive Lehrmaterial.“ „Da…danke.“ brachte sie noch hervor und schien völlig in sich zusammen zu sacken. Nach einem kurzen Moment begann sie leise zu schluchzen. „Habe ich etwas falsches gesagt?“, fragte er leicht besorgt und irritiert. „Nein, Magister, es ist nur so, Sie sind so gut zu mir. Allein das, was Sie mir jetzt in Aussicht stellen, ist mehr als ich mir vor einer Woche noch für den Rest meines Lebens erhoffen konnte. Nicht mal mein Bruder, der in viel höherer Gunst bei meinen Eltern steht, hat zur Hochzeit eine ganze neue Ausstattung an Kleidung bekommen – also, und… also auf jeden Fall nicht mit so edlen Stoffen, wie Sie es tragen. Die sind ja magisch gewebt und die Weste ist so kunstvoll bestickt!“, platzte es aus ihr heraus, unterbrochen von einigen Schluchzern und ein bisschen Schniefen. „Und jetzt geben Sie so viel Geld für mich aus und obwohl ich doch sicher allen hier unnötig zur Last falle, sind doch alle so gut zu mir. Das ist alles wie ein viel zu guter Traum…Wahrscheinlich werfen Sie mich eh nächste Woche wieder raus, weil ich was vergesse oder irgendwas doof mache oder weil jemand…“ Sie verstummte, anscheinend überrascht von sich selbst. „Na ja, viel wäre jetzt aus meiner Sicht etwas übertrieben. Kira, ich bin reich, wie Ihnen das Haus vielleicht schon verraten hat. Sie neu einzukleiden, wird in meinen Bilanzen noch nicht einmal auffallen. Umgekehrt würde es aber auf mich zurückfallen, wenn sie zur Akademie oder zu irgendeinem gesellschaftlichen Ereignis gingen und dabei in der Kleidung einer einfachen Kaufmannstocher erscheinen. Ich bin als jüngster Magister seit einigen Jahren berühmt, jeder schaut auf mich und meinen Haushalt, und nicht wenige hoffen, einen kleinen Skandal zu finden, um sich zu profilieren. Es ist also nicht ganz selbstlos, wenn ich Sie nun neu einkleide. Und da ich mir natürlich bewusst bin, dass Sie sich das, was ich mir als standesgemäß vorstelle, nicht leisten können, zahle ich es auch. Andere Lehrmeister würden Ihnen das Geld wahrscheinlich recht drakonisch vom Lehrgeld, das die Gilde vorschreibt, abziehen, aber ich sehe nicht, warum ich das tun sollte. Meine Studienergebnisse haben mich zu einen sehr wohlhabenden Mann gemacht und derartige Kleinlichkeiten habe ich nicht nötig.“ antwortete er ihr. „Und was den Umgang angeht, auch wenn die drei meine Bediensteten sind, so bilden wir hier doch so etwas wie eine kleine Familie und Sie sind nun fürs erste Teil dieser Familie. Ich würde es schwer missbilligen, wenn einer der drei Sie anders behandeln würde, als sie mich behandeln. Aber es gilt auch, dass Sie jetzt das vorletzte Wort und ich das letzte Wort haben. Wenn Sie eine Anweisung erteilen wird dieser Folge geleistet, außer sie widerspricht einer meiner Anweisungen.“ Er wartete, bis sie sich beruhigt hatte und nippte derweil an seinem Tee. William hatte ihn perfekt hinbekommen, genau die richtige Brühdauer, ein Löffel Honig und ein, zwei Tropfen Bergamotteöl, wie er ihn mochte. „Sie bekommen sieben Silbermünzen im Monat als Taschengeld im ersten Lehrjahr. Ich gebe die erste Rate Abigail gleich mit. Und im übrigen werde ich Sie nicht wegen des erstbesten Fehlers rauswerfen. Fehler passieren und gehören zum Lernprozess dazu. So, und jetzt essen Sie ordentlich, der Ausflug mit Abigail wird anstrengend genug.“, endete er und griff sich sein angefangenes Brot wieder. Das gerade Gehörte besorgte ihn. Es erschien fast so, als ob die Eltern ihr bewusst keine Mittel zur Verfügung gestellt hatten, so, als wäre sie das schwarze Schaf der Familie. Die Frage war: Wieso? Oder hatte sie Kiras erste Magieerfahrung so erschreckt? Es war schon ein ungwöhnlicher Vorfall gewesen, durch den ihre Fähigkeiten entdeckt worden waren. Zum Glück hatte der Bürgermeister oder irgendjemand anderes mit Weisungsbefugnis richtig gehandelt und die Gilde informiert. Wer weiß, was sonst passiert wäre. Das Bild der Magie war in den nördlichen Regionen immer noch stark durch das hexendominierte Erbe der Skir geprägt und so wie er gehört hatte, war der Aberglaube immer noch groß, bis hin zu einigen Hexenverfolgungen, die leider nicht immer von der Obrigkeit unterbunden worden waren. Ihre rot-braunen Haare und die grünen Augen ließen sie einer Skir ähnlich sehen, vielleicht war sie selbst sogar angefeindet worden. Konnte es also sein, dass ihre Familie sie verstoßen hatte? Aber nein, so wie es sich eben anhörte, war es etwas anderes. Vielleicht lag es am Aberglauben? Selbst wenn die Eltern ihre Herkunft verbergen konnten, bei Kira würde das seit dem Vorfall nicht mehr gehen. Er musste unbedingt mehr heraus finden, auch um sie und wichtiger noch sich selbst, zu schützen. Am Schengstag würde er sich wieder mit Titus Tarens, seinem wichtigsten Informanten, treffen. Vorher konnte er nichts weiter tun, als Kira zu beobachten und vorsichtig auf Stichwörter einzugehen. Kiras Verhältnis zu ihrer Familie schien sie sehr zu belasten und er wollte sie deswegen nicht ohne konkreten Anlass zu sehr bedrängen. Also hieß es abwarten. Er beendete sein Frühstück, verabschiedete sich von ihr und wünschte ihr einen schönen Tag.

Abigail holte Kira, die tatsächlich zu Williams Erstaunen fast alles vom Teller aufgegessen hatte, eine halbe Stunde nach dem Frühstück in ihrem Zimmer ab. Die Haushälterin trug nun ein Wollkleid aus einer sehr fein gestrickten Wolle und darüber einen Mantel mit Pelzbesatz und einen dazu passenden Hut. Sie sah so edel aus wie Kiras Mutter an einem Silenz und strahlte dabei mindestens doppelt so viel Vorfreude aus. „Komm, zieh dir rasch deinen Mantel an!“ Sie hielt ihn ihr hin, so dass Kira bequem hineinschlüpfen konnte. „Die Kutsche wartet schon draußen.“ Kira folgte ihr. Die Vorfreude von Abigail färbte ein wenig auf sie ab, auch wenn sie sich gleichzeitig irgendwo zwischen beschämt, schüchtern, neugierig und überfordert fühlte. Sie traten vor das Haus, wo am Tor tatsächlich eine kleine Stadtkutsche wartete. Es schneite schon wieder. Kira holte Luft und versuchte, eine Schneeflocke mit der Zunge zu fangen, wie sie es immer bei Schnee tat. Die Luft war irgendwie… kälter. Schneidener. Das muss am Hochland liegen, schoß es ihr durch den Kopf. Die Luft ist vermutlich trockener, so weit im Landesinneren. Abigail lief zur Kutsche voraus und öffnete ihr die Tür. „Mylady, bitte steigen Sie ein.“ Kira schaute sie ob der neuen Anrede einen Moment verblüfft an, so höflich war sie sonst nur bei der ersten Begrüßung gewesen, doch dann wurde ihr klar, dass der Kutscher natürlich nicht zum Haushalt gehörte, und sie dachte wieder an die Predigt zu ihrem neuen Stand, die Mitras ihr gerade gehalten hatte. Sie nickte Abigail also nur kurz zu und bestieg dann vor ihr die Kutsche, um sich dort möglichst nah an das Fenster zu setzen. Sie war neugierig. Natürlich hatte sie schon einige Teile von Uldum gesehen, als man sie vom Bahnhof zur Akademie geführt hatte, aber das hatte sich auf den Bahnhof, ein paar größere Stadthäuser im Hintergrund und eine prunkvolle Straße mit etlichen Palästen und Parkanlagen beschränkt, die ihr Führer ihr auch nicht weiter erläutert hatte. Den Rest der Zeit hatte sie in der Kutsche gesessen und nichts gesehen. Abigail wechselte einige Sätze mit dem Kutscher und stieg dann zu Kira in die Kutsche, die sich ein wenig ruckelnd in Gang setzte. Die Straße führte weg von den eingezäunten Villen, dann wurde sie ein wenig schmaler und die Bebauung änderte sich: Die Vorgärten und Mauern um die Gebäude verschwanden, nun schmiegte sich Hauswand an Hauswand. Die Häuser waren drei- oder vierstöckig, bei vielen gab es im unteren, etwas höheren Geschoss Werkstätten. Kira sah einen Schmied neben einer Schneiderei, daneben eine kleine Bäckerei, aus der ein verlockender Duft über die Straße zog. Der Kutscher rief laut, um ein paar Kinder zu vertreiben, die vor der Bäckerei spielten – vermutlich auch, um bei Gelegenheit die Kunden um eines der Brötchen anbetteln zu können, dachte Kira, der auffiel, wie schmal und hungrig die kleinen Leiber aussahen. Sie kannte Hunger – der Krieg um die Gebiete nördlich des Olfiat, zu denen auch der Distrikt Burnias gehörte, in dem Bispar lag, war zwar schon seit fast hundert Jahren beigelegt, aber die Winter waren immer noch lang und trotz der guten Marschlande war das fruchtbare Land nicht in jedem Jahr bereit gewesen, für alle genug Korn und Obst zu produzieren. Kiras Eltern waren stets reich genug gewesen, schlimmere Phasen von ihr selbst abzuwenden, aber sie hatte gesehen, dass es anderen nicht immer so gut erging. Die Kinder hier waren nicht völlig am verhungern, aber sie waren arm. Kira spürte, wie ihr eigenes Privileg, ihr Glück, sie überwältigte, und sie dankte allen guten Geistern, die ihr einfielen, für ihre Gabe und die Möglichkeiten, die ihr neuer Lehrmeister ihr bot. Einige der Werkstätten, fiel ihr auf, waren bereits richtige Manufakturen, man konnte Ruß und Dampf aus den Schornsteigen aufsteigen sehen, von den Dampfmaschinen. Einmal musste sie fürchterlich husten, als eine Rußwolke vom Wind über die Straße gedrückt wurde, und auch Abigail fluchte leise, während sie sich bemühte, den Gestank mit ihrem Hut wieder aus der Kutsche zu wedeln. Kira stellte erstaunt fest, dass sie dabei einige Worte einer Sprache benutzte, die sie nicht kannte. Das war nicht Skirdisch, und es klang auch nicht nach Angshire. Ob das Astellianisch war? Woher kannte Abigail die Sprache? Kira selbst kannte Skirdisch natürlich, bis vor 150 Jahren hatte Bispar noch zum nördlichen Reich Skirgard gehört, und auch wenn die Gemeinsprache Rasenna das Skirdische verdrängt hatte, so wurde es doch im gesamten Gebiet noch verwendet – mindestens von den ebenso verhassten wie gefürchteten Resten der Skirbevölkerung, die dort noch lebten. Der größte Teil ihrer Familie, soweit sie ihn zumindest kannte, stammte aus Albion und war erst nach der Erorberung über den Olfiat in die neuen Provinzen gewechselt. Zwar sah sie selber denen, die noch aus Skirzeiten die Region bewohnten, durch ihre roten Haare ähnlich, aber ansonsten hatte sie mit Skir selber nichts zu tun. Zum Glück, wie Kira fand, so auszusehen, war schon schlimm genug. Die Eroberung durch Albion war ihrer Meinung nach eigentlich ein ziemlicher Glücksgriff für die Region – sie war einigen Skirgardern begegnet, und die waren zumeist nicht so kultiviert, sondern eher wild, laut und ungestüm. Allgemein sagte man ihnen nach, sie seien grausame Räuber. Wie Kira selbst am eigenen Leib erfahren hatte, waren die Skir so ziemlich das Lieblingsfeindbild aller Menschen im Norden. Ohne die Herrschaft Albions wäre vermutlich auch etwas wie der Fernbesuch der höheren Schule gar nicht denkbar gewesen, nach allem, was Kira über Skirgard wusste, war das Land nicht so gut organisiert wie Albion, das auf der jahrhunderte alten Tradition des großen Rasenna-Reiches aufbaute, das zuvor beinahe den gesamten Kontinent beherrscht hatte. Kira schmunzelte bei der Erinnerung an ihre Geschichtsprüfungen zur Geschichte Albions. Auf die glorreichen Nordkriege und welche Vorteile sie den eroberten Provinzen gebracht hatten, hatte ihr Lehrer viel Wert gelegt, und Kira war froh gewesen, dass er dank des Fernunterrichtes sie nicht gesehen hatte, wenn er mal wieder in einer seiner Lehrtexte über die rothaarigen Hexen und die grausamen Schlächter mit den blutroten Bärten herzog. Die Eroberung des Westens des alten Reiches durch die angshirischen Seefahrer von jenseits des Meeres, hatten Kira viel mehr interessiert, doch dazu gab es nur wenige Quellen. Bruder Harras hatte dazu gesagt, dass es ja wohl verständlich sei, denn Geschichte würden die Sieger schreiben, nicht die Verlierer, und deswegen gäbe es zum Thema der Angshire erst seit neustem in Albion überhaupt Geschichte zu schreiben. Der Gedanke an Bruder Harras ließ Kira ein wenig seufzen, so dass Abigail sie kritisch anschaute und aufhörte, mit dem Hut zu wedeln. „Schau, dort ist der Fluss, der Avens, der unserer ganzen Region den Namen gab. Wir fahren gleich über die Brücke, die dem Zusammenfluss von Avens und Corvio am nächsten ist.“ Sie zeigte nach draußen, wo sich tatsächlich nun der Blick auf eine breite Uferpromenade, auf deren Fahrspur sie links abgebogen waren, und eine fast vier Kutschen breite Brücke öffnete, die in einem hohen Bogen über das grau-gelbe Wasser des breiten Stromes führte. Es hatte aufgehört zu schneien. Die Sonne glitzerte auf der Wasseroberfläche. Sie schaute nach rechts, wo von Osten das deutlich blauere Wasser des Corvios heranfloss. Während sie über die Brücke fuhren, beobachtete Kira fasziniert, dass die beiden Gewässer sich gar nicht sofort mischten, sondern, soweit sie es sehen konnte, beinahe nebeneinander her flossen. Allzu rasch passierten sie ein großes Tor in einer Stadtmauer, die den Stadtbereich vor ihnen umgab. „Nun beginnt die Altstadt.“, erklärte Abigail. Die Kutsche fuhr auf einen großen Platz, der an der südlichen Seite von einer sternförmigen Mauer begrenzt war. Zu ihrer Linken, also nördlich, stand eine Reihe von Bäumen, die nun kahl waren und durch ihre auffällige Rinde für Kira leicht als Platanen zu erkennen waren, auch wenn sie solche Bäume noch nie gesehen hatte. Hinter den Bäumen waren die aufwendig verzierten Fassaden von dreigeschossigen Häusern zu erkennen, die zwar an einigen Stellen noch den Schnitt antiker Gebäude aufwiesen, aber eindeutig den modischen Trends der letzten Jahre gefolgt waren und durch aufwendige Restaurierungen mit viel Stuck und Figuren ausgebaut worden waren. Sie bildeten Blöcke, zwischen denen sich verschiedene Straßen und Gassen öffneten – manche schmal, nur für Fußgänger, einige breit genug für eine Kutsche oder sogar zwei. Der Kutscher lenkte das Gefährt zu einem Kutschenparkplatz an der Mauer. Währenddessen öffnete Abigail ihre Börse, zählte einige Silberstücke heraus und reichte sie Kira. „Magister Mitras bat mich, Ihnen Ihr Taschengeld gleich zu geben. Aber für heute stecken Sie es weg, ich habe genug Geld bekommen, um alles zu bezahlen, was Mylady braucht.“ Kira dankte und nahm die Münzen. Sieben Silber war ganz schön viel, fand sie. Sie steckte sie in ihre Börse und versteckte diese sorgältig unterm Mantel. Abigail stand auf, öffnete die Wagentür und reichte Kira die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen. „Der Kutscher wird hier auf uns warten. Wir werden erstmal zu Peeks gehen, die haben ganz schöne Kleider fürs Haus, auch mal was gemütliches, und Mylady kann eines gleich anbehalten, sie sehen auch gut genug für die Stadt aus.“ Kira nickte und ließ sich von Abigail in eine der Gassen führen. Schon nach einigen Metern blieben sie vor einem Haus mit großen Schaufenstern stehen. An zwei Schaufensterpuppen waren ein rotbraunes und ein gelbes Kleid ausgestellt, das Fenster war zudem geschmackvoll mit Laub und einigen großen Ästen geschmückt. „Ts!“, sagte Abigail, „Sie haben die Winterkollektion noch nicht ausgestellt, mal sehen, vielleicht bekommen wir einige Herbstmodelle günstiger, die stehen Ihrer Haarfarbe besser als das Winter-Blau, das jedes Jahr so überraschend wieder ganz aktuell ist.“ Sie zog die Vokale bei „überraschend“ und „ganz“ überdeutlich in die Länge, und Kira musste trotz des konstanten Gefühles von Überforderung lächeln. In Bispar war man froh, wenn man Sommer- und Winterkleidung hatte, spezielle Kollektionen gab es nicht, auch wenn Kira durchaus in Zeitungen davon gelesen hatte. Dass Abigail den Rummel um spezielle Kollektionen für etwas albern hielt, fand sie erholsam in all den Regeln, Schickschnack und Pomp, die die Hauptstadt wohl prägten. Sie folgte ihrer Füherin in den Laden. Beim Eintreten klingelte eine kleine Glocke, und sie hörten eine weibliche Stimme rufen: „Ich bin gleich da!“ Kira schaute sich um. Auf Kleiderstangen hingen verschiedene Kleider an den Wänden, und in der Mitte des Raumes stand eine Gruppe von lebensgroßen Puppen zusammen, die offenbar schon winterliche Mode trugen: Die Farben war dunkel und bläulich. Kira gefiel eines der Kleider, weil es aus zwei Stoffen bestand: Unter einem fast transparenten, hellblauen Stoff, in den kleine Sterne oder Blüten gestickt waren, lag ein dunkler, etwas schimmernder, fester Stoff. Unter der Brust wurden beide mit einer goldenen Bordüre zusammengehalten, die sich auch an den langen Ärmeln wiederfand und mit einem Muster aus Halbmonden bestickt war. Abigail folgte ihrem Blick und schnalzte leicht mit der Zunge. „Sie haben Geschmack, Mylady. Das ist wirklich ein schönes Kleid, wie eine klare Nacht voller Sterne.“ Kira nickte. „Glauben Sie, es steht mir?“ Abigail lächelte und nickte der Frau mittleren Alters zu, die gerade die Treppe von oben herab in den Laden kam. „Das werden wir sehen. Guten Tag, Frau Peek! Wir suchen eine neue Gaderobe für diese Lady. Können wir mit dem Kleid hier beginnen?“ Frau Peek, offenbar die Ladenbesitzerin, starrte Kira kurz an, nickte dann eifrig und begann sofort, die Schnüre des Kleides zu lösen. „Wir haben dort hinten einen Bereich zum Umziehen, da können Sie den Mantel ablegen und die Kleidung wechseln. Brauchen Sie noch eine Gehilfin zum Umziehen?“ Kira schüttelte den Kopf. Einige der Kleider im Laden waren in der Taille aufwendig geschnürt, aber mit Abigails Hilfe würde sie sie sicher anziehen können. Immerhin müsste sie diese später ja auch alleine anziehen können, dachte sie, und fragte sich, ob sich adelige Mädchen denn je sebst anziehen. Sie ging zum Umkleidebereich und zog Mantel, Schuhe und ihr schlichtes grünes Kleid aus. Als sie ihre Haare aus dem Ausschnitt schob, dachte sie kurz an den Blick der Verkäuferin. Sie hatte auf ihre Haare geschaut. Alle schauten immer erst auf ihre Haare. Vielleicht sollte sie sie mal wieder färben, überlegte sie. Abigail brachte ihr das neue Kleid, und Kira schlüpfte hinein. Es war offenbar ein wenig zu groß und schliff unten auf dem Boden, auch an der Brust musste sie etwas festhalten, damit es nicht rutschte. Abigail trat prüfend einige Schritte zurück und nickte wohlwollend. „Ja, das steht Mylady. Ich muss es nur ein wenig anpassen. Schauen Sie hier!“ Sie zog den Vorhang des Umkleidebereiches ein wenig zur Seite und zeigte auf einen bodentiefen Spiegel, der dort an der Wand stand. Kira machte vorsichtig einige Schritte darauf zu und bewunderte dann im Spiegel, wie die Sterne des Stoffes bei jeder Bewegung leicht über den Stoff dahinter glitten. „Es ist wunderschön!“, hauchte sie. „Na, dann nehmen wir es. Eine schöne Kette dazu und ein passender Hut, dann kann man damit sogar abends Gäste empfangen, auch wenn der Schnitt nicht ganz dem neusten Stil entspricht. Ziehen Sie es aber wieder aus, ich schaue mal nach einigen mit ähnlichem Schnitt, die etwas kleiner sind. Die neumodischen Sachen sind eher unbequem, habe ich gehört.“ Kira tat, wie geheißen, und Abigail brachte nach einem kurzen Austausch mit der Ladenbesitzerin weitere Kleider, die sie nach und nach anprobierte. Sie fanden ein burgunderfarbenes, dass eine ähnliche goldene Bordüre hatte und bereits die richtige Länge und Größe besaß, außerdem zwei grünliche, die eng am Oberkörper geschnürt werden konnten, aber kein Korsett hatten, so dass sie die Bewegungen nicht stark einengten. Die Röcke dazu waren dafür umso weiter, sie bauschten sich geradezu auf, besonders hinten. „Das betont die wundervolle weibliche Figur!“, warb die Verkäuferin. „Ist diesen Sommer erst in Mode gekommen, und wir haben es hier der Bequemlichkeit wegen ohne die Stahlringe umgesetzt, dann kann man auch noch einen Kunden gut bedienen.“ Sie zwinkerte und drehte sich elegant, um ihren eigenen Rock zu zeigen, der ähnlich geschnitten war, allerdings aus einem etwas schlichteren Stoff bestand. Abigail rümpfte ein wenig die Nase. „Mylady kann sicher einige bequeme Sachen gebrauchen, aber sie wird keine Kunden bedienen. Ihr solltet da besser nichts verwechseln.“ Die Verkäuferin zuckte leicht zusammen und schaute kurz zu Kira, die ob der harschen Worte von Agigail rot anlief, aber in Erinnerung an die Standpauke von Mitras schwieg. „Verzeihung, Mylady. Das war natürlich nicht so gemeint.“, entschuldigte sich die Handwerkerin. Kira nickte ihr zu und hoffte innerlich, dabei einigermaßen vornehm auszusehen. Bei einem der beiden grünen Kleider war die Brust mit Rüschen verziert, die andere hatte – sehr elegant, wie Abigail feststellte – eine doppelte Reihe von Knöpfen aus dem Horn von Zirgas, die im Gebirge Sitair westlich von Uldum lebten und als besonders selten galten. Die Verkäuferin betonte außerdem, seit dem Eingriff von Abigail noch deutlich förmlicher, dass die Farbe des Kleides hervorragend mit Kiras Haaren harmoniere, die Farben brächten dieses „seltene, überausschöne Rot“ gut zur Geltung. Kira fragte sich, ob sie das ernst meinte, oder sich über sie lustig machte, doch nichts in ihrer Stimme ließ vermuten, dass sie die Haare nicht tatsächlich schön fände, was Kira verwunderte. Frau Peek empfahl, im Nachbargeschäft Clopenbarg vorbeizusehen, man hätte sich den Stoff damals geteilt und es gäbe deswegen dort passende Fächer und Hüte. Abigail nickte dazu. „Ja, das hatten wir vor. Wir nehmen alle vier.“, entschied sie, nachdem sie scheinbar Kira mit einem Blick um ihre Meinung gefragt hatte. In Wirklichkeit hatte Kira nicht das Gefühl, hier viel zu entscheiden, und sie wusste nicht, wie sie sich zwischen Freude, Unglauben und Scham ob ihres unverschämten Glückes entscheiden sollte. Die Kleider waren wunderschön, fand sie. Die beiden grünen betonten sogar ihre Brust ganz hervorragend. Kira drehte sich mit dem geknöpften Kleid – eigentlich war es ein Dreiteiler aus Rock, Bluse und Jacket – etliche Male vor dem Spiegel und bewunderte den feinen Stoff zwischen ihren Händen und die vorteilhafte Form, in die es Taille und Brust brachte. Sie sah wirklich wie eine junge Dame darin aus. Und auf keinen Fall wie jemand aus der hinterletzten Provinz. Eine elegante Dame. Der taillenbetonten Schnitt, erklärte ihr Abigail später, war erst vor wenigen Jahren wieder aufgekommen, zuvor trug man auch in Uldum nur die unter Brust geschnürten und gerade nach unten fallenden Kleider wie das Sternenkleid, die das Augenmerk mehr nach oben auf die im Sommer sogar manchmal freiliegenden Schultern lenkten und die auch in Lührenburg und Bispar zu festlichen Anlässen verbreitet waren. Während Kira sich noch selbst bewunderte, hatte Abigail längst die Modalitäten von Zahlung und Lieferung geklärt und die Handwerkerin verabschiedete sich mit einer deutlich tieferen Verbeugung als bei der Begrüßung von Kira. Das geknöpfte Kleid, so Abigails Entscheidung, behielt Kira gleich an. Tatsächlich war das eine sehr schlaue Entscheidung, denn bei Clopenbargs, die wirklich nur zwei Häuser weiter ihren Verkaufsladen hatten, fanden sie wie angekündigt dazu passende Handschuhe, zwei Fächer, einen Muff und jeweils einen Hut mit passenden Bändern, wobei einer der Hüte und der Muff innen mit zartem, weichen, weißen Fuchsfell gefüttert war, was Kira sehr bedauern ließ, dass sie das dazu passende Kleid mit den Sternen nicht jetzt gleich tragen konnte. In einem kurzen Moment, als der Verkäufer gerade ins Hinterzimmer ging, fragte Kira Abigail zweifelnd, ob denn vier Hüte nicht zu viel seien, doch Abigail wischte ihre Bedenken mit einem geflüsterten „Kindchen, genieß doch einfach! Wir waren ja noch nicht mal beim richtigen Stoffladen.“ beiseite, und setzte ihr dann einen der Hüte auf, der mit goldenen und grünen Bändern unter dem Kinn geknotet wurde.
Dort gingen sie allerdings danach hin. Abigail führte sie durch einige Gassen zu einer uralten Mauer, die sich quer durch die Stadt zog und sogar die etwas höheren Häuser überragte. Die Häuser wichen hier zurück und gaben den Blick frei auf einen hübschen Platz mit einer kleinen Parkwiese zur Rechten und einem aufwendig verzierten Torbogen. „Das ist die alte Stadtmauer. Es gibt drei Tore nach Norden hin. Westlich liegt das Westtor. Dies hier ist das Nordtor, das andere heißt Bibliothekstor, weil die große Bibliothek von Uldum direkt daneben liegt.“, erklärte Abigail. „Eine Bibliothek? Kann dort jeder hinein?“ Abigail schüttelte den Kopf. „Nein, man muss einen Ausweis beantragen. Aber wenn du möchtest, können wir später dorthin gehen und ich bürge für dich. Ich habe ein Siegel von Magister Mitras immer bei mir, das hilft, sich Ärger vom Hals zu halten und wird dir auch leicht eine Berechtigung für einen Ausweis gewähren.“ Sie sprach leise, so dass die familiäre Ansprache nicht auffiel. Kira bewunderte, wie schnell Abigail zwischen der resoluten, aber absolut auf ständische Korrektheit bedachten Bediensteten und der warmherzigen Freundin und Mutter wechseln konnte. Sie folgte ihr die Straße entlang. Die Häuser dieses Teils der Stadt sahen anders aus, auch wenn sie immer noch zu Blöcken zusammengeschlossen waren: Die meisten hatten nun vier Geschosse, die Fassaden waren weniger aufwendig verziert und an einigen Stellen sah man den Gebäuden ihr Alter deutlicher an. Plötzlich öffnete sich die Straße und sie betraten einen großen, rechteckigen Platz, auf dem nun zur Mittagszeit ein reges Treiben herrschte. An einigen Ständen in der Mitte des Platzes konnte man kleine Leckereien und Getränke kaufen, und die Händler hatten Tische und Stühle zu kleinen Sitzgruppen unter großen Schirmen arrangiert. Kutschen standen an verschiedenen Ständen bereit. Kira spürte, dass sie eigentlich schon wieder Hunger hatte, doch Abigail zog sie in einen Kontor an der Kante des Platzes. Anders als in den Läden, in denen sie zuvor waren, handelte es sich hier mehr um eine große Lagerhalle, in der Ballen um Ballen Stoffe, Teppiche und Felle aufgetürmt lagen. Als der dicke Mann, der gerade an einem Tresen im Hintergrund etwas schrieb, die beiden bemerkte, ging ein Strahlen über sein Gesicht. Er wieselte eifrig auf sie zu, mit ausgebreiteten Armen, und rief: „Abigail! Mein Mädchen! Endlich kommst du mal wieder!“ Abigail lachte ihn freundlich an, wehrte aber die angedeutete Umarmung ebenso elegant wie bestimmt ab. „Matthes, natürlich komme ich wieder, was hast du erwartet?“ Sie trat einen Schritt zur Seite, so dass er Kira sehen konnte. „Darf ich dir meine neue Lady, Kira Silva, Discipula von Magister Mitras, vorstellen?“ „Madame, eine Ehre, eine Ehre!“ Der Mann verbeugte sich tiefer und mit mehr Gelenkigkeit, als Kira ihm bei seiner Leibesfülle zugetraut hätte, blinzelte ihr dabei aber auch zutraulich zu. Kira musste unweigerlich lachen, so witzig sah er dabei aus, und so ließ sie es auch zu, dass er ihre Hand ergriff und einen angedeuteten Kuss darauf hauchte. „Wie kann ich euch dienen, Mylady?“, sagte er, eindeutig zu höflich und ihren Stand durch das Pronomen erhöhend. „Ich werde endlich mal wieder nähen können. Wir brauchen also Stoffe – für zwei Abendkleider, einen Mantel, eine Jacke und, naja, vielleicht noch ein oder zwei Alltagskleider. Und natürlich Stoffe für zwei Magierroben, und Silberfaden, wenn du hast.“, sagte Abigail an Kiras Stelle. Kira blickte sie erstaunt an. Bei allen Geistern. Sie rechnete kurz nach. Acht neue Kleider? Plus Mantel und Jacke? Plus Magierroben? Und dann auch noch Accessoires? Das war fast genauso viel, wie die Tochter des Bürgermeisters von Lohwingen, die wirklich viel für Kleider ausgab, als Mitgift in die Ehe mitgebracht hatte! Kira spürte, dass ihre Wangen schon wieder rot wurden. Sie hatte in den letzten zwei Jahren insgesamt zwei neue Kleider bekommen, und dass auch nur, weil Adrian ihrer Mutter eine Weile in den Ohren gelegen hatte, dass seine Lieblingsschwester unmöglich in immer ein und denselbem Kleid zu den Prüfungen in Lührenburg reisen konnte. Kira schmunzelte bei der Erinnerung. Adrian kannte ihre Mutter nur zu gut, was die anderen dachten, war ihr wichtig. Er hatte gewusst, dass sie dieses eine Winterkleid gerne gehabt hätte, also hatte er ihre Mutter zum richtigen Zeitpunkt mit dem Hinweis auf Lührenburg gnädig gestimmt, damit Kira sich genau dieses Kleid aussuchen konnte, obwohl es 25 Silber gekostet hatte. Ein warmes Gefühl von Liebe für ihren älteren Bruder durchflutete Kira. Sobald es ihr möglich war, würde sie ihm einen Brief schreiben, beschloss sie, und am besten auch etwas aus der Hauptstadt beilegen, vielleicht eine von den edlen Fliegen, die sie eben bei Clopenbargs gesehen hatte. Sie hatte allerdings auch das Preisschild gesehen, also würde der Brief wohl noch eine Weile warten müssen, denn 10 Silber waren mehr, als sie in einem Monat als Lehrgeld bekam. Vermutlich war es mehr, als ihr Bruder in einer Woche verdiente. Und sie hatte gedacht, die sieben Silber seien viel! Aber nächsten Monat würde sie genug haben, denn eigentlich musste sie sich ja nichts kaufen, sie bekam ja alles, und bis dahin würde sie auch einiges berichten können. Und wissen, ob es wirklich nicht alles nur ein Traum war. Abigail war, während Kira in Erinnerungen versunken war, schon mit Matthes weiter im Kontor verschwunden und diskutierte nun mit ihm über einer Zeitschrift, in der er ihr wohl einige Modelle von Kleidern zeigte, wie viel von einem violetten, samtigen Stoff, vor dem sie gerade standen, man wohl für die Ärmel brauchen konnte. Kira schlenderte zu ihnen herüber und schaute neugierig auf das Heft. „Ah, Mylady, setzt euch doch dort drüben hin und schaut in die Magazine. Wenn euch etwas gefällt, wird unsere beste Abby es Ihnen bestimmt anfertigen können. Vielleicht findet ihr ja sogar etwas, dass zu eurer prächtigen Haarfarbe passt.“ Mit diesem Worten deutete der Händler auf eine kleine Sitzecke im hinteren Teil des Raumes. „Wirklich, Abby, wenn du noch schneidern würdest, müsstest du sie als Model nehmen. So eine seltene Farbe!“ Kira wurde etwas rot ob des nun zweiten Lobes für ihre von ihr so ungeliebte Haarfarbe und schaute zu Abigail, die Matthes spielerisch in die Seite knuffte, als er Kira als Model anpries, nun aber sie anschaute und  zustimmend nickte. Also ging Kira zur Sitzecke. Hinter ihr pfiff Matthes laut, woraufhin ein etwa 11jähriger Junge in der hinteren Tür auftauchte. „Mat, bring der Dame etwas Tee und Gebäck.“ Der Junge nickte, wendete sich um und kehrte nach eine Weile mit einem Tablett, auf dem eine dampfende Tasse und verschiedene Kekse lagen, zur Sitzecke zurück. Er reichte es ihr mit einer gelenkigen und merkbar geübten Verbeugung, ehe er sich wieder zurückzog. Dankbar nippte Kira am Tee und blätterte in den Magazinen, die auf dem Tischen lagen. Es handelte sich offenbar um Modezeitschriften, in denen verschiedene Modelle von Kleidern beworben wurde. Eines hatte sogar Fotos von echten Modellen statt Zeichnungen. Kira betrachtete die Fotos interessiert. Sie hatte gehört, dass man für diese Bildaufnahme lange still sitzen oder stehen musste. Tatsächlich wirkten die Frauen auch etwas steif auf den Bildern, aber das konnte auch an den aufwendigen, mehrlagigen Ballkleidern mit ausladenen Röcken liegen, die sie trugen. Bei einigen waren auch die Krägen so steif aufgerichtet, bis hin zu großen Bögen im Nacken, dass Kira überlegte, ob sie nicht vielleicht immer so steif stehen bleiben mussten, wie die Bilder es zeigten. Sie sahen auch steif auf den gezeichneten Bildern aus. Ob die Bilder magisch gezeichnet waren? Kira hatte gehört, dass es Magier gab, die Farben auf einem Blatt magisch verändern konnten, so dass sich genau das Bild ergab, dass sie im Kopf hatten. Die Fotografie war wohl ein Versuch, diese teure magische Malerei nachzuahmen. Es gab auch wirklich schöne Kleider. Eine ganze Weile bewunderte sie ein Modell auf einer der Farbzeichnungen mit schwarzem und rotem Stoff, bei dem die Raffungen durch kunstvolle Rosen aus Stoff gehalten wurden. Das Oberteil lag wie das, das sie gerade trug, eng an, ließ aber Schultern und Dekolleté frei. Die Frau auf der Zeichnung hatte auf jeden Fall dadurch eine sehr schmale, deutlich betonte Taille, was Kira gefiel. Es sah edel aus, fand sie. Sie trug auch eine passende Kette und Ohrringe, die wie winzige Rosen aussahen, und das Rosenmotiv fand sich auch auf dem Stoff der Ärmel und, wenn sie das Bild richtig deutete, auf einigen Bahnen des Oberteils wieder. Abigail, die ihre Diskussionen über das erste Kleid wohl abgeschlossen hatte, schaute über Kiras Schulter und räusperte sich. „Gefällt Ihnen das, Mylady?“ „Ja, ich mag Blumen.“, antwortete Kira. „Und diese schmale Taille ist vermutlich ziemlich unbequem, aber sieht wirklich gut aus, oder?“ Abigail dachte einen Moment nach. „Ja, das könnte man mit einem Korsett machen. Ihr Körperbau passt auch dazu, Sie haben genug Hüften und schon von Natur aus eine schmale Taille und schöne Brüste, da wird man sogar ohne viel Hinterstopfen eine gute Silouette formen können.“ Sie rieb sich begeistert die Hände. „Da hinten gab es einen Stoff, der dazu passen könnte. Wartet hier, ihr werdet das Ergebnis mögen.“ Kira nickte. Sie würde alles mögen. Sie liebte es jetzt schon. Und sie würde es mit Stolz tragen, wie eine richtige Prinzessin. Oder eine richtige Magierin, schoß es ihr durch den Kopf. Sie würde auf Bälle gehen können, mit so einem Kleid. Oha. Sie würde die ganzen Regeln für so etwas lernen müssen, wurde ihr bewusst. Wenn schon Einkaufen sie überforderte, dann würde es ein Besuch in den höheren Kreisen der Gesellschaft erst recht. Sie aß die Kekse auf und beobachtete, wie Abigail und Matthes nach und nach durch den Raum wanderten und Matthes dabei Abigails Bestellungen aufnahm. Eigentlich war es ziemlich gemütlich hier, und das Murmeln von Matthes, Abigail und einigen anderen Kunden und einer weiteren  Händlerin, die diese bediente, war eine angenehme Kulisse. Kira spürte, wie die Anspannung des Morgens von ihr abfiel, und sie fast ein wenig dösig wurde, während die Zeit verstrich. Diese Bibliothek, die Abigail erwähnt hatte, interessierte sie. Vermutlich würde es dort ein Buch über die Regeln in Adelshäusern und zum Umgang mit Magiern geben. Nochmal eine Standpauke von Mitras wollte sie auf keinen Fall riskieren. Schon gar nicht, nachdem er ihr gerade so großzügig neue Kleider und anderes bezahlte. Sie legte den Kopf nach hinten in den Sessel und schloss die Augen, ohne jedoch ganz einzuschlafen.

Etliche Zeit später kehrte Abigail munter schwatzend mit Matthes zu ihr zurück. Sie unterhielten sich über die Prüfungen zur Akademie der Elementarmagier, die wohl vor kurzem gewesen war und über die es einen langen Bericht in der Zeitung gegeben hatte, wie Kira aus dem Gespräch vermutete. Anscheinend war ein junges Mädchen dadurch aufgefallen, dass ihr Gesicht trotz offenbar versuchten Heilzaubern von hässlichen Brandnarben gezeichnet war, sie aber dann einen besonders guten Eiszauber gezeigt hatte. „Na, verbrennen tun die sich doch alle mal!“, sagte Matthes leicht abfällig. „Die Magier, die sind ein besonderes Volk. Die schützen uns, ja, und ist ja auch praktisch, aber in der Nähe sein will man bei so einem Elementarzauber ja nun nicht.“ Er senkte die Stimme und blickte kurz zu Kira hin, als wolle er nicht, dass sie ihn verstände: „Und bei anderen auch nicht unbedingt. Wie hälst du das nur immer aus, Abby?“ Kira schaute beschämt zu Boden. Gespräche auch aus einiger Entfernung verstehen zu können, war eine durchaus praktische Sache, aber manchmal wünschte sie sich wirklich, sie würde nicht jedes Mal hinschauen. Magier waren notwendig. Und böse. Die Unsicherheit und Angst, mit der der Händler sie kurz gemustert hatte, kannte Kira. So schauten die Dorfbewohner von Bispar auch den Magier an, der in Lührenburg den Bezirksrat beriet. Und noch viel mehr hatten sie sie so angeschaut, als sie nach dem Unfall mit dem Magier das Dorf verlassen hatte. Abigail zischte etwas, was Kira nicht verstand, da sie nicht hinschaute, und trat dann auf sie zu. „Mylady, wir sind hier fertig. Wünscht ihr noch etwas von der Stadt zu sehen?“, fragte sie freundlich und beugte sich dabei zu ihr. Kira nahm sich innerlich zusammen. Mit der Furcht würde sie sich wohl anfreunden müssen. Es gab auch Menschen wie Abigail, William oder Tobey, rief sie sich in Erinnerung. Sie blickte zu Abigail hinauf: „Die Bibliothek?“ „Achja!“ Abigail schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. „Ja, natürlich. Da führe ich d… Sie gleich hin. Kommen Sie!“ Sie hielt ihr die Hand hin, und Kira ergriff sie, um aufzustehen, und hakte sich dann beim angebotenen Arm unter, was aufgrund der Tatsache, dass die Haushälterin etwas kleiner und deutlich rundlicher als Kira war, ein wenig seltsam aussehen mochte. Kira jedoch spürte, dass die weiche Wärme, die Abigail ausstrahlte, und die warme Hand, die sie ihr auch auf den Arm legte, ihr Unwohlsein vertrieben. Sie überlegte, was sie wohl einer Haushälterin schenken oder geben dürfte, um ihre Dankbarkeit zu zeigen.

Draußen auf dem Platz schien die Sonne schon zwischen den Häuserdächern hervor und tauchte die verschneiten Dächer in glitzeriges, goldenes Licht. Die Gaslaternen waren noch aus, aber das tiefe Sonnenlicht brach sich in den Kristallgläsern und brachte auch sie zum Funkeln. Kira staunte, dass die Stadt, die ihr zuvor so eng und dreckig vorgekommen war, so hübsch aussehen konnte. Abigail führte sie über den Platz. „Das ist sie schon, die berühmte Bibliothek!“ Sie deutete auf ein Gebäude, dass eindeutig aus der Rasenna-Zeit stammte, mit wuchtigen Marmorsäulen vor einer fensterlosen Wand, die die umliegenden Gebäude um mindestens ein Stockwerk überragte. „Der Eingang führt auf die Hauptstraße, der Platz hier ist wohl erst später endstanden.“ Sie gingen um die Ecke des Gebäudes in eine breitere Straße, die vom Platz wegführte. Der Eingang der Bibliothek war ebenfalls von Säulen eingefasst, mit einer auffälligen Treppe. An den Wänden sah Kira Reliefs, die offenbar Eroberungen und Kriegszüge des Reiches darstellten. Angesichts der Detailtiefe waren sie vermutlich magisch graviert worden. Abigail führte sie durch das breite Eingangstor und wandte sich dann gleich nach rechts, wo eine Angestellte an einem kleinen Tresen saß. Kira brauchte einen Moment, ihre Augen an das Dunkel zu gewöhnen, doch dann sah sie, dass der kleine Eingangsbereich sich durch einen Gang nach hinten hin zu einem scheinbar riesigen Büchersaal öffnete. Abigail trat an den Tresen heran und grüßte die Frau mit einem höflichen Knicks. „Wir würden gern ein neues Bibliothekskonto für meine Herrin eröffnen lassen.“ Die Bibliothekarin musterte Kira und grüßte sie dann mit einem knappen Nicken. „Das ist möglich. Name?“ „Kira Silva.“, sagte Kira. Die Frau schrieb den Namen in ein Buch. „Wer bürgt für Sie?“ „Magister Mitras di Venaris.“, sagte Abigail und holte dabei aus ihrem Geldbeutel ein kleines Siegel, dass sie vor die Bibliothekarin legte. Die Frau zog kurz die Augenbrauen hoch und schaute nocheinmal genau auf Kira, ehe sie Mitras Namen in eine zweite Spalte eintrug. Sie nahm ein Plättchen aus Holz und schrieb dort ebenfalls Kiras Namen auf. Dann winkte sie Kira mit einer Handbewegung zu sich. „Würden Sie hier bitte unterschreiben?“ Kira nahm die Feder und unterschrieb auf dem Kärtchen im vorgesehenen Feld. „Die Bibliothek ist jeden Tag von 8 bis 22 Uhr geöffnet. Sie können jederzeit zum Lesen kommen. Möchten Sie ein Buch ausleihen, bringen Sie es hier nach vorne, dann wird es auf Ihren Namen eingetragen. Bücher mit einem roten Stern am Einband dürfen nicht ausgeliehen werden. Nach vier Wochen müssen Sie jedes Buch zurück bringen, ansonsten wird Ihnen ein Silber pro Buch und Woche als Strafe berechnet, bis Sie den Kaufpreis des Buches abbezahlt haben.“, rasselte die Frau die Regeln herunter. Kira nickte. „Sie finden dort vorne eine Übersicht, welche Bücher wo stehen. Bitte stellen Sie ein Buch immer an den vorgesehenen Platz zurück. Sie dürfen in der Bibliothek nicht zaubern, nicht rauchen, nicht essen, nicht trinken. Wenn Sie ein Buch wieder abgeben wollen, geben Sie es uns hier am Tresen ab, wir räumen es dann nach einer Zustandsprüfung weg. Sollten Sie ein Buch beschädigen, müssen Sie dafür vollständig aufkommen. Wenn Sie ein bestimmtes Buch suchen, fragen Sie die Fachkräfte, die sich überall in der Bibliothek aufhalten. Sie erkennen sie an unserer Uniform.“ Kira nickte und linste ungeduldig in Richtung der Übersichtstafel. Die Frau blickte sie über die Ränder ihrer Brille streng an, doch dann stahl sich ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. „Viel Spaß!“, endete sie ihre Rede. „Danke sehr!“ Kira strahlte sie an, nahm das ihr hingereichte Plättchen und ging so rasch, dass es gerade eben noch elegant aussah, zu der Tafel. Abigail winkte ihr zu und rief: „Mylady, wenn Sie erlauben, gehe ich kurz noch auf den Marktplatz. Ich hole Sie gleich wieder hier ab.“ Kira winkte ihr zustimmend zu, schon halb zur Tafel gewandt. Magie für Magische und Nichtmagische – hinten links. Sachbücher Wissenschaft – davor. Sachbücher Kultur – in der Mitte. Der rechte Bereich war in verschiedene literarische Genres aufgeteilt, doch das interessierte Kira gerade nicht so sehr. Sie trat durch den kurzen Gang in die Halle hinein und sah, dass es links und rechts auch noch Treppenaufgänge gab, die allerdings abgesperrt waren. Vermutlich gab es oben Lesesäle und weitere, spezielle Abteilungen, in die man nur mit Einladung gehen konnte. An den Regalen vor ihr waren Schilder anbegracht, die verrieten, dass die Sachbücher zum Thema Kultur in verschiedene Themengebiete aufgeteilt waren, wie Theater, Musik, Literaturtheorie, Philospophie, Lebenskunst, Ehe und Haushalt, und – das war wohl der Bereich, den sie gerade suchte – Etikette. Sie schmunzelte ein wenig über ihre eigene Naivität, gedacht zu haben, es gäbe EIN Buch zu diesem Thema. Tatsächlich gab es wohl einen ganzen Bereich! Sie betrachtete das entsprechende Regal ein wenig hilflos. Welches der Bücher eigenete sich wohl als Einstieg? „Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte eine sanfte, männliche Stimme plötzlich leise neben ihr. Kira schrak zusammen. Neben ihr stand ein junger Mann, vermutlich nur wenig älter als sie. Er trug die blau-weiße Uniform der Bibliothek, hatte braune Augen, seine schulterlangen, blonden Haare waren zu einem Zopf zusammengefasst und er trug einen kurzen, sorgfältig gepflegten Bart, der sein hübsches Gesicht angenehm umrahmte. „Äh, ja. Tatsächlich… also… ich suche ein Einstiegswerk über die Regeln der Etikette im Adelsstand und … äh… bei Magiern. Also, was man so beachten und wissen muss…“ Der junge Mann schaute sie neugierig, aber eindeutig freundlich an. „Sie sehen zwar nicht so jung aus,  sind aber eine neue Discipula und bisher nicht adelig?“ Kira nickte und spürte, dass sie schon wieder rot wurde. Innerlich verfluchte sie, dass ihre Gesichtsfarbe ihren Gemütszustand immer so einfach verriet. „Ja, ich bin vielleicht schon etwas alt, aber…“ „Ah, keine Sorge,“, unterbrach er sie, „da gibt es ein ganz hervorragendes Buch seit einigen Jahren, der Autor ist Niggel. Antonius Niggel. Warten Sie…“ Er trat ein wenig auf sie zu, und sie wich zurück, so dass er das Regal absuchen konnte und nach kurzem Suchen ein Buch in einem grünen Einband aus einer Reihe gleich aussehender Bücher zog. „Wir haben davon mehrere Exemplare angeschafft, Sie können es vorne gleich als Langzeitausleihe eintragen lassen und es dann bis zu ihrer Eingangsprüfung behalten.“ Kira lächelte ihn ein wenig scheu an. „Ist das so gefragt?“ „Nein, naja, also, es gibt jedes Jahr vielleicht eine Handvoll Schülerinnen oder Schüler wie Sie. Machen Sie sich keine Sorgen, die Regeln wirken komplex, aber wenn man erstmal drin ist, schwimmt es sich auch in adligen Gewässern wie in normalem Wasser.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich bin in einer Familie mit lauter Magiern aufgewachsen, und glauben Sie mir, die kochen auch nur mit Wasser.“ Kira kicherte. „Ich bin Kira Silva.“, stellte sie sich vor. „Danke für die netten Worte, ich fühle mich schon gleich etwas besser.“ Der junge Mann lächelte sie breit an. „Sebastian di Ferrus, sehr angenehm. Ich freue mich, einer so schönen Dame behilflich sein zu dürfen.“ Kira spürte, wie sich die Röte wieder in ihrem Gesicht ausbreitete. „Danke.“ Sie schaute verlegen den Gang hinab. „Sagen Sie Bescheid, wenn Sie noch etwas suchen. Ich bin immer uldums- bis schengtags ab Mittags hier.“ Mit einer kleinen Verbeugung verabschiedete er sich und verschwand zwischen den Regalen. Kira sah ihm einen Moment lang nach. Seine fröhliche, offene Art erinnerte sie an Adrian, und sie überlegte sich, ob sie nicht vielleicht wirklich an einem der drei genannten Tage ihre Studien an einen der Tische, die an der hinteren Seite des Saales standen, verlegen sollte, um ab und zu ein Wort mit ihm wechseln zu können. Ob er magisch begabt war? Aber dann würde er nicht als Bibliothekar arbeiten, oder? Nachdenklich betrachtete Kira das Buch in ihren Händen und ging dann nach vorne, um es sich eintragen zu lassen. Die Bibliothekarin, die ihr den Ausweis gegeben hatte, trug es in ein großes Buch ein und erklärte ihr, dass diese Art von Büchern tatsächlich als Langzeitausleihe möglich seien. Sie müsse nur ein Datum nennen, zu der sie es zurückbringen würde. Kira überlegte. Einmal im Jahr wurden die Akademieanwärter geprüft. Wann würde wohl ihre Prüfung sein? „Wissen Sie, wann die Prüfung der Akademie für Verwandlungsmagie nächstes Jahr sein wird?“ Die Bibliothekarin überlegte. „Hmm, dieses Jahr war es am 5. Laetar, nächstes Jahr wird es auch irgendwann dann sein, aber genau weiß ich es nicht.“ Kira nickte. „Dann bringe ich es zum 30. Samhain zurück.“ Die Frau schrieb das Datum in ihr Buch und auf einen kleinen Zettel, den sie in das Buch legte, ehe sie es Kira zurückgab. „Ja, das passt. Viel Erfolg beim Lernen!“ „Danke!“ Kira wandte sich um und sah Abigail, die gerade durch die Tür wieder herein trat. Gemeinsam gingen sie durch das zweite Tor in die Altstadt und dann zur Kutsche zurück, während um sie herum langsam die Dämmerung einsetzte und die Gaslaternen anfingen zu leuchten. Kira merkte, dass sie müde war, obwohl sie ja eigentlich die meiste Zeit kaum etwas getan hatte, außer sich An- und Auszuziehen und Herumzusitzen. Bei der Kutsche angekommen, mussten sie zunächst einige Pakete und Tüten anrangieren, die von Peeks und Clopenbargs wohl dorthin geliefert worden waren. Kira linste in eine der Tüten und freute sich, als sie den Sternenstoff des Winterkleides entdeckte. Sie setze sich vorsichtig hin und lehnte den Kopf erschöpft an die Wand. „Vorsichtig, Mylady, der Hut!“, mahnte Abigail, die ebenfalls gerade einstieg. „Oh, achja.“ Kira öffnete die Hutbänder. „Kann ich ihn hier drinnen absetzen?“ „Hier in der Kutsche ja, es ist ja schon bald dunkel draußen, da wird kaum jemand schauen. Aber ansonsten schickt es sich nicht, ohne Hut oder zumindest ein kleines Hütchen herauszugehen, wenn man eine Dame von Stand ist. Und das sind Sie ja nun.“ Kira nahm den Hut ab und schaute etwas verlegen zu Boden. „Noch nicht, eigentlich doch erst, wenn ich die Magisterprüfung bestehe, oder?“ „Naa, offiziell schon.“, beantwortete Abigail die Frage. „Aber auch sonst gehören Sie ja ab sofort zum Stand der Magier. Selbst wenn Sie Assistentin bleiben, nachdem Sie die Akademie beendet haben, sind Sie damit einem Adligen gleichgestellt. Also gewöhnen Sie sich daran.“ Sie grinste Kira freundlich an. „Man kann ja eh nichts daran ändern, als was man geboren wird, nicht?“ Kira nickte. Erschöpfung bereitete sich bleiern in ihr aus, und sie legte den Kopf wieder an die Wand und schloß die Augen, während die Kutsche sich ruckelnd in Bewegung setzte.

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